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"Das ist für uns eine zentrale Forderung"

Ingrid Sehrbrock, stellvertretende DGB-Vorsitzende, fordert 60.000 neue Lehrstellen. Grundsätzlich stünde der DGB aber für einen neuen Ausbildungspakt zur Verfügung. Unerlässlich sei aber auch, dass Jugendliche besser qualifiziert die Schulen verließen.

Ingrid Sehrbrock im Gespräch mit Jasper Barenberg | 26.10.2010
    Jasper Barenberg: Am Telefon begrüße ich jetzt die stellvertretende Vorsitzende des DGB. Einen schönen guten Morgen, Ingrid Sehrbrock.

    Ingrid Sehrbrock: Guten Morgen, Herr Barenberg.

    Barenberg: Frau Sehrbrock, die Wirtschaft hat in den letzten Jahren viele neue Lehrstellen geschaffen, in einem Kraftakt oftmals. Erkennen jetzt auch die Gewerkschaften, dass der Ausbildungspakt ein Erfolgsmodell ist?

    Sehrbrock: Wir sind nach wie vor kritisch, was das alte Modell anbetrifft, aber es gibt ja neue Überlegungen jetzt für den Pakt, die wir eingebracht haben. Wir bleiben bei unserer Kritik am alten Pakt, dass viele junge Leute, die einen Ausbildungsplatz suchen, nicht in dieser Statistik auftauchen, beispielsweise diejenigen, die ausbildungsreif sind, aber doch noch in eine Maßnahme geschickt werden, oder die sich für die Zeit einen Job suchen, oder dann doch noch die Schule weiter besuchen, aber trotzdem ein Interesse aufrecht erhalten an einem Ausbildungsplatz. Die gelten nach der bisherigen Statistik als versorgt, die tauchen in der Statistik nicht auf, und deshalb haben wir gesagt, das ist eine geschönte Bilanz und die jungen Leute finden sich in dieser Bilanz nicht wieder, gerade diejenigen, die seit Jahren einen Ausbildungsplatz suchen. Und wenn sie die Statistik nehmen von 1,5 Millionen Jugendlichen ohne Ausbildung im Alter zwischen 25 und 29, dann müssen die ja irgendwo herkommen. Also so erfolgreich kann der alte Pakt nicht gewesen sein.

    Barenberg: 1,5 Millionen Jugendliche ohne Ausbildung, das heißt, in jedem Fall sind alle Schuld, nur nicht die Jugendlichen selber? Tragen die auch Verantwortung dafür?

    Sehrbrock: Ja, natürlich. So einfach ist es natürlich nicht. Junge Leute müssen sich auch selbst bemühen. Aber wir wissen natürlich, gerade auch für Hauptschulabgänger mit und ohne Abschluss sind die Perspektiven – das zeigen die Statistiken – sehr, sehr schlecht. Wenn man sie befragt, sagen über 70 Prozent, sie sehen überhaupt keine Perspektive, nicht nur für einen Ausbildungsplatz, sondern auch für eine Beschäftigung. Natürlich müssen auch die Schulen stärker darauf achten, dass junge Leute die Qualifikationen mitbringen, die sie brauchen für einen Ausbildungsplatz. Häufig haben junge Leute auch völlig falsche Vorstellungen über das, was an Anforderungen besteht. Da ist noch Nachholbedarf, das ist überhaupt keine Frage. Aber man darf sich es auch nicht zu leicht machen und sagen, die sind alle nicht ausbildungsreif und deshalb finden die keinen Platz.

    Barenberg: Das heißt, die Kritik der Unternehmen an dieser Stelle halten Sie für weitaus überzogen?

    Sehrbrock: Die halten wir für überzogen und die ist auch so ein bisschen eine Ausrede unserer Meinung nach. Wir haben ja auch vorgeschlagen, dass man es auch mit schwächeren jungen Leuten versuchen soll. Wir haben vorgeschlagen, dass man die ausbildungsbegleitenden Hilfen ausbaut, dass man fachlich begleitet wird, dass man auch sozialpädagogisch begleitet wird. Das geht ja alles, das Instrument gibt es, es ist viel zu wenig bekannt und es würde jungen Leuten helfen und den Betrieben.

    Barenberg: Die Instrumente gibt es, sagen Sie. Insofern: Was müssen die Unternehmen noch mehr machen? Viele Unternehmen geben ja heute schon Nachhilfe und begleitende Maßnahmen, um den jungen Leuten zu helfen.

    Sehrbrock: Genau das ist eben das Problem. Das passiert eben nicht in dem Umfang und manchmal sind die Betriebe ja auch tatsächlich überfordert. Deshalb sagen wir, dritter Partner, ein Träger beispielsweise, der Erfahrung hat mit jungen Leuten, kann dieses tun. Das ist unsere Vorstellung. Dann schafft man es eben auch, dass schwächere junge Leute die Prüfung packen. Das ist durchaus möglich. Aber es gibt ja auch andere Initiativen, beispielsweise auch von den Gewerkschaften, dass man schwächeren Jugendlichen erst mal ein halbes Jahr eine Möglichkeit gibt, in einem Betrieb reinzuriechen und festzustellen, was da an Qualifikation erforderlich ist. Das machen ja gerade beispielsweise auch die BASF. Das ist auch ein Ansatz, der gerade von den Gewerkschaften auch verfolgt wird.

    Barenberg: Nun haben sich die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt grundlegend geändert in den vergangenen Jahren. Es war früher ja so, dass die Schulabgänger verzweifelt eine Lehrstelle gesucht haben. Jetzt finden Handwerksmeister und auch Banken oder Versicherungen oft keine geeigneten Bewerber. Welchen Sinn macht es dann noch, wenn Sie auf Ihrer Forderung beharren, die Wirtschaft müsste in jedem Fall 60.000 neue Lehrstellen im Jahr schaffen und organisieren?

    Sehrbrock: Na ja, ich habe ja diese 1,5 Millionen jungen Leute genannt, die keine Ausbildung haben. Die müssen ja eigentlich – nicht eigentlich, sondern die müssen ja auch ein Angebot haben. Die sollten ja auch eine Ausbildung haben. Jetzt gerade, wo wir schon vom Fachkräftemangel reden, müssten wir ja die Potenziale nutzen. Ich denke insbesondere an die sogenannten Altbewerber, die ja schon seit Jahren sich beworben haben, denen eigentlich nichts fehlt außer einem Ausbildungsplatz. Es ist ja inzwischen auch ein riesengroßes Übergangssystem entstanden, wo junge Leute drin stecken, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, aber die von der Bundesagentur in eine Maßnahme gesteckt werden zur Berufsvorbereitung, zur Berufsorientierung, in unterschiedlichsten Projekten stecken, und dieses Übergangssystem gilt es erst mal abzubauen und solange dieses Übergangssystem noch nicht abgebaut ist, denke ich, können wir auch noch nicht die Notbremse ziehen und sagen, es ist jetzt schon alles in Ordnung, sondern wir müssen erst mal die Mängel und die Fehler der vergangenen Jahre aufarbeiten, und da haben wir noch erheblichen Bedarf.

    Barenberg: Aber sind auf gutem Wege, frage ich Sie, denn was die Altbewerber angeht, so hat sich ihre Zahl ja auch nahezu halbiert, wenn ich das richtig weiß?

    Sehrbrock: Die Zahl ist natürlich auch zurückgegangen, aber wir haben ja sehr unterschiedliche Situationen in der Bundesrepublik. Es gibt Regionen, wo der Bedarf inzwischen schon, oder sagen wir mal das Angebot schon höher ist als die Nachfrage, aber wir haben immer noch viele Regionen, wo die Nachfrage erheblich höher ist als das Angebot an Ausbildungsplätzen. Also wir müssen erst mal aufräumen, und bevor wir sagen können, es ist alles in Butter.

    Barenberg: Was können denn die Gewerkschaften beisteuern zu einem solchen Pakt, wie können sie sich sinnvoll einbringen?

    Sehrbrock: Zum einen gibt es Sozialpartnervereinbarungen, beispielsweise eben für schwächere junge Leute ein Angebot zu machen, die ein halbes Jahr schon vor der Ausbildung im Betrieb zu beschäftigen mit der Zusage, einen Ausbildungsplatz dann auch zu bekommen. Das ist das eine. Das zweite ist, wir machen schon seit vielen Jahren Angebote für die Berufsorientierung, vertiefte Berufsorientierung beispielsweise für junge Leute, die noch nicht so genau wissen, wo es eigentlich lang gehen soll. Wir haben dazu auch ein spezielles Angebot gemacht über zwei Wochen, was sehr gut angenommen worden ist von jungen Leuten, um einfach mal einen breiteren Einblick in bestimmte Arbeitsbereiche zu finden, um nur mal diese beiden Beispiele zu nennen. Und wir können natürlich auch in den Betrieben selber dafür sorgen, über die Betriebs- und über die Personalräte, dass der Betrieb Ausbildungsplätze aufrecht erhält, oder zusätzliche einwirbt und sich entsprechend festlegt.

    Barenberg: Zum Schluss, Frau Sehrbrock: Die Wirtschaft sperrt sich noch, was die 60.000 neuen Lehrstellen angeht. Halten Sie an dieser Forderung fest, sonst machen Sie nicht mit?

    Sehrbrock: Das ist für uns eine ganz zentrale Forderung. Wir haben ja eigentlich immer zusätzliche Ausbildungsplätze erwartet, und nun heißt es in diesem Pakt, die Wirtschaft strebt an. Das ist ja auch schon eine offene Formulierung und es steht in diesem Text auch, dass die demographische Entwicklung möglicherweise das eine oder andere Ziel nicht möglich macht. Also sehr viel mehr Flexibilität, denke ich, ist eigentlich nicht möglich auch von unserer Seite.

    Barenberg: Ingrid Sehrbrock, die stellvertretende Vorsitzende des DGB, heute Morgen im Deutschlandfunk. Danke für das Gespräch, Frau Sehrbrock.

    Sehrbrock: Bitte sehr.