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"Das ist ein furchtbarer Schlag für uns alle"

Immer noch ist unklar, wie viele Todesopfer bei der Flüchtlingskatastrophe vor Lampedusa zu beklagen sind. Die Fischer, die sich bei der Rettungsaktion beteiligt haben, stehen unter Schock.

Von Karl Hoffmann | 07.10.2013
    Nach der Katastrophe kam das schlechte Wetter. Deshalb konnten die Rettungsmannschaften erst gestern damit beginnen, die Leichen aus dem gesunkenen Bootswrack in 45 Metern Tiefe hinauf zu holen. Francesco Spezzano ist einer der Taucher der Guardia di Finanza und Chef der Bergungsmannschaften:

    "Wir werden sehr vorsichtig sein und jede Leiche einzeln mit Seilen sichern und dann in die Höhe und an die Oberfläche bringen."

    Immer noch ist völlig unklar, wie viele Todesopfer zu beklagen sind. Möglicherweise wird die genaue Zahl der beim Untergang ums Leben gekommenen Menschen nie zu ermitteln sein. Der Fischer Enzo Billeci und seine Kollegen, die sich aktiv an der Rettungsaktion am Donnerstagmorgen beteiligt hatten, stehen noch immer unter Schock.

    "Wir wollen sie doch nicht tot, sondern lebend bei uns aufnehmen. Das sind doch alles Menschen, die vor Kriegen fliehen. Diese Tragödie hätte vermieden werden müssen. Sie wird uns das ganze Leben lang verfolgen."

    Die Fischer mussten sich anfangs sogar gegen den Vorwurf wehren, dem Unglücksboot nicht zu Hilfe gekommen zu sein. Dabei müssen sie wegen der strengen italienischen Gesetze gegen illegale Einwanderer erst einmal die Küstenwacht informieren, sonst riskieren sie die Beschlagnahme ihrer Boote. Die komplizierten bürokratischen Prozeduren haben die Rettungsmaßnahmen möglicherweise verzögert, erklärt der Fischer Vito Fiorino, der selbst Dutzende von Flüchtlingen aus dem Wasser gezogen hat.

    "Donnerstagfrüh um halb sieben haben wir das Boot gesehen und zehn Minuten später die Rettungszentrale in Rom informiert. Bis dann endlich die Retter kamen ist eine Dreiviertelstunde vergangen."

    In dieser Zeit hätten möglicherweise mehr als nur 155 Überlebende geborgen werden können. Ein juristischer Streit ist vorprogrammiert. Staatsanwaltschaften werden ermitteln und Aktenordner gefüllt. Offen ist auch die Frage, ob die Überlebenden, wie es das Gesetz eigentlich verlangt, wegen illegaler Immigration belangt und sogar in ein Aufnahmelager eingesperrt werden, bevor sie aus humanitären Gründen Asyl erhalten. In jedem Fall aber werden die Bewohner von Lampedusa, der kleinen Insel auf halbem Weg zwischen Afrika und Europa, noch lange mit dem Trauma des Massensterbens in der vergangenen Woche leben müssen. Giacomo Sferlaza, Musiker und Menschenrechtler, findet kaum Worte für das, was passiert ist:

    "Das ist ein furchtbarer Schlag für uns alle. Solch ein Unglück hat es in all den Jahren noch nie gegeben. Auch ich bin gleich rausgefahren mit meinem Freund Paolo, um Überlebende zu bergen. Aber es war schon zu spät. Tragisch war das."

    Giacomo Sferlazza und viele andere Bewohner der Insel erleben wieder einmal den üblichen Rummel von Politikern und Pressevertretern in ihrem Gefolge. Ihre Gefühle sind sehr zwiespältig.

    "Jetzt müssen wir wieder den Aufmarsch dieser Politiker ertragen, die seit 20 Jahren immer das Gleiche erzählen. Das geht einem sehr auf die Nerven. Einerseits empfinden wir Trauer, und zwar echte Trauer, andererseits Wut über die unerträgliche Rhetorik, die ich nicht mehr aushalte."

    Auch den Vorschlag des italienischen Innenministers, Lampedusa für den Friedensnobelpreis zu nominieren, findet Giocamo Sferlazza unpassend. "Wir Lampedusaner wollen diesen Preis nicht”, schreibt er in seinem Blog: "Was wir getan haben, das haben wir aus vollem Herzen getan, ohne irgendwelche Hintergedanken. Unser interessieren weder Preise noch Medaillen. Sie sind nichts anderes, als lästige Nadelstiche auf unserer Haut."