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"Das jämmerlich langwierige Entstehen des Textes"

Paul Nizon schreibt in seinen Journalen von der Last, ein Buch zu erstellen. Durch die stilistische Qualität, die sie über weite Strecken auszeichnet, wird sie zum Teil von Nizons literarischem Werk.

Von Matthias Kußmann | 23.02.2012
    Jeder Autor nennt sie anders. Bei Thomas Mann heißen sie "Tagebücher", bei Paul Valéry "Cahiers", bei Elias Canetti "Aufzeichnungen". Jeder hat andre Schwerpunkte: den Alltag, Politik und Gesellschaft, die eigene Innenwelt, das Schreiben. Paul Nizon nennt seine regelmäßigen Notate "Journale". Er begann sie vor über 50 Jahren und hatte lange nicht vor, sie zu veröffentlichen.

    "Die waren so etwas wie Dampfablassen. So, wie ein Klavierspieler sich hinsetzt und spielt, so habe ich jeden Tag vor oder nach der Romanschreiberei aufgezeichnet, was mir passiert ist, durch den Kopf ging und so weiter. Lange Zeit hatte ich nur unendliche Stöße von Aufgezeichnetem. Eines Tages hat mir jemand gesagt, ich sollte es zumindest fotokopieren. Durch das Fotokopieren konnte ich es ablegen und ein bisschen reinschauen. Dann kam die Idee, das auch zu veröffentlichen, das war sehr spät, in den 90er-Jahren."

    Nizon begeisterte den damaligen Suhrkamp-Verleger Siegfried Unseld für das Projekt und verabredete vier Bände mit ihm, die jeweils ein Jahrzehnt umfassen: die 60er, 70er, 80er und 90er-Jahre, sie sind bereits erschienen. Nun folgt ein fünfter und vorläufig letzter Band, mit Notaten von 2000 bis 2010, er heißt "Urkundenfälschung". In jeder Dekade entstünden 3000 bis 4000 Seiten Notizen, sagt Nizon. Da die Journal-Bände aber nur etwa 300 Seiten haben sollen, muss jedes Mal radikal gestrichen werden. Eine schwierige Arbeit, für die er jeweils einen Herausgeber engagiert – zunächst Maria Gazetti, dann den Kritiker Wend Kässens.

    "Wenn man selber dieser Riesenmasse von Aufgezeichnetem und weit Zurückliegendem gegenübersitzt, verliert man sich wie in einem Irrgarten. Es braucht den kühlen Blick eines Außenstehenden. Er trifft die erste Auswahl, dann schau' ich mir die Auswahl an, das heißt, ich schau mir an, was er weggeworfen hat. Wenn ich darunter etwas finde, was mir besonders gefällt, steck ich´s wieder rein. Meistens schneid ich doch noch ziemlich viel heraus."

    Wer bei der Lektüre auf ein "Journal intim" hofft, hat Pech. Auch tagespolitische Ereignisse interessieren den Autor kaum. Nizon führt, was man um 1900 eine "ästhetische Existenz" nannte: Er lebt mit erstaunlicher und imponierender Beharrlichkeit, durchaus auch mit Pathos, in der und für die Literatur, ist gewissermaßen seine eigene Romanfigur – und genau darum geht es vor allem in den "Journalen", Privates tritt in den Hintergrund. Einige Notate handeln zwar vom Scheitern seiner dritten Ehe, das den über 70-Jährigen schwer mitnimmt. Auch gibt es Rückblicke auf Nizons Kindheit und Jugend sowie die Auseinandersetzung mit dem Altern. Doch im Zentrum seiner Gedanken steht die Schreibarbeit – und damit auch die Qual, die ihm jedes neue Romanprojekt bereitet. Es ist paradox: Seine "Journale" füllt er mühelos, oft mit langen, eleganten Satzperioden über zehn, 20 Zeilen. Er "rattert es hin", wie er sagt. Aber soll er am Roman arbeiten, verstummt er. Was wohl nicht zuletzt an dem extrem hohen Anspruch liegt, den er ans eigene Werk stellt:

    "Der Kunstanspruch ist für mich das Entscheidende. Der Kunstbegriff meint das totale Aufgehen von Stoff in künstlerischer Sprache. Dieses Umwandeln in einen atmenden, souveränen, alles enthaltenden geheimnisvollen, unzerstörbaren, schwingenden, schweigenden Organismus, abgelösten sieghaften Organismus, also in Leben, kostet mich viel. Mein Hervorbringungskreuz. Mein Lebenskampf gilt nur dieser Sprachwerdung, Formwerdung, Rettung."

    Gelingt ihm die Verlebendigung durch Sprache, in der auch die Sprache selbst lebendig wird, ist der Jubel groß. Gelingt sie nicht, versinkt der Autor in Selbstanklagen und Depressionen. Überhaupt wird im vorliegenden "Journal" viel geklagt, mitunter auf höchstem Niveau. So beschwert sich Nizon einmal darüber, dass er immer noch nicht den Nobelpreis bekommen hätte. Dieses Selbstbewusstsein freilich kann jederzeit in Unsicherheit umschlagen. Etwa beim Nachdenken über sein Romanprojekt "Das Fell der Forelle", das seit mehreren Jahren stagniert.

    "27. Januar 2004, Paris: Ich denke, mein gegenwärtiger Zustand ist nicht nur mit Krise, sondern mit Panik zu beschreiben. Ein wahrhaft schrecklicher Jahresbeginn."

    Vier Monate später scheint der Knoten endlich geplatzt:

    "Übrigens hat mir noch nie das Schreiben eines Buches so viel Spaß gemacht und Vergnügen beschert. Es ist einfach schlicht wunderbar, wie die Dinge aus mir heraus- oder hervorkriechen."

    Doch schon bald darauf heißt es:

    "Was nun das zimperliche Vorankommen der "Forelle" angeht, so ist einmal mehr die Handlungs- und Plotlosigkeit mein Kreuz und der Grund für das jämmerlich langwierige Entstehen des Textes."

    Nizon weicht aus, streunt durch Paris, seine Lebens- und Schreibstadt; was er sieht, hört und riecht, notiert er voller Leben in den Journalen. Er trifft andere Autoren und Künstler, geht ins Kino, besucht Museen und stürzt sich in intensive Lektüren. Immer wieder arbeitet er sich am Werk Peter Handkes ab, mit dem er befreundet ist:

    "Was uns verbindet, ist das Sehenlernen, nur dass in mir die Suche nicht irgendeiner uralten versunkenen oder verlorenen Ordnung gilt, sondern dem Innewerden der Gegenwart und der daraus hervorgehenden schöpferischen Bereitschaft. Sein Erzählen ist gemeinschaftsbildend oder Einladung zur Nachfolge. Hier Handkes Guruhaftigkeit. Hier unser zentraler Unterschied."

    weil Nizon Gemeinschaft oder gar "Jünger" nicht interessieren. Er kreist manisch um das eigene Ich und sein Lebensprojekt, die Selbsterschaffung durch Sprache. Ende März 2005 kann er aufatmen. Das Manuskript von "Das Fell der Forelle" ist fertig. Es handelt, wie Nizons berühmter Roman "Das Jahr der Liebe", der 1981 erschien, von einem Mann in Paris. Wieder geht es um existenzielle Krisen, Alleinsein, Liebesunfähigkeit – doch diesmal erzählt Nizon mit Leichtigkeit und geradezu groteskem Humor. Sein Held nimmt sich am Schluss die heitere Freiheit des Verrücktwerdens. Erst wenn man die Journale kennt, weiß man, welchem Auf und Ab dieses Buch abgetrotzt wurde.

    "Ich wollte es nicht loslassen, nicht hergeben. Denn das Danach schmeckt nach Tod oder Ende – wie immer man dieses Wort interpretieren will. Das Buch verhalf mir zur Überwindung der im Zusammenhang mit der Scheidung (todesschmerzlich) empfundenen Einsamkeit. Was nun?"

    Zuerst einmal geht Nizon mit seinem "Forelle"-Roman auf Reisen, er liest vor vollen Häusern, erhält mehrere literarische Preise. Doch bald spukt ihm ein neues Romanprojekt im Kopf herum. Es trägt den passenden Titel "Der Nagel im Kopf" und scheint ähnlich schwer zu realisieren wie das vorherige: Ein Ende ist nicht abzusehen.

    – Überblickt man die nun vollständig vorliegenden "Journale", hat man einen fortlaufenden und äußerst aufschlussreichen Kommentar des Autors zu seinem Werk: von der frühen Rom-Beschwörung "Canto" 1963 bis zum späten "Forelle"-Roman. Und bedenkt man die stilistische Qualität, die die "Journale" über weite Strecken auszeichnet, kann man sie durchaus als Teil von Nizons literarischem Werk sehen.

    Buchinfos:
    Paul Nizon: Urkundenfälschung. Journal 2000-2010. Suhrkamp. 375 Seiten. 24,95 Euro