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"Das Leben ist vielfältig selbst in der DDR gewesen"

"Ich find’s toll, wenn ein Westler anders ist, und ich möchte aber als Ostler ein bisschen anders sein dürfen", sagt Thomas Rosenlöcher 20 Jahre nach der Wende - und vermisst als Lyriker insbesondere die Stimme des Ostens.

12.10.2009
    Karin Fischer: Dies ist die Zeit der Rückblicke auf die Demonstrationen im Herbst 1989, auf den Zuwachs von Zivilcourage, der Zigtausende auf die Straßen trieb, bis am 9. November mit der neuen Ausreisebestimmung der Fall der Mauer nicht mehr aufzuhalten war. Der Lyriker Thomas Rosenlöcher, 1947 in Dresden geboren, hat die Wendezeit, die ja auch eine Zeitenwende war, in einem Tagebuch protokolliert. "Die verkauften Pflastersteine" heißt es, es erschien 1990 in der Edition Suhrkamp, und danach war er auch im Westen mehr als ein Geheimtipp. Rückblickend die Frage noch mal an Thomas Rosenlöcher: Auf was spielt der Titel an?

    Thomas Rosenlöcher: Auf die einfache Tatsache, dass ich einmal sah, dass man eine Straße aufriss, und mich wunderte, wieso, weil ja viele Straßen kaputt waren. Und die wenigen Bauarbeiter, die kannte man persönlich in Dresden. Und einen davon fragte ich, wie das käme. Und er sagte: Ja, wir verkaufen die halt nach dem Westen. Und das waren halt Devisen, verstehen Sie, da wurde mir eben auch klar, dass jetzt irgendwas passieren muss. Ich dachte zwar nicht das, was dann kam, aber ich dachte, etwas muss passieren. Ich befürchtete allerdings, dass der Sack zugemacht wird, dass es eine richtige scharfe Diktatur wird. Das hatte ich damals sehr befürchtet, also die berühmte chinesische Lösung und alles das.

    Fischer: Der Dichter Durs Grünbein findet, das Wort Revolution sei ja bestenfalls metaphorisch anzuwenden, wie die Attribute friedlich und samten, die man immer dazusagt, es ja auch verrieten. In Wirklichkeit hätten sich die Leute einfach einen anderen Arbeitgeber als diesen Staat gesucht. Wie sehen Sie die Zeit damals?

    Rosenlöcher: Na, das sehe ich doch nicht so. Also für mich war schon wichtig, dass man plötzlich mal auf der Straße stand und – wofür sich vielleicht andere genierten, Schriftsteller vielleicht – plötzlich Dinge zu rufen, die heute sehr trivial klingen, "Wir sind das Volk" oder "Wir bleiben hier". Und dass das ein Akt der Selbstreinigung war und dabei auch ein Glücksgefühl, sozusagen jetzt mal geradegestanden zu haben, eben ein Gefühl, dass man abgehen konnte, dass vielleicht gleich Panzer kommen könnten. Und dies ist sozusagen ein Aufbruch, ja, wenn Sie so wollen, davon zehre ich heute noch. Und Revolution klingt sehr emphatisch, aber ich habe kein besseres Wort, Wende ist auch affig.

    Fischer: Die Literatur in der DDR hat ja vor dem Mauerfall eine ganz besondere Rolle gespielt und war auch dann im Westen immer besonders erfolgreich, wenn man zwischen den Zeilen lesen konnte.

    Rosenlöcher: Ja, das ist natürlich nun viel weniger. Ohnehin, es ist natürlich nicht nur dieses Zwischen-den-Zeilen-Lesen. Was anderes, was mir noch viel wichtiger scheint, was eher weggefallen ist, ist die Sinnsuche, die damals war. Wenn man las, suchte man einen Sinn in dem Ganzen. Und es ist ja nun nicht unbedingt so sehr viel sinnvoller geworden. Aber diese Sinnsuche ist weg oder weniger geworden, weil heute viel mehr Sinnersatz da ist. Ich hab also alle möglichen Sinnersatzmittel, um mir vorzumachen, dass ich sinnvoll lebe, und brauche das Buch nicht mehr so. Und das ist für die Literatur schon ein Verlust.

    Fischer: Ist es auch ein Verlust im Leben?

    Rosenlöcher: Ja, in gewisser Weise, wobei ich natürlich nun loben will, was hart macht, wissen Sie? Also das System hinter mir zu haben, ist schon toll. Aber gleichzeitig sozusagen sich aufs Eigentliche zu besinnen, fällt hier einfach schwerer in diesem neuen Land, in dem ich ... für mich ist's immer noch neu nach 20 Jahren, wie ich sagen muss.

    Fischer: Nachdem die Mauer fiel, ist naturgemäß auch die Rolle der Literatur erst mal weg und es wurde still um die Protagonisten der DDR-Literatur wie Christa Wolf und anderen heute. Kommt große Literatur von Menschen, die noch im Osten geboren worden sind? Ingo Schulze, Uwe Tellkamp, sogar der verstorbene Werner Bräunig mit seinem "Rummelplatz" war überaus erfolgreich. Ist das eine Chance auch für die Literatur gewesen, die jetzt in so vielfältiger Art und Weise gespiegelt wird, diese Realität?

    Rosenlöcher: Ja, natürlich. Deswegen ist es für mich auch ein Glück, das erlebt zu haben, diese Revolution, weil wir haben sozusagen, können ein doppelten Blick haben auf das Damals und das Heute, und wir sind sozusagen nicht so selbstverständlich in der einen Welt. Wir wissen es, eine HU hat's früher mal gegeben, die ist weg, und auch einen Aldi wird's nicht ewig geben. Und ich glaube, das ist für die Literatur ganz gut, dass sie dadurch ein bestimmtes historisches Gefälle hinter sich hat, an Erinnerungen ein bestimmtes Maß. Dadurch ist vielleicht der Osten manchmal in der Literatur präsenter. Allerdings meine ich, dass noch viel zu wenig sozusagen die östlichen Belange vorkommen, sowohl in der Politik, aber auch in der Literatur, also sozusagen der spezielle Ostblick, der eine Chance ist für alle, ist noch viel zu wenig da. Es wird viel zu viel das Eigentliche erwartet, die eigentlich erwarteten Bilder dieser Ostzeit geliefert. Und ich denke, das muss eigentlich erst kommen. Und da ist es dann schon tragisch, dass bestimmte Sprecher des Ostens, wenn man das so ganz groß nehmen soll, vielleicht natürlich auch verstrickt waren manchmal, aber trotzdem, dass sie so perfekt jetzt 20 Jahre lang weggefallen sind und jetzt erst das alles sich wieder rappeln muss und der Osten sozusagen eine eigene Stimme finden muss, das halte ich schon für tragisch, und es dauert ein bisschen lange alles.

    Fischer: Was wären, Thomas Rosenlöcher, die Bilder, die wir jetzt noch bräuchten, zusätzlich zu den vielen, die wir jeden Tag im Fernsehen sehen, und was wären die Themen, was sind die Themen, die fehlen?

    Rosenlöcher: Ja, wissen Sie, das ist die berühmte Zwangssystemdiskussion. Natürlich war es ein Zwangssystem, aber gleichzeitig hat man lebendig gelebt. Und das Leben ist vielfältig selbst in der DDR gewesen, selbst wenn man es im Westen immer noch nicht glauben will. Und diese Vielfältigkeit und sozusagen das Eigenständige, auch in einer anderen Sozialisation, das muss eigentlich noch mehr auftauchen und muss sozusagen auch noch mehr behauptet werden, weil Deutschland wird dadurch interessanter und bunter und vielfacher. Für mich war das immer eine Chance, dass es einen Osten und einen Westen gibt, außer den Unterschieden zwischen den Religionen – Regionen, nicht Religionen, um Gottes Willen – Regionen. Das ist für mich wichtig, weil das eigentlich uns bereichert, uns alle. Ich find’s toll, wenn ein Westler anders ist, und ich möchte aber als Ostler ein bisschen anders sein dürfen und das behaupten. Nun ist aber leider der Osten sozusagen so auf den Westen ausgerichtet, dass man oft im Westen östlicher lebt als im Westen und so weiter, also sehr kompliziert geworden.

    Fischer: Thomas Rosenlöcher vermisst immer noch den Osten in Bild und Schrift. Der Lyriker und Erzähler mit rückblickenden Gedanken zu 20 Jahren Mauerfall.