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Das Leben der amerikanischen Durchschnittsbürger

"Weißt du, was Tanzen ist?", fragt die Frau den Mann und liefert die Antwort gleich mit: "Eine Methode, Platz zu sparen. Siehst du, wie lückenlos die Paare aneinander passen?" So beginnen Ehen in Amerika, noch in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ein engmaschiges Regelwerk umfängt die Jugend in den Provinzstädten, der College-Abschlussball gehört zu den Höhepunkten, und wer dort nicht Nägel mit Köpfen macht, verpasst den Einstieg ins bürgerliche Leben mit Kindern, Eigenheim und regelmäßigen Grillabenden. In der Belletristik hat dieser Topos massenweise Denunzianten angelockt, die die Schönheit des simplen Glücks bestreiten und dunkle Wahrheiten ans Licht zerren wollen: Verkappte Gewalt, sexuelles Elend, zumindest aber bare Beziehungslosigkeit seien die wirklichen Beherrscher der Vorstädte.

Von Florian Felix Weyh | 01.03.2005
    Nicht so bei Ron Carlson. Der Literaturprofessor aus Arizona rehabilitiert in seiner Story-Sammlung "Plötzlich war es Juni, und überall lagen Badetücher" auf wundersame Weise das Leben der amerikanischen Durchschnittsbürger. Auch er blickt hinter die Fassaden des Gewöhnlichen, entdeckt dort aber keineswegs Abgründe, sondern liebenswerte Verschrobenheiten, poetische Geheimnisse und verblüffende Erlebnisse menschlicher Nähe. So recht kennt man sich nämlich nicht mal in der Familie, wo ein Vater - jener, der einst nicht wusste, was Tanzen ist - den fünfzehnjährigen Sohn kaum durchschaut: "Er war der interessanteste Mensch, mit dem er je zu tun gehabt hatte, und er war ihm nicht immer gewachsen." Zum Beispiel in der Angelegenheit mit dem Kartoffelgewehr, einem vom Sohn gebauten Schießeisen, das mit Feuerzeuggas betrieben wird und ganz ungefährlich sein soll. Der Vater ruft bei der Polizei an, ob das Ding unters Waffengesetz falle; dann ist ihm beim Rückruf des zuständigen Beamten die Sache aber peinlich, so dass er sich auf Kartoffelkäfer hinausredet - um schließlich, mitten in der Nacht, mit der ganzen Familie das Meisterstück des Sohnes auszuprobieren. Es schleudert Kartoffelstückchen einhundertdreißig Meter über den Acker, und der Vater ist einfach nur glücklich über diese vollkommen absurde, doch Gemeinsamkeit stiftende Aktion.

    An dieser Geschichte lässt sich gut die Qualität von Ron Carlsons Erzählungen zeigen: Sie beginnen, ganz klassisch, mit einer spannungstreibenden Setzung, um dann doch nicht im erwarteten Knall zu enden. Bis zum Schluss rechnet man, dass die geschilderte Familienidylle durch ein explodierendes Kartoffelgewehr zerstört wird, doch Carlson begnügt sich damit, die Fragilität von Glücksverhältnissen nur anzudeuten und nicht selbstherrlich ihren Untergang herbeizuführen. Menschen dürfen auch mal glücklich sein! Es reicht, wenn sie die Angst vorm Unglück nicht ganz vergessen.

    In kleiner Münze kommt dieses Motiv in fast allen Geschichten vor. Da stellt der normale Sprössling einer Geniefamilie fest, von der Bürde der Hochbegabung verschont geblieben zu sein, und erfreut sich wie jeder andere Jugendliche ganz banal seines ersten Autos, statt wie der kleine Bruder frühreif an der Uni die physikalische Welt aus den Angeln heben zu müssen. Und wie schön wäre es, gäbe es im Zeitalter des Entwicklung beschleunigenden aber die Reife hemmenden Medienkonsums noch Jugendliche, die zugeben: "Ich benutze meinen Körper für Dinge, die nicht einmal ich selbst verstehe." Denn hinter diesem Satz versteckt sich keine Perversion, sondern die überwältigende Unbegreiflichkeit erster sexueller Erfahrungen, wie man sie noch vor einer Generation naiv empfinden konnte. Solche die Seele der Figuren auslotenden Sätze bereichern den ganzen Band, der damit an ein großes literarisches Vorbild anknüpft. Ron Carlson ist ein würdiger Nachfolger des amerikanischen Mittelstands-Chronisten der fünfziger und sechziger Jahre John Cheever. Wie Cheever führt Carlson seine Figuren nie vor, sondern gibt ihnen eine Tiefendimension, die sie laut Vorurteil als Bewohner der Vorstädte gar nicht haben dürften. "Gib der Seele Nahrung", heißt eine Maxime im Buch, "der Körper findet einen Weg." Die Seelennahrung wäre schon mal da.