Freitag, 19. April 2024

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Das Lexikon der Fälschungen

Immanuel Kant wußte es ganz genau: "Die größte Verletzung der Pflicht des Menschen gegen sich selbst, bloß als moralisches Wesen betrachtet, ist das Widerspiel der Wahrhaftigkeit: die Lüge. Die Lüge ist Wegwerfung und gleichsam Vernichtung seiner Menschenwürde.” Die menschliche Wirklichkeit sieht freilich anders aus, als Kants moralischer Imperativ fordert: Alle acht Minuten, so eine amerikanische Studie, lügt der gewöhnliche Sterbliche im Durchschnitt - sofern diese Studie denn wirklich die Wahrheit sagt.

Peter Köhler | 18.05.1999
    In Alltag und Beruf, in Kunst und Wissenschaft, in Politik und Wirtschaft wird geschwindelt und getäuscht. Vom geschönten Lebenslauf bei der Bewerbung über getürkte Laborergebnisse in Medizin und Biologie bis zu Meisterwerken der Malerei, vom retuschierten Foto in Zeitung und Internet über nachgemachte Markenartikel bis zum Ehrenwort des Politikers: Es wird getrickst und gelogen. In seinem "Lexikon der Fälschungen” zieht Werner Fuld das Fazit: "Es gibt in unserer Kulturgeschichte vermutlich mehr Fälschungen als überlieferte Originale.”

    Die "Freie und Hansestadt” Hamburg zum Beispiel ist keine - den Freibrief Kaiser Barbarossas haben 70 Jahre nach dem Tod des Kaisers die Hamburger Kaufleute selber aufgesetzt. Die Stellung des Papstes als Oberhaupt der Kirche und die Existenz des Kirchenstaats beruhen auf einer Fälschung, der "Konstantinischen Schenkung” aus dem achten Jahrhundert. Das mittelalterliche "ius primae noctis” hat es nie gegeben; nur eine Ausgeburt der Phantasie ist der Zug der Lemminge in den Tod. Die Popgruppe Milli Vanilli war ein Fake; und nicht Alexandre Dumas der Ältere, sondern seine Lohnschreiber, von denen er zeitweise über 70 beschäftigte, haben die Bestseller "Der Graf von Monte Christo” und "Die drei Musketiere” geschrieben.

    Werner Fulds "Lexikon der Fälschungen” präsentiert Fälle von der Antike bis zur Gegenwart, stellt Klassiker und Kurioses vor wie die 1860 von einem "L. Dubary” herausgegebenen "Geheimen Memoiren Louis Napoleon Bonapartes”, die dummerweise in "Lubarsch’s Selbstverlags-Expedition” erschienen; er dokumentiert Gefährliches wie die antisemitischen "Protokolle der Weisen von Zion” und Harmloses wie die angeblichen Fotos vom Ungeheuer Nessie.

    Vollständig kann ein Lexikon nicht sein. Anastasia, die angebliche Zarentochter; der falsche "wahre Heino” alias Norbert Hähnel, ein Held der Neuen Deutschen Welle der 80er Jahre; der Hochstapler Gert Postel, der als falscher Arzt in Krankenhäusern arbeitete; Michail Scholochow, dessen Monumentalroman "Der stille Don” größtenteils vom Kosaken-Schriftsteller Fjodor Krukow stammt; der legendäre russische Universalerfinder in sowjetischen Lexika, "Petrow”: Das sind einige Stichworte, die im "Lexikon der Fälschungen” fehlen - ein im übrigen informatives, unterhaltsames Werk.

    Täuschung, List, Mimikry sind in der Natur unentbehrlich im Überlebenskampf; sie sind es wohl auch für den Menschen. Er fälscht und betrügt, oft aus beruflichen, sozialen, ökonomischen und weltanschaulichen und manchmal aus den besten Absichten heraus, wie - auch ein Name, der bei Werner Fuld fehlt - Erasmus von Rotterdam, der eine Schrift des antiken Kirchenvaters Cyprian fingierte, um seine eigene, menschenfreundliche Auffassung des Christentums zu befördern.

    Fälschen ist auch ein Akt der Freiheit. Es befriedigt das menschliche Bedürfnis, sich über die Welt der bloßen Fakten mithilfe der Phantasie zu erheben. So schreiben sonst so tatsachenorientierte Wissenschaftler schon seit 1955 Parodien für das alle zwei Monate erscheinende "Journal of Irreproducible Results”, das "Magazin der unwiederholbaren Experimente” - und Werner Fuld selbst macht sich den Spaß, ausgerechnet im "Lexikon der Fälschungen” selber eine unterzubringen und schreibt die Biographie des von Wolfgang Hildesheimer erfundenen Kunstkritikers Andrew Marbot fort.

    Kommt hinzu: Was wahr ist oder falsch, kann nur der Mensch selber feststellen, und der kann irren. Die Grenze zwischen Wahrheit und Lüge ist jedenfalls unsicher. Der keltische Barde Ossian, der die literarische Welt im späten 18. Jahrhundert begeisterte, war nur eine Erfindung des Schotten James Macpherson - aber fußen, wie Werner Fuld zu bedenken gibt, die unter Ossians Namen veröffentlichen Lieder nicht auf echten Überlieferungen?

    Ein weiteres Beispiel dafür, wie schwer die Unterscheidung ist: Die Bibel, das Wort Gottes, ist es nicht vielleicht - eine kühne Fälschung, vorgenommen im wahrhaft guten Glauben?