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"Das Halsband der Tauben"
Im Sog der Geschichten

In ihrem opulenten Roman "Das Halsband der Tauben" zeichnet die saudiarabische Schriftstellerin Raja Alem ein Bild von Mekka, das gleichzeitig verwirrend wie verstörend wirkt. Und das kommt bei den Lesern an - nicht nur den arabischen.

Von Larissa Bender | 19.09.2014
    In einer Gasse in Mekka wird eine Leiche gefunden. Inspektor Nassir, der den Fall aufklären soll, fühlt sich provoziert. Obwohl er immer tiefer in ein Sammelsurium von bizarren Gestalten und Geschichten eindringt, kommt er der Lösung des Falls nicht näher, denn die Bewohner der Gasse scheinen mehr zu wissen, als sie sagen.
    Mit "Das Halsband der Tauben" hat die saudiarabische Schriftstellerin Raja Alem einen saudischen Kriminalroman geschrieben, der mit seinen weitverzweigten Geschichten weit über das Genre Krimi hinausgeht.
    In diesem Roman geschehen merkwürdige Dinge: Der Leser wird von einer Gasse angesprochen, die das Medikament Tryptizol gegen Depression und Bettnässen nimmt. Sie hält den ermittelnden Inspektor Nassir zum Narren, und da verwundert es auch nicht, dass sich dieser Inspektor in eine Frau verliebt, die möglicherweise nicht mehr am Leben ist und die er nur durch ihre E-Mails an einen deutschen Arzt kennenlernt. Salich, von allen nur "Bock der Moscheediener" genannt, geilt sich angesichts der Unerreichbarkeit von Frauen an Schaufensterpuppen auf, die ihn schließlich auszehren und leer zurücklassen. Ein Latrinenreiniger beurteilt die Menschen nach ihren Exkrementen und beschwert sich über den Gestank, den der Genuss von Fast Food verursacht. Und Inspektor Nassir - nein, Schluss, zu viel soll hier nicht verraten werden, wenngleich es sowieso schier unmöglich scheint, die Handlung des Romans "Das Halsband der Tauben" schlüssig wiederzugeben. Denn nicht nur Inspektor Nassir wird von der Gasse an der Nase herumgeführt, auch deren Bewohner und mit ihnen die Leser überhäuft die Gasse mit einer verwirrenden und mitunter verstörenden Fülle von Geschichten, Mythen, Berichten und Gerüchten, wie sie selbst eingesteht:
    "Da sich nie jemand darum gekümmert hat, mich zu erleuchten, musste ich lernen im Dunkeln zu leben und tief durch die Nase zu atmen, benommen von einer Luft, die typisch ist für vergessene Gassen: schwer von faulendem Abfall, dem Kloakenwasser der Abflussrohre und der Kakofonie der Stimmen. Wenn ich nach ein paar Minuten sanft diese Luft durch den Mund wieder ausatme, setze ich Gerüchte, Märchen und Geheimnisse frei, an denen meine Bewohner fast ersticken, die in ihrer Geschichte nach Trost wühlen, weil sie ihre finstere Wirklichkeit nicht ertragen oder das Atomzeitalter nicht verstehen können, das sie zermalmen wird."
    Inspektor kommt der Lösung des Falls nicht näher
    Deshalb ein Versuch, zumindest die Rahmenhandlung kurz zu umreißen: In besagter sprechender Vielkopfgasse wird also eines Tages die Leiche einer jungen Frau gefunden, und zwar in - wie die Gasse sich ausdrückt - "wundervoller Nacktheit". Weil das Gesicht der Frau jedoch vollkommen zerschmettert ist, lässt sich ihre Identität nicht feststellen. Vermutlich handelt es sich um die hübsche Asa, die seit einiger Zeit verschwunden ist und von vielen jungen Männern der Gasse verehrt wurde. Oder ist es vielleicht die Lehrerin Aischa, von der gleichfalls jede Spur fehlt? Nur ihre intimen E-Mails an ihren deutschen Arzt und ehemaligen Geliebten fallen dem Inspektor in die Hände, und er wird geradezu süchtig danach, sie zu lesen.
    Der Lösung seines Falls kommt Inspektor Nassir al-Kachtani jedoch trotz eines riesigen Stapels von Verhörprotokollen und eigenen Ermittlungen nicht näher. Er konzentriert sich schließlich auf vier mögliche Täter:
    Da ist Jussef, der seinen Bachelor für eine Arbeit über Mekkas Minarette erwarb, und Muadh, der Sohn des Imams, der sich mehr für die Fotografie als für den Dienst in der Moschee interessiert. Auch Chalid ist verdächtig, der ehemalige Pilot, dem die Lizenz entzogen wurde und der jetzt Passagiere in seinem gelben Taxi durch Mekka kutschiert, und schließlich der sexuell auf Schaufensterpuppen spezialisierte Salich.
    Um diese vier Verdächtigen sowie das Leben der beiden möglichen Opfer hat Raja Alem ein weitverzweigtes Handlungsgeschehen gewebt, in dem die Leser von einer Figur zur nächsten, von einer Geschichte zu einer weiteren geführt werden. Immer wieder tun sich neue Perspektiven auf, werden neue Fragen aufgeworfen, werden die Leser in neue Welten eingeführt.
    Trotzdem sind zwei Hauptthemen erkennbar, die sich wie ein roter Faden durch den Roman ziehen: zum einen die Zerstörung islamischen Erbes in Mekka und Medina. Zum anderen der Umgang mit dem weiblichen Körper in der extrem konservativen saudiarabischen Gesellschaft.
    Tatsächlich wurden in den letzten zwanzig Jahren in den beiden heiligen Städten des Islam ganze Stadtteile dem Erdboden gleichgemacht. Sogar das Geburtshaus des Propheten Muhammad sowie das Wohnhaus seiner ersten Frau Chadidscha mussten dem Bauboom weichen. Stattdessen entstanden moderne Shoppingmalls und Luxushotels. Als Begründung führen die Behörden den alljährlich ansteigenden Ansturm von Pilgern an, doch wenn es um die Zerstörung der Gräber des Propheten und seiner ersten beiden Nachfolger in Medina geht, dann ist dies auch dem rückwärtsgewandten Wahhabismus geschuldet, der jeglichen Gräberkult ablehnt. Nahezu der gesamte Baubestand des tausendjährigen islamischen Erbes in Mekka und Medina ist bereits zerstört. Muadh, dem Fotografen, der die Entwicklung anhand alter Fotografien vergleicht, geht der Verlust besonders nah:
    "Hier bleibt kein Stein auf dem anderen [...]. Mit jedem Sonnenaufgang werden hier weitere Milliarden ausgeschüttet. Die multinationalen Firmen sind ein weltweiter Staat außerhalb jeder staatlichen Gesetzgebung. Im neuesten Vertrag geht es um drei Milliarden Dollar. Die Elaf-Gruppe wird auf verschiedenen Bergen investieren. Das wird Manhattan in den Schatten stellen [...]."
    Kein Mord, sondern Selbstmord?
    Der von Raja Alem im Roman thematisierte verachtende Blick auf die Frauen und die Ablehnung weiblicher Körperlichkeit ist gleichfalls der wahhabitischen Ideologie geschuldet. Am besten drückt es vielleicht der Schaufensterpuppen liebende "Bock der Moscheediener" aus:
    "Die Mädchen in unserer Gasse haben immer in der Angst gelebt, zu Wesen aus Fleisch und Blut zu werden. Aus Furcht vor einem Skandal haben sie sich lieber dem Tod in die Arme geworfen."
    Ist also gar kein Mord in Mekka geschehen, sondern hat sich die Frau, die in der Vielkopfgasse gefunden wurde, womöglich umgebracht?
    Die vielen weiteren Themen anzusprechen, die die mit mehreren Literaturpreisen ausgezeichnete Raja Alem in ihrem fast sechshundert Seiten umfassenden modernisierungskritischen Roman aufnimmt, würde den Rahmen sprengen, so geografisch breit und historisch tief stößt sie mit ihren sich immer weiter verzweigenden Erzählungen vor. Dem Übersetzer Hartmut Fähndrich ist es trotzdem gelungen, den sehr schwierigen arabischen Text in ein wunderbar flüssiges Deutsch zu übertragen.
    Der scheinbar glücklose Ermittler Inspektor Nassir, an dessen Seite der Leser im Laufe des Romans die mekkanische Gesellschaft erkundet, kommt dabei einem Rettungsring gleich. An ihm versucht der Leser, sich immer wieder festzuhalten, um nicht in den Geschichten und Beziehungsgeflechten unterzugehen.
    Raja Alem: „Das Halsband der Tauben"
    Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Unionsverlag, 580 Seiten, 26,95 Euro.