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"Das Land bricht zusammen und ich tanze Rumba"

In Kolumbien ist Gewalt längst zu etwas Alltäglichem geworden: Anschläge, Morde und Überfälle werden hingenommen. Mitleid oder Entsetzen kann kaum mehr empfunden werden. Diese Gleichgültigkeit schildert Evelio Rosero in seinem Roman "Zwischen den Fronten" - ein Blick in die heutige Gesellschaft Kolumbiens.

Von Eva Karnofsky | 06.10.2008
    Ismael ist pensionierter Lehrer. Er lebt seit vierzig Jahren mit seiner Frau Otilia, einst ebenfalls Lehrerin, in San José, seinem Geburtsort, irgendwo in Kolumbien. Ihre Freude sind der Garten und der Fischteich, und zu Otilias Ärger liebt Ismael es trotz seines Alters noch immer, jedem Rock nachzuschauen. Um seinem Voyeurismus zu frönen, klettert er sogar mit der Leiter in den Orangenbaum, in der Hoffnung, einen Blick auf die schöne Nachbarin Geraldina zu erhaschen, die sich nackt zu sonnen pflegt.

    Das klingt erst einmal nach einem ruhigen Lebensabend mit gelegentlichem Gezänk in ländlicher Idylle. Doch Gracielita, die Zwölfjährige, die Geraldina und ihrem Mann den Haushalt führt, und deren Pobacken Ismael von seiner Leiter aus ebenfalls in Augenschein nimmt, ist der Beweis, dass der paradiesische Schein trügt:

    "Sie war früh zur Waisen geworden, ihre Eltern gestorben bei dem letzten Angriff auf unser Dorf von noch weiß keiner welcher Armee - ob Paramilitärs, ob Guerilla: eine Stange Dynamit war mitten in der Kirche explodiert, während der Wandlung, das halbe Dorf im Gotteshaus; es war die erste Messe an einem Gründonnerstag gewesen; vierzig Tote hatte es gegeben und vierundsiebzig Verletzte; das Mädchen hatte wie durch ein Wunder überlebt,"

    flicht Ismael, der Ich-Erzähler, wie beiläufig in seinen inneren Monolog ein, während er ausgiebig über Geraldinas Nacktheit nachsinnt.

    "Sie streckte Arme und Beine in alle Richtungen; statt ihrer glaubte ich ein schillerndes Insekt zu sehen: plötzlich sprang sie auf, ein leuchtender Grashüpfer, verwandelte sich dann aber blitzschnell in nicht mehr und nicht weniger als eine nackte Frau, als sie zu uns herüberblickte, und losging, selbstgewiss in ihrer katzenhaften Langsamkeit, manchmal geschützt vom Schatten der Guajakbäume, gestreift von den hundertjährigen Armen des Kapokbaums, manchmal wie verzehrt von der Sonne, die sie vor lauter Licht eher verdunkelte, als ob sie sie verschluckte."

    Evelio Rosero hat mit seinem fiktiven Dorf San José einen Mikrokosmos geschaffen, der für sein Land steht, für ein Land, dessen Menschen seit Jahrzehnten im Krieg, zwischen den Fronten leben - und sich dort eingerichtet haben. Menschen werden verschleppt oder sterben, schon Kinder morden, doch niemand lehnt sich auf, ja, man zeigt nicht einmal wirkliches Interesse für das Leid anderer.

    "Das Land bricht zusammen und ich tanze Rumba" lautet ein kolumbianisches Sprichwort, und mit eben dieser Haltung nimmt auch Ismael Unglücksmeldungen auf - so, als kämen sie von einem anderen Stern. Und ob er über Geraldinas Knie oder über die mit Schrott und Exkrementen gefüllten, zu Bomben umfunktionierten Blechdosen nachsinnt, die das Blut ihrer Opfer vergiften - sein Ton bleibt gleich, gleichmütig, seine Sprache immer so sachlich berichtend und exakt beschreibend, wie seine Augen trocken bleiben.

    Schon als Ismael Otilia kennenlernte und sich in sie verliebte, an einer Bushaltestelle, wurde gleich neben ihnen kaltblütig ein Mann erschossen, von einem Kind. Zwar hat Ismael den kalten Blick des Jungen nicht vergessen, doch sein Leben verändert hat dieser Blick, hat der Mord damals genauso wenig wie die Explosion in der Kirche.

    Die Gewalt ist selbstverständlicher Teil seines Lebens, Teil von San José, Teil Kolumbiens. Sie existiert und man nimmt sie hin, fragt nicht nach den Mördern oder welcher Armee sie angehören. Man schaut, wie Ismael, darüber hinweg, schaut über die Mauer, selbst wenn es Mühe kostet und man dafür eine Leiter zu Hilfe nehmen muss.

    Sie grenzt an Perversion, diese Fähigkeit, vor der Gewalt die Augen zu verschließen, wenn etwa ganz San José den Jahrestag der Entführung eines seiner Bewohner mit einem Fressgelage und Tanz begeht, auf Einladung der Frau des Gekidnappten, in dessen Haus.

    Evelio Rosero hat Zwischen den Fronten als Parabel gegen dieses Wegschauen konzipiert, und so holt die Gewalt natürlich auch Ismael ein, als Quittung für sein lebenslanges Wegschauen. Das Dorf wird in Schutt und Asche gelegt, etliche Bewohner werden verschleppt, darunter Otilia. Erst jetzt geht ihm das Grauen nahe und treibt ihn an den Rand des Wahnsinns. Erst um Otilia kann er weinen.
    Viele sterben, die übrigen fliehen ins Ungewisse, nur ein paar Alte bleiben zurück, dem Tod überlassen. Auch Ismael:

    ""Nein, ich bleibe", höre ich mich selber beschließen. Und hier bleibe ich, im warmen Schatten der verlassenen Häuser, der stummen Bäume, ich winke allen mit dieser Hand zum Abschied, ich bleibe, Herr, ich bleibe, weil ich dich nur hier finden kann, Otilia, nur hier kann ich auf dich warten."

    Lediglich die Figuren des Romans hat Evelio Rosero erfunden. San Josés gibt es viele in Kolumbien, und die Ereignisse tragen sich so oder ähnlich zu wie Rosero sie Ismael in seinem inneren Monolog schildern lässt. Drei Millionen Kolumbianer sind Flüchtlinge im eigenen Land, Tausende werden jedes Jahr entführt, Tausende werden verletzt, werden zu Waisen, sterben. Rosero wollte seinen Landsleuten den Spiegel vorhalten mit seinem Roman, doch sie reagierten darauf folgerichtig, so, wie sie nach Möglichkeit auf den Krieg reagieren: Sie beachteten ihn kaum.

    Die großen Fragen, die der Roman aufwirft, sind von universeller Relevanz: Wie kann ein Mensch, kann eine Gesellschaft es verhindern, sich an Gewalt zu gewöhnen? Inwieweit ist jeder einzelne mitverantwortlich für das Entstehen einer Kultur der Gewalt? Wie viel Wegschauen ist erlaubt, um nicht an der Gewalt zu zerbrechen? Rezepte hat auch Rosero nicht, aber Zwischen den Fronten zwingt dazu, darüber nachzudenken.

    Evelio Rosero: Zwischen den Fronten
    Aus dem Spanischen von Matthias Strobel
    Berlin Verlag, Berlin 2008, 176 Seiten, 19,90 Euro