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Das Leid(t)medium der Republik

Kaum eine andere Zeitung ist so bekannt, beliebt - aber auch verhasst und angefeindet, wie die "Bild"-Zeitung. Vor 60 Jahren brachte sie Verleger Axel Springer erstmals auf den Markt - und dieser Tage werden Millionen Deutsche zwangsbeglückt und haben die Jubiläumsausgabe im Briefkasten. Doch wie groß ist der Einfluss der "Bild"-Zeitung wirklich?

Von Michael Meyer | 16.06.2012
    Ist sie wirklich noch das Leitmedium der Republik? Immerhin setzen auch andere Zeitungen auf Boulevard, Fernsehen und Internet sind weitere Konkurrenten - und die Auflage ist mittlerweile deutlich unter drei Millionen abgesackt. Was ist also die "Bild"-Zeitung heute noch und wie viel Einfluss hat sie auf Politik und Gesellschaft? Michael Meyer über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft von Deutschlands erfolgreichstem Massenblatt.

    Bela Anda, ehemals Regierungssprecher von Gerhard Schröder, nun wieder Redakteur der "Bild"-Zeitung: "Wer sich in 'Bild' begibt, kommt darin um, und das soll nicht heißen, dass im wallraffschen Sinne jeder fertiggemacht wird, der dort Interviews gibt, sondern es soll bedeuten, dass niemand anmaßen sollte, diesen Tiger zu reiten, eben 'Bild' zu beeinflussen oder für sich komplett zu vereinnahmen"

    Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung: "Boulevardjournalismus gehört es eben zu provozieren und zu polarisieren, 'Bild' will die aufregendste Medienmarke Deutschlands sein, und wenn man aufregen will, muss man provozieren und polarisieren und 'Bild' macht eben einen Journalismus, der nicht allen gefallen kann. Wir wollen unbequem sein, und wenn Sie unbequem sind, dann legen Sie sich auch mit Leuten an."

    Investigativjournalist und "Bild"-Kritiker Günter Wallraff: "'Bild' ist geschickter, sich bestimmten Zeitströmungen anzupassen, aber sie sind immer noch diejenigen, die einen unheimlichen Verstärker haben, die Stimmungen anheizen, hysterisieren, und dann immer wieder einzelne auch sich ins Visier nehmen, aufbauen, oder auch weidwund schießen, und dann den Meuteinstinkt auslösen, das ist in Deutschland hoch entwickelt."

    Kaum ein anderes Medium polarisiert noch so stark wie die auflagenstarke Boulevardzeitung aus dem Hause Axel Springer, die vor ein paar Jahren von der Elbe an die Spree gezogen ist, von Hamburg nach Berlin. Und doch: Die Rolle der "Bild"-Zeitung hat sich in sechs Jahrzehnten gewandelt - vom reinen Fotoblatt kurz nach dem Krieg über ein Kampfblatt gegen Brandts Ostpolitik und die 68er - bis hin zum Jubelblatt der deutschen Einheit, Helmut Kohl und den deutschen Papst. "Wir sind Papst!" gehört zu den meistzitierten Schlagzeilen der bundesrepublikanischen Pressegeschichte. Zwischenzeitlich hatten sogar die Intellektuellen ihren Frieden mit "Bild" gemacht. Doch zunächst zurück zu den Anfängen.

    "Jedermann weiß, dass diese Zeitung nicht schüchtern ist, weiß dass 'Bild' gehalten ist, holzschnittartig zu formulieren, das passt einer Minorität von Ästheten nicht so recht, aber in toto kommt es glänzend an."

    Axel Cäsar Springer, Sohn eines Verlegers aus Hamburg-Altona gründete nach dem Krieg die Programmzeitschrift "Hörzu", 1947 kam das Hamburger Abendblatt dazu. Beide Blätter waren Riesenerfolge: Mit unpolitischen Inhalten und dem Slogan "Seid nett zueinander" hatte Springer enormen Erfolg. Nach einer Reise in die Fleet Street, dem damaligen Zeitungsviertel von London, kam Springer auf die Idee, dass eine stark visuell geprägte Zeitung, eine mit einem sehr unmittelbaren Zugang zu Themen, die Idee auch für deutsche Leser sei:

    "Meine Direktoren besuchten mich draußen in Blankenese, wo ich damals wohnte und als ich davon erzählte, hielt sie nur die Tatsache, dass ich der Chef war, davon ab, laut zu lachen, aber als sie mich dann fragten, ob ich denn auch schon einen Titel hätte und ich sagte: 'Bild' prusteten sie also los. "
    24. 6. 1952 - die erste 'Bild'-Zeitung - von nun an Tag für Tag, die großen Ereignisse der Welt, ihr Bild in 'Bild'.

    Von nun an ging es immer steiler bergauf - eine Million, zwei Millionen, drei Millionen - keine Auflagengrenze schien hoch genug - die Deutschen rissen Springer das Blatt geradezu aus den Händen. In den ersten Jahren war die Zeitung wirklich im wahrsten Sinne des Wortes eine "Bild"-Zeitung, denn sie bestand fast nur aus Fotos und ganz kurzen Texten. Diese wurden im Laufe der Jahre dann länger. Springers publizistisches Credo lautete folgendermaßen:

    "Ich bin der Meinung, dass Zeitungen zwar an der Politik teilhaben, aber nicht Politik machen sollen. Zeitungen haben Politik zu begleiten, zu erklären, zu kritisieren, zu fördern, Zeitungen haben zu warnen und Anregungen zu geben, sie haben eine Meinung zu haben, ob man sie nun mag oder ob man sie nicht mag."

    Doch in Wirklichkeit hielt sich Springer nicht an seine eigenen Worte. Bereits in den 50er-Jahren wurden seine Zeitungen politischer, etwa als die "Bild"-Zeitung massiv gegen die Stationierung von Atomwaffen in Deutschland agitierte, bestätigt Eckhart Querner, Autor eines Fernsehfilmes über Axel Springer:

    "Das hatte mit Adenauers Politik zu tun, die sehr stark an den Westmächten orientiert war, ...., und dann gab es eben den politischen Wunsch, die Bundesrepublik mit Atomwaffen wiederzubewaffnen, mit Nuklearwaffen, und da hatte Springer überhaupt nichts dafür, und das war seine erste Kampagne gegen die Amerikaner und gegen Adenauers Politik, dieser Wiederbewaffnung."

    Einen noch stärkeren Dreh hin zu politischen Inhalten in der "Bild"-Zeitung gab es Ende der 50er-Jahre. Springer war damals auf eigene Faust nach Moskau gereist, um Nikita Chruschtschow seine Pläne für eine Wiedervereinigung Deutschlands vorzustellen. Doch der ließ Springer abblitzen. Für Springer eine herbe Enttäuschung - und wohl Auslöser für einen scharfen antikommunistischen Kurs, der sich fortan in der "Bild"-Zeitung wiederfand, vor allem natürlich nach dem Bau der Mauer 1961. Auch Brandts Ostpolitik Ende der 60er-Jahre, die Annäherung an die DDR, stets in Gänsefüßchen in allen Springerblättern, wurde in der "Bild" heftig kritisiert.

    Kurz zuvor eskalierte die Situation im Westteil Berlins und in der Bundesrepublik, als die Studentenbewegung gesellschaftliche Reformen einforderte und es zu heftigen Auseinandersetzungen auch mit dem Springer-Verlag kam:

    "Springer, Mörder, Springer, Mörder!"

    Vor allem der Tod des Studenten Benno Ohnesorg 1967 brachte die Studenten gegen die "Bild"-Zeitung auf. Heute weiß man, dass die Tathergänge nie richtig aufgeklärt wurden und dass der Todesschütze, der Polizist Heinz Kurras, Geld von der ostdeutschen Stasi erhalten hatte. Dennoch: Damals machte die "Bild"-Zeitung, aber auch andere Springer-Zeitungen Front gegen die Studenten mit Schlagzeilen wie diesen:

    "Stoppt den Terror der Jung-Roten", "Polit-Gammler Dutschke dreht an einem dollen Ding" - "Studenten drohen: Wir schießen zurück" - "Unruhestifter unter Studenten ausmerzen" - "Kein Geld für langbehaarte Affen"

    So oder ähnlich ließe sich die Liste fortsetzen. Doch geben diese hinlänglich bekannten Schlagzeilen wirklich den Tenor in der damals geteilten Stadt Berlin wieder? Durchaus, meint der Berliner Politologe Tilmann Fichter, damals Mitglied im SDS, dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund. Es habe teilweise, so Fichter, eine regelrecht hasserfüllte Hetze gegen die Studenten gegeben:

    "Das war eine spezifische Situation in Berlin, die dann teilweise von der 'Bild'-Zeitung auch nach Westdeutschland exportiert wurde, nur in Westdeutschland hat diese Hetze des Springer-Konzerns nicht diese Unterstützung gefunden wie in West Berlin. Es war eine spezifische Situation und es hatte etwas zu tun mit der Perspektivlosigkeit dieser Stadt. Die Industrie war kaputt, die Leute hatten keine wirkliche Arbeit mehr, ..., und in dieser Konstellation waren die Studenten die Ersatzkommunisten für einen Teil der Bevölkerung, weil mit den historisch Verantwortlichen konnten sie die Auseinandersetzung nicht führen. Das soll der Springer-Konzern endlich mal zur Kenntnis nehmen, dass er da schuldig geworden ist, er hat in einer bestimmten historischen Situation versagt."

    Die Berichterstattung in den Jahren von 1966 bis 68 beschäftigt den Axel-Springer-Verlag bis heute. Vor drei Jahren versuchte der Verlag ein sogenanntes Axel-Springer-Tribunal zu initiieren, um mit den Gegnern von einst zu sprechen - das erste Tribunal war von den Studenten für das Frühjahr 1968 geplant, kam aber nicht zustande. Als im Februar 1968 mehrere Filialen der "Berliner Morgenpost" angegriffen und die Demonstrationen zunehmend gewalttätiger wurden, zogen sich viele Springer-Gegner zurück: Das sei nicht ihr Weg - das Springer-Tribunal wurde abgesagt.

    Aber auch die neuerlich angesetzte Runde vor drei Jahren fand nicht statt - diese sollte im Verlagshaus in Berlin abgehalten werden - die meisten Studenten von damals sagten aber ab.

    Es ist unübersehbar: Seit ein paar Jahren will der Springer-Verlag mit sich und mit der Geschichte der "Bild"-Zeitung ins Reine kommen: Nun soll auch eine Abhöraktion des Bundesnachrichtendienstes aus den 70er-Jahren gegen den wohl schärfsten "Bild"-Kritiker, Günter Wallraff untersucht wurden. Wallraff hatte sich damals in die Hannoveraner Redaktion eingeschlichen und dokumentierte, wie die Redakteure und Reporter damals arbeiteten: mit Lügen- und Schmuddelgeschichten, die keine Grenze kannten. Doch der Verlag wehrte sich mit Klagen und Gegendarstellungen: Wie es heißt, soll damals angeblich sogar eine Leitung in die Kölner "Bild"-Redaktion gelegt worden sein, sodass die Redakteure bestens informiert waren über Wallraffs Aktivitäten. Bewiesen ist das alles aber nicht.

    Schon seit Januar 2010 ist unter www.medienarchiv68.de eine Onlinedokumentation mit über 6000 Artikeln von 1966 bis 1968 einsehbar. Dort können interessierte Leser, Wissenschaftler und Journalisten genau die Berichterstattung zu den Studentenrevolten recherchieren - die Originalseiten der Zeitungen sind aus Authentizitätsgründen komplett ins Internet gestellt worden. Nutzer des Archivs bekommen so auch einen Eindruck davon, wie der jeweilige Artikel damals optisch in der Zeitung aufgemacht war.

    Aus jener bewegten Zeit stammt auch der Satz Axel Springers, er selbst leide am meisten unter den Schlagzeilen der "Bild"-Zeitung. Ein ganz erstaunlicher Satz. Nicht nur, weil er kaum glaubhaft ist, denn Springer hätte ja so manche Schlagzeile verhindern können, sondern auch, weil er eine verheerende Wirkung nach innen gehabt habe, meint der heutige Vorstandsvorsitzende Matthias Döpfner:

    "Er hat sich öffentlich von seinen 'Bild'-Zeitungsredakteuren entsolidarisiert. Diejenigen, die im täglichen Arbeitseinsatz alles geben, werden hier sozusagen vom Verleger öffentlich brüskiert, das war schwierig, das hatte damals auch glaube ich ganz negative Wirkung ins Haus hinein, und ich glaube, dass Axel Springer damals ganz kurzfristig versucht hat, etwas zu korrigieren und zu besänftigen."

    Die Debatte um die 68er und die Berichterstattung der "Bild"-Zeitung hängt dem Verlag bis heute nach. Immer wieder wird die Vermutung geäußert, dass zum Beispiel die Übernahme des ProSiebenSat.1-Konzerns durch Springer deshalb untersagt wurde, weil die Schatten der Vergangenheit das Image des Verlags negativ überlagern würden. Ob das so stimmt, kann man heute kaum noch nachprüfen. Festzuhalten bleibt aber: Das Negativbild eines Verlags, der mit Sex- und Schmuddelgeschichten sein Geld macht, will die Verlagsleitung loswerden.

    Ein wichtiger Einschnitt in der Geschichte der "Bild"-Zeitung war sicher die Berufung von Kai Diekmann im Januar 2001 - Diekmann war damals der jüngste Chefredakteur, den die Zeitung jemals hatte. Und wohl auch der einzige, der Trauzeuge eines Ex-Bundeskanzlers ist - wie auch umgekehrt Helmut Kohl Trauzeuge bei Kai Diekmann war. Immerhin: Unter Diekmanns Ägide ist die Zeitung moderner geworden, hat weniger Schaum vor dem Mund, also noch in den 70ern oder 80ern und war zu Zeiten des 11.September und dem Krieg gegen den Terror in Afghanistan und Irak, durchaus hochpolitisch. Das hat zwar wieder etwas abgenommen, aber dennoch: Damals galt es als schick, die "Bild"-Zeitung zu lesen, auch in intellektuelleren Kreisen, denn diese Verbindung von Politik, Boulevard und Pop galt als durchaus attraktiv, erinnert sich der Medienjournalist und "taz"-Redakteur Steffen Grimberg:

    " Das heißt: Dort war dann in dem Zeitgeist der Berliner Republik wo auch so ein gewisser 'Anything goes' und Politik und Unterhaltung vermenscheln und vermischen sich, da war die 'Bild'-Zeitung so etwas wie ein Leitmedium, man sah an vielen Blättern, dass sich da aneinander abgearbeitet wurde, man versuchte sich in so einem nicht ganz ernst nehmen des Politikbetriebs, dabei aber natürlich Einfluss auszuüben, fast schon zu übertreffen, bis hin nachher zu dieser relativ merkwürdigen Koalition, gemeinsame Politik zu machen, ich erinnere nur an diesen rührenden Versuch, die Rechtschreibreform zu kippen, was ja ein großer Schulterschluss von Springer, "Spiegel" bis hin zur FAZ dann war, aber natürlich nichts genützt hat. Das ist die eine Seite der Medaille, die andere Seite ist: 'Bild' ist in gewisser Weise unpolitischer geworden, es gibt eine klare Zuweisung, die Seite 2, da findet die große Politik statt, dann natürlich noch auf Regionalseiten, aber ansonsten ist die große Politik, wenn sie sich auf dem Titel abspielt, in gewisser Weise fast verschwunden."

    Es sei denn, ein Aufregerthema beherrscht die Republik oder ein Politiker macht mit seinem Privatleben Schlagzeilen - Stichwort Horst Seehofer.

    Die unpolitischen Themen verkaufen sich ohnehin gut - auch wenn manches Mal sich Boulevard und Politik vermischen, wie sich an folgendem Beispiel aus dem Jahr 2003 zeigt: Die "Bild"-Zeitung hatte aufgedeckt, dass der Deutsche Rolf John seit Jahren Sozialhilfe aus Deutschland bezieht. Der Boulevard hatte zu seinem Stoff gefunden, das neue Aufregerthema war da. "Florida-Rolf unter Palmen" und "Abkassieren im Ausland", lauteten einige der Schlagzeilen. Die Redaktion hatte das Thema Gerechtigkeit einmal mehr zum Anliegen erkoren - Tenor sämtlicher Artikel war: Im Ausland machen Faulpelze es sich auf Kosten des deutschen Steuerzahlers gemütlich. Dass es sich insgesamt gerade einmal um knapp 1000 Fälle handelte, störte die "Bild"-Zeitung nicht, ebenso wie die Tatsache, dass deutsche Sozialbehörden aus höchst unterschiedlichen Gründen Sozialhilfe ins Ausland überwiesen.

    Das Thema war gesetzt, andere Medien, wie die Talkshow von Sandra Maischberger in der ARD berichteten ebenso pflichtschuldigst - und die "Bild"-Redaktion war sich sicher, wieder einmal den richtigen Riecher gehabt zu haben.

    Nicht erst seit dem Fall des Florida-Rolf ist es bekannt: "Bild", aber durchaus auch andere Medien mischen sich ein, wollen nicht nur Anstöße geben, sondern auch durch möglichst spektakuläre Geschichten Politik beeinflussen. Im Falle von Florida-Rolf ist das sogleich gelungen. Bereits wenige Wochen später befasste sich das zuständige Bundesministerium mit dem Fall, und einige Monate danach wurde sogar das Sozialhilfegesetz geändert: Fälle wie der von Rolf John sind heute kaum mehr möglich, nur in ganz engen Ausnahmefällen, wenn etwa die eigenen Eltern im Ausland Hilfe brauchen, ist es heute noch denkbar, Sozialhilfe außerhalb deutscher Grenzen zu beziehen. Allerdings bedeutet dies kaum eine Einsparung für den deutschen Steuerzahler, denn die meisten der Sozialhilfeempfänger im Ausland leben in Ländern, deren Preisniveau unter dem von Deutschland liegt, etwa in Tschechien oder Polen. Letztendlich kommt die Rückholung von Sozialhilfeempfängern nach Deutschland meist sogar teurer - dies hatte die "Bild"-Zeitung ihren Lesern jedoch wohl wissend vorenthalten.

    Doch die Frage bleibt: Wer bestimmt eigentlich, was politisch zu geschehen hat und inwieweit lassen sich Politiker von der "Bild" beeinflussen? Welche Gefahren birgt diese Beeinflussung? Wofür steht also der Fall Florida-Rolf?

    "Es steht natürlich erst einmal generell für das Phänomen der Boulevardisierung","

    sagt der Hamburger Kommunikationswissenschaftler Professor Siegfried Weischenberg.

    ""Wenn man irgendwie die Chance hat, ein relativ kompliziertes Thema wie Sozialreform in der Bundesrepublik runterzuziehen auf den konkreten Fall wird das gemacht. Da wird dann zugespitzt, und da wird dann häufig auch der Boden der Sachlichkeit verloren, das war so ein ganz typischer Fall dafür, und es war für meine Begriffe auch ein sehr interessanter Fall, weil die Politik da gleich aufsprang, bis hin zu Überlegungen, da gleich eine Gesetzesänderung für n=einen Fall herbeizuführen. Ich finde, gerade im Fall von Florida-Rolf hat sich diese Mediengesellschaft, oder wie man das auch so schön sagt, Mediendemokratie bis zum gewissen Grad geradezu selbst vorgeführt.

    Ich glaube, das ist ein Kennzeichen unserer Mediengesellschaft, dass Medien einander sehr genau beobachten, was man auch als Selbstreferenz bezeichnen kann. Das läuft letztendlich auf Rudeljournalismus hinaus. Die 'Bild'-Zeitung ist sicherlich ein sehr starker ‚Agendasetter' im deutschen Journalismus."

    Und daran hat sich auch, nach fast zwölf Jahren "Bild" unter der Ägide von Kai Diekmann nicht viel verändert, meint auch der ehemalige "Bild"-Blogger und heutige "Spiegel"-Autor Stefan Niggemeier:

    "Die 'Bild' verliert ja ziemlich dramatisch an Auflage und hat aber immer noch eine Größe und eine Bedeutung, die gewaltig ist. Und ich glaube, es ist immer noch so, dass in vielen Redaktionen, auf jeden Fall in allen, was irgendwie bunt ist, im Boulevard, aber auch in anderen, dass Journalisten die Zeitung morgens aufschlagen und sagen: Warum haben wir das nicht, das steht in 'Bild', da müssen wir auch was zu machen, ich glaube, der Einfluss ist immer noch sehr groß, und 'Bild' versteht sich selber ja auch als Leitmedium, ich glaube, da ist viel dran, das ist so die eine Stelle, wo ich mit Kai Diekmann einer Meinung bin, dass 'Bild' wirklich den Charakter eines Leitmediums in Deutschland hat."

    Und immer wieder fährt das "Leitmedium" - je nach Betrachtung mal mit "D" oder mit "T" geschrieben, Kampagnen: Für eine schnelle Wiedervereinigung 1990, gegen Rot-Grün in den Jahren 98 bis 2005, für Karl-Theodor zu Guttenberg, gegen Ex-Bundespräsident Wulff - die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Festzustellen ist dabei auch: Längst nicht jede Kampagne der "Bild" führt zum gewünschten Ergebnis: Guttenberg musste zurücktreten, trotz massiver Unterstützung der "Bild", und auch die Partei der GRÜNEN, deren Politiker oftmals zur Zielscheibe von Spott und Kritik werden, ist nach wie vor fest verankert in der bundesdeutschen Parteienlandschaft.

    Doch wer legitimiert die Macht der Zeitung eigentlich und welche Wirkung haben die Kampagnen eigentlich? Sind mehrere Artikel zum selben Thema gleich eine Kampagne? Es gibt sie in jedem Fall noch immer - aktuell jene gegen die "Pleite-Griechen", so werden sie stets in der "Bild"-Zeitung genannt, und zwar in fast jedem Artikel. "Bild"-Beobachter Wolfgang Storz:

    "'Bild' hat ja über Wochen und Monate berichtet, in Griechenland würden Luxusrenten bezahlt werden, die Durchschnittsrente in Griechenland beträgt um die 800 Euro, sie gehen nicht früher in Rente, sie gehen faktisch zeitgleich wie die Deutschen in Rente, aber dieses ist über Wochen behauptet worden, das hat man übernommen, das ist das Gefährliche an solchen Kampagnen, das andere Medien, andere politische Akteure es sehr schwer haben, überhaupt diese Informationen, die von 'Bild' verbreitet worden sind, fälschlicherweise zu korrigieren."

    "Absolut unverantwortlich" nannte die Grünen-Politikerin Claudia Roth diese Kampagne - und in der Tat wirken die Artikel aus heutiger Sicht geradezu fahrlässig. Denn niemand wusste zur damaligen Zeit, was aus der Griechenlandkrise werden würde - und so ist es noch immer, morgen wird in Griechenland erneut gewählt - aber die "Bild"-Zeitung insinuierte, am besten wäre es die Griechen sofort aus der Währungsunion hinauszuwerfen - oder zumindest ihnen keinen einzigen EUR mehr zu überweisen. Kai Diekmann verteidigt sich gegen den Vorwurf der Fahrlässigkeit in der Griechenland-Berichterstattung:

    "Wir haben glaube ich seit Anfang 2010 sehr konsequent über die Probleme in Griechenland geschrieben, warum? Weil wir an den EUR glauben, weil wir der Meinung sind, dass der Euro weit mehr ist, als nur eine Währung sondern ein politisches Projekt für den Zusammenhalt und für den Frieden in Europa. Und weil wir der festen Überzeugung gewesen sind von Anfang an, dass die Rezepte, die die Politik angewandt hat, um diese Krise zu lösen, die falschen gewesen sind. Und wie wir heute, zweieinhalb Jahre später feststellen müssen, ist nichts besser geworden, es ist alles schlimmer geworden. Und alles von dem, was 'Bild' vorausgesagt hat, ist eingetroffen."

    So kann man es natürlich auch sehen. Immerhin: Auch der "Focus" und der "Spiegel" haben in der Griechenlandkrise drastische Bilder und Schlagzeilen benutzt.

    Wie sehr das Blatt noch immer die Gemüter erregen kann, zeigt auch die vor einigen Wochen entflammte Debatte um den Henri-Nannen-Preis. Die Jury hatte die Süddeutsche Zeitung und zwei Reporter der "Bild"-Zeitung gleichermaßen für die beste investigative Leistung ausgezeichnet, im Fall der "Bild" ging es um Ex-Bundespräsident Wulff und seinen Hauskredit. Diese Auszeichnung war ein Unding, wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen Zeitung noch immer findet:

    "Ich halte es für einen Kulturbruch, dass eine Zeitung wie die 'Bild'-Zeitung ausgezeichnet wird, mir geht es gar nicht nur um die Wulff-Recherche, sondern mir geht es da tatsächlich um die 'Bild'-Zeitung, ein Medium, das demoralisiert in größtem Maßstab zum billigsten Preis, das manchmal eine Art journalistische Schutzgelderpressung macht, jedenfalls so sagen es Opfer, auch nötigt, dieses Blatt auszuzeichnen und gleichzeitig den britischen Journalisten Davies dafür auszuzeichnen, dass er über Murdoch Veröffentlichungen gemacht hat und über Maßnahmen im Boulevard in Großbritannien, der anders ist als bei uns in Deutschland, das habe ich für schizophren gehalten. Es gab für uns gar keine Alternative dazu als die Aussage: Den Preis nehmen wir dann nicht an."

    Kai Diekmann ficht die Kritik nicht an, er sieht die Leyendeckers Ablehnung nicht gegen die Arbeit der "Bild"-Redaktion gerichtet:

    "Ich habe die Kritik von Leyendecker vor allem als Kritik an der Jury empfunden, die nicht bereit war, sich klar zu entscheiden zwischen zwei Preisträgern, sondern die versucht hat, dort eine politische Entscheidung zu finden und sich eben zweimal für einen ersten Platz zu entscheiden, das hat ihm nicht gefallen, er hat ja bei der Verleihung auch ausdrücklich gesagt, dass sich das nicht gegen die Kollegen von 'Bild' richtet."

    Doch wohin geht es nun mit der "Bild"-Zeitung? Wird sie weiterhin so erfolgreich sein? Zwar lesen noch immer zwölf Millionen Menschen die Zeitung - doch beim Einzelverkauf geht es steil bergab - 200.000 Exemplare weniger alleine im letzten Jahr. Dafür laufen die Anzeigengeschäfte prächtig, und auch die Website bild.de ist äußerst erfolgreich und auf Platz eins der Nachrichtenseiten in Deutschland. Von daher wird uns die "Bild"-Zeitung noch lange erhalten bleiben, meint "Bild"-Kritiker Stefan Niggemeier, im Guten wie im Bösen:

    "Ja, ich glaube die Bedeutung der 'Bild'-Zeitung wird abnehmen, das heißt aber natürlich nicht, dass sie nicht noch sehr lange sehr hoch sein wird. Und das hat sie natürlich auch im Kleineren, also das ist ja nicht mehr nur so die ganz große Politik, man sich das jetzt wieder angucken bei so Fällen wie einem verurteilten Sexualstraftäter, der 25 Jahre im Knast saß, der jetzt entlassen wurde, weil das Gesetz zur Sicherungsverwahrung gekippt wurde, wo immer der jetzt hinkommt, ist der 'Bild'-Reporter schon da und macht eine Geschichte: Deutschlands schlimmster Sexualstraftäter, wer schützt uns vor diesem Mann? Und macht zum Beispiel diesen Leuten das Leben zur Hölle und gibt auch Munition dem Mob, der sich da formiert und sagt: Wir wollen diese Leute aus unserem Ort raustreiben. Diese Art von Macht und von Folgen einer Verantwortungslosigkeit der 'Bild'-Zeitung, ich glaube das wird uns noch lange erhalten bleiben. Das ist eine sehr reale Folge von dem, was die 'Bild'-Zeitung macht."
    Die Bild-Zeitung freut sich...
    Die "Bild"-Zeitung ist stolz auf ihre Überschriften. (AP)
    Der Schriftsteller Günter Wallraff
    Der "Bild"-Kritiker Günter Wallraff (AP)
    Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung
    Kai Diekmann, Chefredakteur der "Bild"-Zeitung (AP)