Donnerstag, 28. März 2024

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Das Kapital sind die Menschen

Es gehört schon eine gehörige Portion Mut dazu, sich in Afghanistan zu engagieren. Der Autor Reinhard Erös will dem Land helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Der ehemalige Militärarzt hat eine Hilfsorganisation gegründet, und für diese Arbeit hat er sogar seine Familie begeistern können. Sein Buch trägt den Titel "Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen - Eine deutsche Familie kämpft für Afghanistan". Rolf Clement hat das Buch gelesen und mit Reinhard Erös über sein Bild von Afghanistan gesprochen.

30.06.2008
    Bildung und Ausbildung sind wichtige Voraussetzungen, um Arbeit zu finden. Die Aussicht auf Arbeit schafft Lebensperspektiven vor allem für Jugendliche. Deshalb muss in die Bildung der Kinder investiert werden. Dann sind sie auch nicht anfällig für radikale Thesen und Aktionen. Dieser Grundsatz steht hinter den Aktivitäten des ehemaligen Bundeswehrarztes Reinhard Erös. Er gründete die "Kinderhilfe Afghanistan", eine kleine Hilfsorganisation, die den Bau und den Betrieb von Schulen finanziert. Sein zweites Buch ist eine Art Zwischenbilanz, aber noch viel mehr. Der Titel des Buches: "Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen". Erös engagiert sich nicht im Norden des Landes, wo die Bundesrepublik Verantwortung übernommen hat, sondern gerade auch im umkämpften Süden. Erös beschreibt die Lage dort aus seiner Sicht, und er kommt zu der Erkenntnis, dass die afghanische Regierung zu wenig auf die wirklichen Strukturen im Land eingeht:

    "Afghanistan ist ein Land, seit es das Land eben gibt, das sehr dezentral organisiert ist, wo in der Regel nicht wie die zentralen Mächte in Kabul bestimmt haben, was im Land abgeht oder eben nicht, sondern die Menschen vor allen in den Dörfern Afghanistans vorwiegend dörflich strukturiert, und in der Geschichte Afghanistans haben immer die Dörfer entschieden, ob es in eine gute oder in eine weniger gute Richtung geht. Ob dort Frieden oder Krieg herrscht, und da, glaube ich, ist unser Buch schon so ein bisschen unikat-artig, denn wir lassen die Menschen in den Dörfern und nicht die Spitzenpolitiker oder die Spitzen der Gesellschaft, der Eliten in Kabul zu Wort kommen."
    Die internationale Gemeinschaft konzentriert sich stark - zu stark - die Hauptstadt Kabul, so die Erkenntnisse von Reinhard Erös:

    "Das tut sie nicht nur politisch, unsere Politik, das tut sie auch wirtschaftlich. Und das ist falsch. Seit Beginn der neuen Zeit in Afghanistan, also seit dem Sturz der Taliban im Winter 2001/2002 flossen über 95 Prozent der Gelder für den Wiederaufbau Afghanistans ausschließlich nach Kabul. Nun ist diese Land fast zweimal so groß wie Deutschland, und 90, 95 Prozent der Menschen in Afghanistan leben eben nicht in Kabul, leben auch nicht in Städten, sondern in den Dörfern."
    Wer Reinhard Erös schon einmal auf Veranstaltungen erlebt hat, weiß, wie lebhaft, wie engagiert er ohne Punkt und Komma von seinen vielen Reisen berichtet, wie er die Erfahrungen wiedergibt, die er dabei gemacht hat. Diese plastische und lebhafte Sprache zeichnet auch sein Buch aus. Es sind viele Erlebnisse, Reportagen, Begebenheiten, die er schildert und mit denen er uns seine Sicht der Dinge nahebringt. Erös hat keine Analyse über die Verhältnisse in Afghanistan geschrieben. Das ist nicht seine Sache. Er hat höchst parteiisch die Lage im Land beschrieben, spannend, gut lesbar. Er ergreift Partei für die Menschen in Afghanistan. Er berichtet, dass die Schulen, die er mit afghanischen Unternehmen und Arbeitnehmern gebaut und eingerichtet hat, auch vor Angriffen der Taliban verschont bleiben. Es ist für diese Schulen schon Schutz, dass die Menschen diese als ihre Schulen verstehen. Daran, so Erös, vergreifen sich Taliban-Kämpfer nicht. Das Buch ist damit eine wertvolle Ergänzung all jener Berichte, die wir aus Afghanistan immer wieder lesen und hören. Der Autor weiß aus seiner Zeit als Soldat, wie Armeen funktionieren, wie sie bei Einsätzen wie dem in Afghanistan, aber auch bei der Erdbebenhilfe in Pakistan, ticken. Trotzdem stellen sich ihm bei manch einer bürokratischen Herangehensweise die Nackenhaare auf: Er ist mit seiner kleinen Organisation längst da, wenn große Organisationen oder Streitkräfte noch die Koffer packen. Da ist Reinhard Erös ungeduldig, weil er die Probleme vor Ort lösen will. Denn seine Erfahrung sagt:

    "Im Osten und im Süden, da wo in den letzten Jahren sehr wenig an für die Bevölkerung sichtbaren Wiederaufbauleistungen ereignet haben, dort bestimmt Krieg seit Jahren das Tagesgeschehen. Dort wird täglich bombardiert, dort kommen täglich Menschen ums Leben, oft auch unschuldige Menschen. Und das scheint unsere Politik noch nicht richtig zu realisieren."
    Und dann fügt er hinzu:

    "Wir konzentrieren uns fast ausschließlich aufs Militär. Wir haben in den letzten sechs Jahren in Afghanistan ungefähr 15 mal mehr Gelder für westliches Militär in Afghanistan investiert als für den zivilen Wiederaufbau. Und selbst wenn ich die Gelder für den zivilen Aufbau mir anschaue, zum Beispiel die deutschen Gelder, die das Entwicklungshilfeministerium oder das Außenministerium nach Afghanistan transferiert hat, dann stelle ich fest, dass von den Geldern, die dorthin gegangen sind, 70 bis 80 Prozent nirgends angekommen sind, außer in den Taschen korrupter Politiker."
    Erös hat Strukturen in Afghanistan aufgebaut, die eine staatliche Organisation nicht nutzen kann: Er trifft sich mit Taliban-Führern und trinkt, wie er es sagt, mit diesen Teufeln Tee. Das sichert seine Projekte. Hat er eine Idee dafür, was jetzt in Afghanistan helfen könnte?

    "Wir sollten für jeden Dollar oder für jeden Euro, den wir in Afghanistan militärisch investieren, in unser eigenes Militär, ins westliche Militär, für jeden Dollar sollten wir einen Dollar parallel für den zivilen Wideraufbau investieren. Dieser eine Dollar, der in den zivilen Wiederaufbau geht, muss ankommen bei Projekten, die sinnvoll sind, und in Afghanistan gibt es ja fast nur sinnvolle Projekte."
    Das Buch von Reinhard Erös zeigt uns ein anderes Afghanistan, als jene Studien, die uns immer wieder sagen, wie schwer es ist, dort etwas zu bewegen. Ja, das Buch macht immer mal wieder Werbung für die "Kinderhilfe Afghanistan". Manchmal denkt der kritische Leser, muss das sein? Aber dann: Warum eigentlich nicht? Das, was man auf diesem Weg über die Menschen in diesem geschundenen Land, über den Lebenswillen derer, die dort agieren, über die Energie, aus der Lage noch etwas zu machen, erfährt, das ist nicht nur für Erös ermutigend, sondern auch für diejenigen, die sich politisch-professionell mit dem Land beschäftigen. Das Kapital, das in dem Land liegt, sind die Menschen, sie müssen nur aktiviert und unterstützt werden, das ist die Ratio des Erös-Buches. Und dass das kleine Organisationen, die vor Ort mit den Menschen arbeiten, und die sich dort lange engagieren, manchmal besser können als Armeen, die in gepanzerten Fahrzeugen ankommen, ist wohl richtig. Wie gesagt: Man muss beide Seiten sehen, und das Buch von Reinhard Erös gibt die Chance eines Einblicks in die "andere" Seite.

    Rolf Clement war das über Reinhard Erös und sein Buch "Unter Taliban, Warlords und Drogenbaronen - Eine deutsche Familie kämpft für Afghanistan", erschienen bei Hoffmann und Campe, 368 Seiten hat das Buch, es kostet 19 Euro 95.