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"Das ist die Entscheidungsschlacht"

Mit der Vertrauensabstimmung der Regierung Letta im italienischen Parlament entscheide sich auch die politische Zukunft Silvio Berlusconis, glaubt der Politikwissenschaftler Roman Maruhn. Für den Ex-Ministerpräsidenten stehe auch der Führungsanspruch in der eigenen Partei auf dem Spiel.

Roman Maruhn im Gespräch mit Silvia Engels | 02.10.2013
    Silvia Engels: Italien erlebt derzeit entscheidende Stunden. In den vergangenen Tagen hatten Beobachter der Regierung von Ministerpräsident Letta keine großen Überlebenschancen mehr gegeben. Fünf Minister seines Koalitionspartners PDL – das ist die Partei von Silvio Berlusconi – hatten auf dessen Geheiß ihren Rückzug aus dem Kabinett angekündigt. Heute stellt Letta die Vertrauensfrage in beiden Kammern des Parlaments. Seit gestern kann er hoffen, doch einige Stimmen aus dem Lager der PDL zu bekommen, denn dort regte sich am Abend Widerstand gegen Berlusconis Linie. Und heute nun hat der Cavalliere sich wiederum ein Hintertürchen offen gehalten. Am Telefon ist nun der Politikwissenschaftler und langjähriger Italien-Kenner Roman Maruhn vom Goethe-Institut in Palermo. Guten Tag, Herr Maruhn!

    Roman Maruhn: Guten Tag.

    Engels: Beginnen wir direkt mit der Frage aller Fragen: Wird die Regierung Letta im Amt bleiben?

    Maruhn: Das ist wirklich eine ganz schwierige Frage. Ich verfolge auch ein bisschen die Meldungen jetzt aktuell. Es gibt angeblich aus dem PDL 23 namentlich bekannte Senatoren, die sich nicht der Mehrheitsmeinung der Partei anschließen würden, sondern der Regierung Letta das Vertrauen aussprechen würden. Es wird auf alle Fälle sehr knapp. Aber der Hinweis darauf, dass es 23 Senatoren sind, die mit Brief und Siegel, mit Vornamen und Nachnamen sich sozusagen geoutet haben gegenüber Berlusconi, das ist schon ein ziemlich starker Hinweis, dass das eigentlich jetzt eine feste Nummer ist für die Abstimmung, auch wenn die Rest-PDL, die Senatoren entschieden haben, der Regierung Letta nicht das Vertrauen auszusprechen.

    Engels: Noch mal zur Erinnerung: 25 Stimmen aus diesem Lager der PDL würden reichen, um in dieser wichtigen Senatskammer die Vertrauensabstimmung zu gewinnen aus Sicht von Ministerpräsident Letta. Jetzt sind ja diese Meldungen auch zu hören, dass möglicherweise Silvio Berlusconi angesichts dieses Widerstands auch umsteuern könnte. Heißt: Könnte am Ende vielleicht doch die gesamte PDL sich hinter Letta stellen, um eine Spaltung zu vermeiden?

    Maruhn: Das sieht aktuell nicht so aus momentan. Es gab eine Abstimmung, eine Probeabstimmung sozusagen im Senat und mit Berlusconi in der Fraktion selber, und da hat der Rest der Partei gesagt, dass sie nicht das Vertrauen aussprechen werden, sondern das Misstrauen der Regierung aussprechen werden. Also es wird nach wie vor sehr knapp. Ich denke nicht, dass Berlusconi jetzt von dieser Entscheidung noch mal abrücken wird.

    Engels: Dann gehen wir auf die Entwicklung, die sich ja seit gestern Abend doch generell etwas überraschend dargestellt hat, nämlich dass es so viel offenen Widerspruch gegen Berlusconi gibt in der PDL, die ja bis jetzt als reine Gefolgschaftspartei des Parteigründers Berlusconi galt. Wie ist das zu erklären?

    Maruhn: Das ist tatsächlich eine Premiere. Nur in den schwierigsten Zeiten Berlusconis gab es ein bisschen Unruhe unter der Parteijugend oder in einigen Flügeln. Auch eine Flügelbildung haben wir eigentlich vorher überhaupt nicht beobachtet. Erst seit einigen Monaten spricht man von Tauben und Falken innerhalb der Partei. Und das zeigt doch ganz stark, dass es in der Partei rumort, dass der Führungsanspruch Berlusconis nicht mehr von allen geteilt wird und dass es jetzt tatsächlich zumindest zu einer erneuten Abspaltung kommen könnte. Wir hatten ja auch schon eine Abspaltung unter Gianfranco Fini. Das sind einfach Zeichen, dass Berlusconi zurzeit eine Phase der Schwäche hat, auch aufgrund seiner rechtskräftigen Verurteilung, und dass einige in der Partei sehen, dass es falsch ist, das Schicksal der Partei, auch das Schicksal Italiens nur noch mit Berlusconis persönlichem Schicksal zu verbinden, und man sieht dann natürlich auch einen Machtkampf. Einige in der Partei, Angelino Alfano wird das wahrscheinlich nicht nur aus Verantwortungsgefühl gegenüber dem Land tun, sondern weil er vielleicht auch die Partei unter seine Kontrolle bringen möchte.

    Engels: Sind die Kräfteverhältnisse in der PDL einzuschätzen, wie groß dieses Lager gegen Berlusconi mittlerweile ist?

    Maruhn: Das ist immer noch eine kleine Minderheit. Aber sie treten ganz offen als Dissidenten auf und haben scheinbar vor, unter Umständen noch an diesem Tag den PDL zu verlassen als eine Art neue kleine Volkspartei. Das Abspalten kittet dann natürlich wieder die Situation, aber der PDL wird damit natürlich etwas kleiner und franst natürlich an seinen Rändern langsam aber sicher aus.

    Engels: Wie wichtig ist diese Abstimmung nun, was die Vertrauensabstimmung angeht, nicht nur für Italien, nicht nur für Letta, sondern auch für die Frage, ob Berlusconi weiter eine wichtige politische Rolle spielt?

    Maruhn: Das ist jetzt diese große Entscheidung. Berlusconi versucht, mit dem Vertrauensentzug gegenüber der Regierung Letta noch einmal auf seine wichtige Stellung und auf seine Macht hinzuweisen, die er in Italiens Politik hat, und versucht damit, den Staatspräsidenten, aber auch die Regierung und das Parlament zu zwingen, unter Umständen doch seinen Senatssitz zu erhalten, dass er seine politischen Ämter nicht verliert. Das ist genau das Kalkül und das ist die Entscheidungsschlacht, die dort gerade geschlagen wird, und wenn die Regierung, die Regierungsmehrheit und auch der Staatspräsident rechtsstaatlichen Prinzipien treu bleibt, wird man sich nicht von Berlusconi erpressen lassen, und dann wird Berlusconi seinen Senatssitz räumen müssen und dann wird es für ihn ganz schwierig, noch selber als Person Politik machen zu können.

    Engels: Nehmen wir einmal an, Enrico Letta schafft es, im Amt zu bleiben, sei es durch diese Kampfabstimmung, sei es dann auch vielleicht wegen eines Schwenks Berlusconis in letzter Sekunde, hat er dann auch die Perspektive, dauerhaft weiterzuregieren, oder bleibt er ein erpressbarer Ministerpräsident?

    Maruhn: Er bleibt natürlich ein ganz stark erpressbarer Ministerpräsident. Solange Berlusconi sozusagen in der Regierung mit drin ist, bleibt Letta hochgradig erpressbar. Er selber hat eigentlich als Ziel angekündigt, das Jahr 2015 zu erreichen. Das ist jetzt sogar auch noch mal reduziert worden. Es geht ihm eigentlich darum, nur noch dieses Jahr zu Ende zu bringen. Eigentlich geht es nur noch darum, die Sitzung des entsprechenden Senatsausschusses, der dann beschließen soll, und auch das Plenum selber, dass Berlusconi den Senat verlassen muss, dass diesen Termin die Regierung Letta erreicht, damit das Junktim aufgebrochen wird der politischen Erpressbarkeit der Regierung durch Berlusconis persönliches Schicksal.

    Engels: Was denken Sie, was wäre das Beste für Italien?

    Maruhn: Das beste wäre für Italien - und viele Menschen sind dieser Meinung -, dass die unseligen 20 Jahre jetzt zu Ende gehen, die ganz stark mit Berlusconis Rolle in der Öffentlichkeit und besonders in der Politik zu tun haben. In diesen 20 Jahren hat sich in diesem Land nichts bewegt. Man spricht ganz offen von einem nicht nur verlorenen Jahrzehnt, sondern von zwei verlorenen Jahrzehnten, von einer Zerstörung der politischen Kultur. Die Wähler, die Bürger trauen ihren Politikern überhaupt nicht mehr. Wir haben einen ganz hohen Grat an Steuerhinterziehung. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass die italienischen Bürger nicht mehr bereit sind, in großem Maße nicht mehr bereit sind, das Gemeinwesen zu unterstützen, und hier braucht man auf alle Fälle einen ganz großen Epochenwechsel. Da muss ein Buch zugeschlagen werden und ein neues Buch geöffnet werden.

    Engels: Wären denn dann Neuwahlen die ehrlichste Methode?

    Maruhn: Nun gut, Neuwahlen setzen voraus, und das hat der Staatspräsident bereits während der letzten zwei Regierungen gesagt und immer damit gedroht, dass er die Kammern nur auflösen wird, wenn die Kammern, also das Abgeordnetenhaus und der Senat, ein neues Wahlgesetz verabschieden. Das jetzige Wahlgesetz ist in höchstem Maße disfunktional, hat viele demokratische Probleme, sorgt dafür, dass wir auch unterschiedliche Mehrheitsverhältnisse in den beiden gleichberechtigten Kammern haben. Deshalb geht es ja auch in erster Linie jetzt um den Senat, während in der Abgeordnetenkammer eine Regelung herrscht, die ganz stark den relativen Wahlsieger bevorzugt. Dort hat die Partito Democratico eigentlich keine Probleme. Diese unterschiedlichen Mehrheiten führen dazu, dass das politische System blockiert wird. Eigentlich müsste man das Wahlrecht ändern, weil eine Neuwahl vermutlich an den politischen Kräfteverhältnissen nur marginal etwas ändern wird.

    Engels: Politikwissenschaftler und Italien-Kenner Roman Maruhn, wir haben ihn beim Goethe-Institut in Palermo erreicht. Vielen Dank für Ihre Einschätzungen.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.