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Das Kind als Hiobfigur

Die australische Autorin Sofie Laguna wurde eigentlich mit Kinderbüchern bekannt. Ihr erster Erwachsenenroman "Lichterloh" erzählt von einem Mädchen, das in einem abgelegenen Haus auf dem Land als Gefangene ihrer Eltern aufwächst. Grausames widerfährt der Tochter und am Ende münden die biblischen Qualen der Protagonistin in eine ebenso biblische Rache.

Von Dorothea Dieckmann | 16.04.2009
    "Es ist ein Löwe auf dem Weg, ein Löwe auf den Gassen" lautet das einleitende Motto des ersten ins Deutsche übertragenen Romans der australischen Autorin Sofie Laguna. Die starke Symbolik des alttestamentarischen Spruchs zeugt von der Schwere des schmalen Buchs. Zusammen mit Türknauf und Axt, Katze, Kochlöffel und Besen bevölkern Löwe und Lamm, Gottvogel und Lots Weib, Jesus und der Engel Gabriel die Welt der kleinen Hester - Geschöpfe einer Phantasie, die ihre Nahrung einzig aus einer Kinderbibel bezieht, während Hesters Körper, vollgestopft mit Essen, dick und unförmig wird. In einem abgelegenen Haus auf dem Land wächst sie als Gefangene ihrer Eltern auf, die sie Sack und Stiefel nennt: eine fanatisch religiöse, kranke Frau und ein dumpfer, unterwürfiger Mann, die sie einsperren und als Putzsklavin missbrauchen.

    Ich kniete auf dem harten Boden und putzte das Klo. Das war meine Aufgabe. Wenn ich die Bürste in den Eimer tunken wollte, war da jedes Mal ein Gesicht. Wenn die Bürste ins Wasser eintauchte, breitete das Gesicht sich aus und zerbrach in Stücke. Die Stücke schwammen voneinander weg, als ob sie Feinde wären.
    Sofie Laguna ist mit Kinderbüchern bekannt geworden, die den Abgründen einer tragischen Normalität mit phantastischer Komik und anarchischer Renitenz begegnen; ihr erster Erwachsenenroman nun führt die Darstellung der grausamen Kinderwelt über alle konventionellen Grenzen hinaus. Nach und nach erweist sich das Kind als Hiobfigur, deren Prüfungen vor manifester Folter nicht haltmachen. Jeder Lichtblick führt in eine noch tiefere Finsternis. Als das Jugendamt dafür sorgt, dass Hester zur Schule geht, wo sie in der kleinen Mary mit der Hasenscharte die erste Freundin ihres Lebens findet, wird sie von der eifersüchtigen Mutter wieder heimgeholt. Als sie ein eigenes Zimmer bekommt, erhält sie allnächtlich Besuche von ihrem Vater, die erst aufhören, als ihre Monatsblutungen beginnen. Schließlich wird Hester achtzehn:

    "Ist das sehr lange her?" Stiefel sah mich an. "Nein, nicht sehr lange, nein." Ich wollte selber sehen, was nicht lange her war. Ich wollte das sehen, worauf sich Katze so gern zusammenrollte, das, was Sack beim Beten neben sich wissen wollte, das, was Stiefel bei Nacht unter sich hatte wissen wollen, bevor die Blutblumen kamen. Ich schaute in den Spiegel und sah eine Missgeburt.
    Misshandlung und Missbrauch, Freiheitsberaubung und psychische Depravierung münden in einer Selbstwahrnehmung als Ding, als pures "das": Hier, in der Mitte ihres Buches, ist Sofie Laguna quasi auf dem Grund der geplagten Seele ihrer Figur angekommen. Die Stärke des Romans besteht in der Konzentration auf Hesters Stimme, ihre Musik, ihre Visionen - ein Delirium, in dem sich der Leser, einmal vertraut mit dem Alphabet, in dem Hester ihr apokalyptisches Dasein buchstabiert, wie in einem dunklen Buch der Psalmen bewegt. In früheren Entwürfen, ist zu erfahren, hat Laguna die Perspektiven anderer Figuren eingezogen und diesen Kompromiss dann später zurückgenommen - leider nicht ganz. Trotz der Fokussierung auf Hesters Sicht ragen aus der Erzählung die erratischen Blöcke anderer, normaler Stimmen, als wären diese unabhängig von ihrer Wahrnehmung. Als die erwachsene Hester nach einem Ausbruch in die Psychiatrie gesteckt wird und dort in der Mitinsassin Norma eine zweite Mary kennenlernt, repräsentiert deren Bericht eine irritierend vernünftige Variation von Hesters Erlebnissen:

    Der Mann hat mich genommen und umgestülpt, und alles, was vorher innen war, mein Blut und mein Herz und mein Hirn, war plötzlich auf der Außenseite. Danach hatte ich Angst vor allem. Ich hab ganz normal gelebt, ich habe gearbeitet und in einem normalen Haus gewohnt, aber ich hatte immer Angst. Ich wollte am liebsten sterben. Ich meine, was für einen Sinn hat es, dass ich hier bin? Wer hat uns in die Welt gesetzt?
    So viel Plausibilität verwässert den radikalen poetischen Ansatz, und zusätzlich zu diesen Relativierungen hat Sofie Laguna sich in der zweiten Hälfte des Romans ein wenig vergaloppiert. Da ist zunächst die ungewöhnliche, aber auch ungewöhnlich mutige Entscheidung, die biblischen Qualen der Protagonistin in eine ebenso biblische Rache münden zu lassen:

    Ein neues Lied sang in mir. Ein Lied mit Glocken, einer Harfe und dem Engel Gabriel. Stiefel und Sack stimmten ein. Sie ging mir unter die Haut, die neue Musik, sie ging dahin, wo man mit den Fingern nicht hinkam. Klebrig und nass stand ich da, und die Luft ging keuchend ein aus ein aus, während Jesus die Trommel schlug und die Axt mitsang.
    Nach dieser blutigen Wendung jedoch dreht sich das Geschehen noch einmal und schließt mit einem glücklichen Ausgang - eine hingebogene Lösung, die nicht aus moralischen, sondern aus literarischen Gründen Unbehagen bereitet. Quasi durch die Hintertür schleicht sich am Ende eine paradiesische Idylle in das zutiefst düstere Panorama, und so ist es denn kein Wunder, dass das Schlussmotto dieses erstaunlichen Buches mit einer religiösen Erklärung aus dem zweiten Petrusbrief aufwartet: "Es wird aber der Tag des Herrn kommen wie ein Dieb."
    Sofie Laguna: Lichterloh. Roman. Aus dem Englischen von Sabine Roth. Fahrenheit Verlag 2009, 175 S.