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Antisemitismus an Schulen
Das jüdische Gymnasium in Berlin als Zufluchtsort

Schulwechsel aufgrund von Mobbing - immer mehr Schülerinnen und Schüler suchen Zuflucht am Jüdischen Gymnasium in Berlin. Justizministerin Christine Lambrecht zeigte sich bei ihrem Besuch an der Schule bestürzt. Und versprach Maßnahmen zu ergreifen, zumindest gegen den Hass im Internet.

Von Sebastian Engelbrecht | 30.10.2019
Justizministerin Christine Lambrecht, Gideon Joffe, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Schulleiter Aaron Eckstaedt hören Schülern zu
Justizministerin Christine Lambrecht, Gideon Joffe, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und Schulleiter Aaron Eckstaedt hören Schülern zu (Deutschlandradio / Sebastian Engelbrecht)
Fototermin im Jüdischen Gymnasium in Berlin-Mitte. Justizministerin Christine Lambrecht lässt sich vor der Büste von Moses Mendelssohn ablichten, des jüdischen Philosophen und Aufklärers, nach dem das Gymnasium benannt ist.
Gideon Joffe, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Schulleiter Aaron Eckstaedt begleiten die Ministerin zum Gespräch mit dem Leistungskurs Geschichte.
"Ich habe mich sehr dafür interessiert, das Gespräch mit Ihnen zu führen, weil natürlich aufgrund der aktuellen Situation es mich sehr interessieren würde, wie Sie die Lage in Deutschland wahrnehmen."
Lambrecht blickt in ernste Gesichter der Schüler. Die Stimmung ist angespannt wegen des hohen Besuchs – und wegen des Themas. Es geht um Antisemitismus. Für die meisten hier ist das nicht nur ein historisches Thema, sondern bittere Gegenwart. Die Ministerin fragt nach Erfahrungen. Emily, 17 Jahre alt, antwortet.
"Ich selber hab auch schon viel Antisemitismus erlebt. Ich war zuerst an einer anderen Schule, ich bin erst seit der Zehnten hier. Es war auf jeden Fall ein Grund, warum ich wechseln wollte. Und das war halt auch schon seit der fünften Klasse. Ich habe schon sehr viel erlebt, also sehr viele Beleidigungen und sehr viel Aggressivität."
Ein Schock für alle: der Anschlag von Halle
"Ich hab irgend wann mal keinen Davidsstern mehr getragen, ich habe mich nicht mehr getraut zu sagen, dass ich jüdisch bin."
Schulleiter Aaron Eckstaedt erzählt, dass etwa alle zwei Wochen jüdische Schülerinnen und Schüler von anderen Oberschulen in Berlin bei ihm um einen Termin bitten. Sie wollen auf das Jüdische Gymnasium wechseln. Viele von ihnen kommen dann tatsächlich. Eckstaedt sagt, seit zwei Jahren nehme die Zahl der Jugendlichen zu, die wegen antisemitischer Beleidigungen und Angriffe am Moses-Mendelssohn-Gymnasium Zuflucht suchen. Auch Rafiz, 19 Jahre alt, gehört zu ihnen.
"Ich habe viele Drohungen bekommen, weil ich auch die Lage in Gaza – auf der Seite von Israel war, hat man mir öfters gedroht. Aber im Laufe der Jahre habe ich das auch gehandelt bisschen, nachdem ich aufgehört habe zu sagen, dass ich jüdisch bin."
Und dann kommt Rafiz auf das Ereignis zu sprechen, das für alle hier ein Schock war: Der Anschlag auf die Synagoge in Halle am 9. Oktober.
"Dieser Vorfall in Halle hat auch einen Bekannten von mir betroffen, der in der Synagoge war. Und das finde ich auch… Das ist verrückt, was da passiert ist. Wenn diese Tür nicht abgesperrt gewesen wäre, wäre mein Bekannter jetzt tot, wahrscheinlich."
Als Juden gemobbt
Von eigenen Erfahrungen mit antisemitischer Gewalt berichten die Schüler nicht, aber von Hass – Hass an Schulen, die sie früher besucht haben, und von Hass im Internet. Von den 500 Schülerinnen und Schülern an dem Gymnasium sind gut die Hälfte Juden. Von ihnen gehen etwa 80 auf diese Schule, weil sie anderswo als Juden gemobbt wurden oder einen sicheren Hafen suchten, den sie anderswo nicht fanden. Eckstaedt will die Zahl 80 nicht bestätigen. Er dementiert sie aber auch nicht. Sie kommt aus gut unterrichteter Quelle.
Schulleiter Eckstaedt berichtet von einem Mädchen, das zehn Minuten lang im Schulfoyer stand und weinte, in den Armen des Vaters – nachdem klar war, dass es ans jüdische Gymnasium wechseln würde.
"Und welche Auswirkungen das wirklich für jeden von Euch individualpsychologisch haben kann, habe ich vor einigen Wochen in einem Aufnahmegespräch gemerkt, als eine Schülerin in der Mittelstufe Ähnliches erlebt hat, klares antisemitisches Mobbing, klare Beleidigungen, wie wir das kennen, nach dem Motto: ‚Schade, dass man vergessen hat, Dich zu vergasen‘ und so weiter. Das sind die üblichen Dinge."
Maßnahmen gegen Hass im Netz ergreifen
Die Justizministerin hört zu. Und sie verspricht zu helfen, zumindest was den Judenhass im Internet betrifft.
"Weil wir da eine Entwicklung haben, die wir nicht länger tolerieren wollen, dass quasi der Eindruck entsteht, im Netz wäre quasi ein rechtsfreier Raum – und da könnte man Volksverhetzungen, Morddrohungen absenden, ohne dass es irgend eine Reaktion hat. Dagegen wollen wir deutlich vorgehen, indem wir in Zukunft Plattformen verpflichten – verpflichten –, wenn solche Drohungen oder Volksverhetzungen geschehen, wenn solche Posts veröffentlicht werden, dass dann auch an Ermittlungsbehörden gemeldet werden muss."
Sie sei "bestürzt", sagt die Ministerin nach den Berichten der Schüler. Und sie verspricht: Mit Innenminister Seehofer werde sie ein Maßnahmenpaket gegen Hass im Netz im Kabinett vorstellen.