Donnerstag, 18. April 2024

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Das Loch im Waldviertel

Das Waldviertel im Nordosten Österreichs ist eine Region von rauer Schönheit. Der Kältepol Österreichs, hügelauf und hügelab Äcker und Nadelbaumwälder. Dazwischen bizarre Steinformationen und mittendrin ein Loch: der Truppenübungsplatz Allentsteig, einer der größten militärischen Übungsplätze Westeuropas. Auf den "TÜPL A" werden aus ganz Österreich Truppen geschickt, um sich in ihrer Kriegskunst zu üben.

Reportagen von Antonia Kreppel. Am Mikrofon: Katrin Michaelsen | 10.01.2009
    "Lebensgefahr!" steht an dem Zaun des Truppenübungsplatzes. Die militärische Sperrzone mitten im Wald ist fast so groß ist wie das Territorium von Liechtenstein. Die Zone darf nur mit Genehmigung des österreischischen Bundesheeres betreten werden. "Warum ausgerechnet hier?" fragten sich die Bewohner des Waldviertels, als vor 70 Jahren der größte Schießplatz des Dritten Reichs entstand. Danach wurden die meisten von ihnen vertrieben, ihre Dörfer zerstört. Den Truppenübungsplatz gibt es noch immer. Für die einen ist er ein wichtiger Arbeitgeber in Niederösterreich, für die anderen die "größte Schande der Republik".


    Eine Sendung mit Reportagen von Antonia Kreppel
    Am Mikrofon: Katrin Michaelsen
    Musikauswahl: Babette Michel
    Redaktion: Ursula Welter

    Die Geschichte des Waldviertels in Niederösterreich hat ihre dunklen Perioden. Die tschechische Grenze im Norden, die Donau im Süden. In jedem Städtchen und auf fast jedem Hügel steht ein Schloss, eine Burg oder eine Ruine. Hügelauf und Hügelab Äcker und Nadelbaumwälder. Dazwischen bizarre Steinformationen und mittendrin ein Loch: der Truppenübungsplatz Allentsteig. Einer der größten militärischen Übungsplätze Westeuropas. Ein militärischer Sperrbezirk mitten im Wald, ein rot schraffierter Fleck auf der Landkarte, ein Gebiet, ungefähr so groß wie das Territorium von Liechtenstein. Heute trainiert dort das österreichische Bundesheer, früher waren es Soldaten der Deutschen Wehrmacht. Zwischen 1938 und 1945. Wo Krieg gespielt wird, der Ernstfall geprobt wird, haben Zivilisten nichts verloren. Und so ist die Geschichte des Waldviertels auch mit den Schicksalen von etwa 7.000 Männern, Frauen und Kindern verbunden. 42 Dörfer mussten geräumt werden, weil die Nationalsozialisten freie Bahn für ihre Schießübungen brauchten.

    Äpfelgeschwendt, Brugg, Dietreichs, Döllersheim, Edelbach, Eichhorn, Felsenberg, Flachau, Germanns, Gross-Poppen, Heinreichs, Klein Haselbach, Klein Kainraths, Klein Motten, Kühbach, Loibenreith, Mannshalm, Mestreichs, Neunzen, Nieder Plöttbach, Nondorf, Oberndorf, Ober-Plöttbach, Ottenstein, Perweis, Pötzles, Rausmanns, Reichhalms, Reigers, Söllits, Schlagles, Schwarzenreith, Steinbach, Steinberg, Strones, Thaures, Waldreichs, Wetzlas, Wildings, Wurmbach, Zierings.

    Warum ausgerechnet hier? Das fragen sich viele Waldviertler, nicht nur heute, auch vor 70 Jahren. Wenn es keine eindeutigen Antworten gibt, dann blüht die Legendenbildung. Unter anderem auch die, Hitler, der aus dem Waldviertel stammt, habe mit dem Truppenübungsplatz die Heimat seiner Ahnen ausradieren wollen. Denn es ging das Gerücht um, er stamme von einem nichtarischen Großvater ab.

    Sehr viel handfester als die alten Gerüchte sind die guten geographischen Gegebenheiten: wenig Landwirtschaft, keine Industrie und ein panzergängiges Gelände. Widerstand in der Bevölkerung wurde kaum erwartet, denn die Waldviertler galten damals nicht gerade als Antifaschisten. Die Gemeinde Groß-Poppen hatte schon im September 1932 Hitler das Ehrenbürgerrecht verliehen. Kein Einzelfall im Waldviertel. Heute wird in Groß-Poppen nur noch geschossen.



    I hab im Prinzip nix damit zu tun
    Artillerieschießen und Gedenken
    Kalter Wind fegt über das Brachland; ein Teil des Panzerartilleriebataillons 3 übt sich im Scharfschießen. Es regnet; das trübe Grau des Himmels geht scheinbar übergangslos in die braune Grasfläche des Geländes über. Bataillonmajor Gaugusch, steht im Schlamm und starrt aufmerksam in die Ferne; ein strammer Mann, trotz des unwirtlichen Wetters gut aufgelegt.

    " Es sind Artilleriegeschütze eingesetzt, die stehen am Rand des TÜPLs und schießen hier herein ins Zentrum des Truppenübungsplatz, mit Artilleriekanonen 10,5 cm. Wir können es hier sehen, wir befinden uns hier in einer Beobachtungsstellung, von hier aus wird dieses Feuer abgerufen und auch geleitet, beobachtet und auch dementsprechend korrigiert. "

    Die Feuerleitstelle Paula 5 ist mit einigen Panzern bestückt; ihr Gefechtsraum fungiert als Feuerleitstelle für das Indirekte Schießen, d.h. heißt das Überschießen eines Geländes in ein Zielgebiet. Der Generator läuft auf Hochtouren. Ein Soldat windet sich aus der Panzerluke und streckt seine Glieder. Für ein neutrales Land wie Österreich, das noch dazu seine Streitkräfte abbaut, ist der Truppenübungsplatz mit seinen 157 Quadratkilometern unverhältnismäßig groß.

    " Die Größe des Übungsplatzes begründet sich einfach durch die Waffensystem: Wenn Artillerie schießt , dann sind hier sehr große Sicherheitsbereiche notwendig.
    D.h. da sind splittergefährdete Räume und daher muss ein Übungsplatz eine gewisse Dimension haben. Es wird da nur hier geschossen, aber der Sicherheitsbereich ist rundherum einige Kilometer wo Ruhe ist und das wirkt sich besonders positiv auf das Wild aus. "

    Volltreffer. Eine Staubwolke steigt über dem Gelände auf, kurz danach eine zweite. Hinter dem sich ausbreitenden Staubgewölk lagen einst Schloss und Kirche Gross-Poppen; ruhen die Toten auf dem zerstörten Friedhof. Major Gaugusch beobachtet den Feuerschlag durch das Fernrohr. Er stammt wie viele Bundesheerangehörige aus dem Waldviertel.

    " Damit hab ich mich eigentlich nicht beschäftigt, für uns ist es eine Schießbahn die zugewiesen ist, die genehmigt ist. Wir führen hier unseren militärischen Auftrag durch und nutzen diese Fläche. Mit der Vergangenheit und mit der Geschichte müsste man dann auch die Frage Richtung Truppenübungsplatz stellen, und überhaupt Richtung der oberen Führung. Ich weiß nur, dass sehr viele Ortschaften hier existiert haben. Da hat's überall Friedhöfe gegeben, das ist mir bekannt. Es ist im Gelände de facto nichts mehr einzusehen, also das ist auch nicht mehr erkennbar, es gibt also auch keine Ruinen mehr. Also es ist nichts mehr zu sehen. "

    Aus dem Nebel tauchen mehrere Panzerhaubitzen-Fahrzeuge auf; in der offenen Luke stehen Uniformierte mit schwarzen Masken vor dem Gesicht und Kehlkopfmikrophonen; Schlamm bespritzt. Österreichische Soldaten spielen Krieg; üben die militärische Verteidigung der Heimat. Scharf zu schießen ist Pflicht eines jeden Rekruten.

    Auch Kranzwache zählt zu den Aufgaben eines Rekruten; bspw. bei der alljährlichen Gedenkfeier für die Ausgesiedelten an Allerseelen in der Döllersheimer Kirche; 1975 ist sie stellvertretend für die zerfallende Sakrallandschaft des Truppenübungsplatzes renoviert worden.

    Rekrut Martin Reif steht bei der offiziellen Feierlichkeit als Kranzwächter mit geschultertem Gewehr in Hab-Acht-Stellung.

    " Das Ganze habt euch, das Ganze und Kranzniederleger, habt euch! "

    Lichter flackern auf den Gräbern. Was weiß der nette junge Mann über eine mögliche Beschießung der Kirchenruinen durch das österreichische Bundesheer? Sorgfältig legt er das Gewehr beiseite.

    " I wüsste net, dass es so was geben hat oder dass wir daran beteiligt wären. . Ich kann's mir auch net vorstellen, dass des Bundesheer so was macht, weil umsonst dadet wir da heute net des Gedenken feiern. Es kann natürlich immer was passieren, ob's Absicht is oder net, des kann i jetzt net sagen, weil i bin nur Rekrut, hab im Prinzip nix damit zu tun und ja, ich kann's mir persönlich nicht vorstellen. "

    Martin Reif stammt aus Zwettl, das unmittelbar an den Truppenübungsplatz grenzt. Dessen Geschichte im Detail ist ihm unbekannt.

    " Wir feiern eigentlich dass der TÜPL auf dem Grund hier gebaut worden ist, also übernommen wurde, und das Dorf halt umgesiedelt wurde. Des is des was wir wissen. I woas, dass es ein paar Dörfer gegeben hat, die umgesiedelt wordn sind, aber wie die jetzt heißen, wo die jetzt san, des woas i net. Des gehört a glaub i net dazu, zu einer Grundausbildung, dass man da irgendwas über den Truppenübungsplatz lernt. "


    Es gibt nicht mehr viele Zeitzeugen, die sich erinnern können. Der Pfarrer und Heimatforscher Johannes Müllner ist so etwas wie das Gedächtnis der Region. Er besitzt Fotografien und hat Zeugenaussagen gesammelt. Minutiös hat er den Verfall von 42 Dörfern über Jahrzehnte dokumentiert, in seinem Buch "Die entweihte Heimat". Johannes Müllner interessieren vor allem die gotischen Kirchenruinen, die Kapellen, die zerstörten Friedhöfe und Bildstöckchen. Sie waren nach Abzug der deutschen Wehrmacht und der Sowjets im Jahr 1955 nur leicht beschädigt. Das kann Johannes Müllner beweisen. Er kennt das Terrain gut, seine Gemeinde Roggendorf liegt ganz in der Nähe des Truppenübungsplatzes.


    Es soll halt nix mehr an früher erinnern
    Der streitbare Priester Johannes Müllner und sein Kampf gegen den Zerfall der Sakrallandschaft
    Pfarrer Johannes Müllner hält in seiner kleinen Kirchengemeinde in Roggendorf die Abendmesse. Kalt ist es in der schmucken Landkirche. Nur wenige Gläubige sind gekommen; sie füllen gerade zwei Kirchenbänke.

    Das Kerzenlicht spiegelt sich in den großen Brillengläsern des Landpfarrers; öfter muss er sich niedersetzen. Niemand würde vermuten, dass der sanftmütig wirkende Priester seit Jahrzehnten das österreichische Bundesheer gehörig auf Trab hält. In seiner Predigt erzählt Pfarrer Müllner der treuen kleinen Schar von der Revolution Jesu.

    " Nicht mit Gewalt und Terror hat der diese Welt verändert, sondern durch die Kraft seiner Liebe. "


    Im gegenüberliegenden Pfarrhof schlägt der Geistliche harschere Töne an. Der nahe gelegene Truppenübungsplatz Allensteig ist ihm ein Dorn im Auge; konkret der Umgang des österreichischen Bundesheeres mit der entsiedelten Region. Dass das Bundesheer mit Schieß- und Sprengübungen der sechshundert Jahre alten Kulturlandschaft den Todesstoss versetzt hat, davon ist er überzeugt. Pfarrer Müllner spitzt seinen Mund, als wolle er pfeifen.

    " I wollt die Leut a bissel aufklärn, was geschehn is, und des nehmen's einem Priester eher ab als sonst wem. Ich bin im Laufe meines Lebens von vielen Vorgesetzten belogen worden und die Uniformierten sind Weltmeister im Lügen. Aber man muss es ihnen verzeihen, die kriegen des gar nicht mit. Da ist eben eine Linie, und nach derer rennts halt. Die Kirchen die san schon von der Wehrmacht zerschossen, lauter solche Lügen. "

    Energisch schlägt er in seinem gewichtigen Text- und Bildband das Kapitel "Ortschaft Gross-Poppen" auf.

    " Der ganze Schutt liegt da auf den Gräbern; 4308 Menschen san da begraben, deren Namen man kennt. Fürs Bundesheer uninteressant. Was sie leugnen: Sie schießen hin. "

    Eigenhändig hat der streitbare Priester auf dem ehemaligen Friedhof von Gross-Poppen - Hauptzielgebiet einer großen Panzerschießbahn - Grabsteine freigelegt.

    Pfarrer Müllner , Jahrgang 1934, ist als ältestes von sieben Bauernkindern im kleinen Dörfchen Unterwindhag aufgewachsen; ganz in der Nähe des damaligen Schießplatzes der Deutschen Wehrmacht. Sein Vater war ein erklärter Gegner des Nationalsozialismus - in einer Gegend, die Hitler besonders treu ergeben war; stammte doch dessen Großmutter aus dem Dorf Strones im "Döllersheimer Ländchen", dem Areal des jetzigen Truppenübungsplatz.

    Pfarrer Müllner sucht seinen Gehstock; schon lange war er nicht mehr im Sperrgebiet; er ist neugierig, wieweit der Zerfall der Kirchenruinen fortgeschritten ist.

    Mitten durch das Militärgelände führt eine öffentliche Landstrasse nach Allentsteig, Stützpunkt des österreichischen Bundesheers; bei Schießübungen wird sie gesperrt. Steppenartige Grasflächen und leuchtend gelbe Birken wechseln mit dunklem Nadelgehölz. "Lebensgefahr! Betreten und Befahren, Fotografieren, Filmen und Zeichnen gesetzlich verboten und strafbar!", steht auf dem Sperrschild mit dem Doppeladler am Straßenrand.

    Den Weg zur Kirchenruine von Oberndorf versperrt ein Schlagbaum. Pfarrer Müllner:

    " Es sollt nix mehr an früher erinnern, und da störn halt die Kirchen zum Beispiel in Oberndorf, die stört sie sehr. Da hat mir der Wagnsonner, mein Studienkollege gesagt, du, am liebsten wär's mir, wenn die Kirche in Oberndorf a schon so eine Schuttgrube wär wie Gross-Poppen. "

    Pfarrer Müllner presst die Aktentasche mit seinen Aufzeichnungen fest an sich; nach Edelbach, dessen sechzig Häuser erst 1952 abgetragen wurden, würde er auch im Schlaf finden.

    " Da ist es, so, da tun wir zuwi biegen links, ist schon verbotene Pfade jetzt, wir fahrn im Sperrgebiet... "

    Hier durfte er für die Aussiedler eine Heilige Messe lesen; fünfzig Jahre nach ihrer Vertreibung. Das war 1988 erstmals möglich. Damals stand noch eine beachtliche Kirchenruine.

    " Wir sind hier in Edelbach, wo Kastanienbäume stehen. Im Sommer 2002 wurde die Kirchenruine in Edelbach, die zu retten gewesen wäre, des hat mir vorerst ein Oberst gesagt, wurde mit Raupen die ganze Kirchen planiert. "

    Pfarrer Müllner ist tief bewegt. Ein Schutthaufen mit großen und kleinen Steinquadern ist alles, was von der Kirche Edelbach übrig geblieben ist; ihn zu betreten ist verboten; Einsturzgefahr! "Es verwachst ja so fürchterlich", klagt Hochwürden und verfällt in tiefes Schweigen.



    Die kleine Stadt Zwettl. Hier, an der Westgrenze des Truppenübungsplatzes, hat der Schriftsteller Peter Härtling als 12-jähriger Junge die Nachkriegswirren erlebt: Den Einmarsch der russischen Armee, die Gefangennahme des Vaters, der im Juni 1945 in russischer Kriegsgefangenschaft starb. Der Sohn erfuhr von dem Tod des Vaters erst ein Jahr später und lange Zeit wusste Peter Härtling nicht, wo sein Vater begraben liegt. Er macht sich schließlich auf die Suche, Anfang der 70er Jahre. Es sind Nachforschungen mit Hindernissen. Nicht nur bürokratischen. Seine Erlebnisse hat Peter Härtling aufgeschrieben. Das Buch "Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung" ist im dtv-Verlag erschienen.

    30.000 Soldaten aus allen österreichischen Bundesländern trainieren auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig Jahr für Jahr ihre Kampfkunst. Geprobt wird nicht der Verteidigungsfall wie im Kalten Krieg, durchgespielt werden Szenarien, in denen sich Soldaten auf Einsätze in ausländischen Krisengebieten vorbereiten können. In Allentsteig können Soldaten das einüben, was sich die österreichische Regierung als Kern einer Reform ihrer Streitkräfte überlegt hat: Das Bundesheer verkleinern und dafür verstärkt im Ausland einsetzen. Momentan jedoch ist das Zukunftsmusik angesichts leerer Staatskassen.

    Auch im Waldviertel, auf dem Truppenübungsplatz, wird über die Zukunft nachgedacht. Gegenwärtig zerreißen Panzerkanonen, Maschinengewehre und Granaten die Stille. An durchschnittlich 220 Tagen im Jahr wird geschossen, auf mehreren Schießanlagen und meist gleichzeitig.



    Der Truppenübungsplatzkommandant
    Herr über Panzerschießbahnen, Birkhühner und "Mulagenkoffer"
    Gross-Poppen, bzw. der Schuttberg, der davon übrig ist, liegt im Hauptzielgebiet der großen Panzerschießbahn Groß-Poppen-Rausmanns. Blindgänger sind im Erdreich verborgen. Truppenübungsplatzkommandant Leopold Cermak, groß und stämmig, geht mit seinen schweren Militärstiefeln vorsichtig den Feldweg entlang.

    " So schaut des aus, was durch die Gegend fliegt wenn geschossen wird, scharf. Aufpassen! Nicht schneiden. Ein Splitter von einer Granate, liegt überall hier. "

    Der Brigadier schüttelt seinen kahl geschorenen Kopf mit dem markanten Schnurrbart; ärgerlich begutachtet er einen eingestürzten Kellereingang, der mit Holzbalken verriegelt ist. Das Kellergewölbe der Familie Schiller von Haus Nr. 47 in Gross-Poppen diente in den achtziger Jahren als Toten- und Aussiedlergedenkstätte - stellvertretend für den hinten im Gelände unter Schutt und Wildwuchs verborgenen Friedhof mit seinen 7000 Toten. Laut Augenzeugenberichten wurden Kirche und Schloss 1961 erstmals von österreichischen Soldaten beschossen. Auf der Tribüne sollen Ehrengäste applaudiert haben. Der Truppenübungsplatzkommandant zuckt abwehrend mit den Schultern.

    " 1961 war ich 9 Jahre alt, da war ich nicht dabei, ich kann mir nicht vorstellen, dass hier auf ein Gebäude geschossen worden ist. Vor siebzig Jahren war des vielleicht noch ein Landstrich der besiedelt war. Aber mehr schon nicht. In der Zeit des Bundesheeres wird auf ehemalige Kirchen nicht geschossen und wenn Sie schauen, weit und breit keine Kirche. "

    Dass der Heimatforscher und Pfarrer Johannes Müllner die Schießübungen als Störung der Totenruhe geißelt, kann Leopold Cermak nicht verstehen; die Bitte des Priesters um Errichtung eines Friedhofkreuzes hat das österreichische Bundesheer bis heute nicht erfüllt.

    " Es gibt keinen Grund dafür, dieser Bitte stattzugeben, weil er ein Lügner ist, schlicht und einfach ein Lügner. Das kann ich auch beweisen. Ich kenn keinen einzigen Grabstein und ich geh auch dort nicht hinein weil es dort viel zu gefährlich ist. Es ist kein Friedhof, es ist keine Kirche, es ist ein militärischer Übungsplatz der 1938 profaniert wurde; 1938. Und daher gibt's weder Friedhöfe noch Kirchen noch irgend sonstiges Geweihtes. Fahrn wir weiter... "

    Ärgerlich drängt Leopold Cermak zum bereitstehenden Geländeauto. Übrigens: Die Diözese St. Pölten hat die kirchenrechtlichen Entweihung der sakralen Gebäude auf dem Truppenübungsplatz bis heute weder offiziell bestätigt noch dementiert.

    Zielsicher dirigiert Brigadier Cermak seinen Rekruten am Steuer des Geländeautos über furchige Feldwege und steinige Pisten. Hirsche kreuzen in aller Ruhe die Panzerstrasse. Ein Seeadler zieht ruhig seine Kreise. Ein kurioses Faktum: Zwei Drittel der militärischen Übungsstätte sind Natura 2000 Schutzgebiet. Cermak:

    " So wir fahrn jetzt in die Ortschaft Steinbach, die von uns zu einer Ortskampftraining-Anlage ausgebaut wird. "

    Steinbach ist ein BIWAK-Dorf; der Truppenübungsplatz Allentsteig soll zu einem Internationalen Sicherheitszentrum ausgebaut werden, erklärt stolz der Truppenübungsplatzkommandant. 120 Millionen EURO hat der ehrgeizige niederösterreichische Landeshauptmann dafür in den nächsten Jahren in Aussicht gestellt; 300 neue Arbeitsplätze sollen in Folge geschaffen werden. Laut parlamentarischer Anfrage an den österreichischen Verteidigungsminister Darabosch - der Bund ist Grundstückseigentümer - ist allerdings kein solches Zentrum geplant.

    Für Brigadier Cermak steht fest: Rund um Steinbach wird ein militärisches Disneyland entstehen. Bewegung kommt in seine massige Statur; vor seinen Augen läuft ein Filmstreifen ab.

    " Dazu ist noch notwendig, dass man verschiedene Zentren wie ein Kommunalzentrum, Bahnhof, Kindergarten, Schule dazu baut, 38 Objekte und eine eigenst gebaute Ruinenlandschaft, weil die gibt's da hier nicht. Dieses "Peace-Support-Operation-Szenario" soll hier geübt werden; friedenserhaltende Einsätze wie sie die Soldaten zurzeit durchführen. Es wird hier so genannte "roleplayer" geben, der einen Kosovaren mimt oder einen Afghanen oder einen aus dem Tschad; auf diese Dinge müssen die Soldaten vorbereitet werden. Die werden auch geschminkt und auch der Mulagenkoffer wird dann vermehrt zum Einsatz kommen, wie eben eine Ortschaft nach einem Sprengstoffanschlag ausschaut, das wird man hier dann üben können. "


    Hauptdarsteller: Soldaten des österreichischen Bundesheeres; Kulissenbau: Soldaten des österreichischen Bundesheeres; Maske und Requisite: Sanitäter des österreichischen Bundesheeres; Filmmusik: afghanische Lieder aus dem Ghettoblaster; Regisseur: Der Truppenübungsplatzkommandant. Nur, wie passt das Birkhuhn ins Bild?


    Für die einen ist der Truppenübungsplatz Allentsteig ein wichtiger Arbeitgeber in der Region, für die anderen ist er die größte Schande der Republik. Auch von Hitlers lästigem Erbe ist die Rede. Ein Blick zurück: Das Jahr 1938 und der Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland. Hitlers Offiziere machen sich noch im selben Jahr auf die Suche nach einem Ort, an dem sie den Krieg trainieren können. Und sie werden fündig im Waldviertel. Die Nazis sorgen dafür, dass 7000 Männer, Frauen und Kinder ihre Heimat verlassen müssen, oft binnen weniger Monate. Ihre Häuser, ihre landwirtschaftlichen Nutzflächen gehen in den Besitz der Wehrmacht über. Nur die Toten dürfen bleiben.

    " O Herrgott , oh Herrgott, ich hätt a Gebitt,
    all's kannst mer nehma nur des Waldviertel nit.
    Denn im Waldviertel drin herrscht a lustiger Sinn,
    und kloan is des Landl aber guat is a drin "

    Ein, zweimal im Jahr darf der 87-jährige Aussiedler Franz Lehr den Friedhof mit dem Grab seiner Eltern und Brüder besuchen. Eine Rückkehr in seine alte Heimat, bzw. zu den Steinhaufen von Oberndorf. Begleitet wird er von einem Schulfreund und von einem Sicherheitsoffizier.


    "Solang wir leben wird's schon bleiben"
    Besuch in der "Alten Heimat" im Sperrgebiet
    "Des warn drei Stockhäuser. Die Schule, der Pfarrhof und des Gasthaus. Und mitten die Kirche drin. Rundherum der Wald. Da bin ich geboren, in dem Haus. Es is halt alles verwachsen."

    Franz Lehr bahnt sich einen Pfad durchs Gebüsch; der alte Herr mit den feinen Gesichtszügen geht aufrecht, ohne Stock. Von dem Gasthaus in Oberndorf, in dem er 1921 geboren wurde, sind nur noch einige graue Steinquader übrig.

    " Na ja, anfangs wars a bissel anderst. Wie man herkommen is, gleich nach dem Krieg, da sind die Häuser noch gestanden. Warn bezugsfähig gewest oft. Sagn wir mal, des deutsche Militär hat nix gemacht. Die Russen warn da, die habn da nix gesagt, wenn da Plünderer da warn. Meistens is ja von den Österreichern alles zerstört worden. "

    Gleich neben dem Gasthaus war die Kirche. Heute sind noch respektable Reste der Kirchenruine erhalten. Mit seinem Schulfreund Josef Pointstingl besucht er ab und zu den alten Friedhof davor. Das ist, trotz Passierschein, nur in militärischer Begleitung möglich. Diesmal betreut Oberstleutnant Zach die beiden alten Herren; denn auch hier wird zuweilen scharf geschossen.

    Umgestürzte Grabsteine versperren den Weg. Josef Pointstingl, ein kleiner rundlicher Mann, kehrt Laub vom Grabstein.

    " Des is des Grab von meiner Schwester und meinen Vorfahrn halt und da kann man in Ruhe gedenken. "

    Franz Lehr bückt sich und versucht, mit beiden Händen das Unkraut an der Grabeinfassung auszureißen.

    " Meine Grosseltern sind hier begraben, und mein Vater ist da begraben. "


    Franz Lehr erinnert sich: Erst spät, Frühjahr 1940 packt die Familie ihr Hab und Gut auf einen Lastwagen und zieht in ein Haus bei Tulln, das die deutsche Aussiedelungsgesellschaft für sie erwirbt. Der Neunzehnjährige muss in den Krieg. Im Mai 1945 besetzen Russen das Tullner Gebiet.

    " I bin heimkommen Ende Juli und wie die Russen kommen sind im Mai hab i kein Brief mehr kriegt von der Mutter. Und wie ich auf der Bahn ausgestiegen bin, hat ane gesagt: Sans a Heimkehrer? Hab i gesagt Jo. Und dann hat's gesagt, ah, wo die Frau da gestorbn is, da hab i, hab i erst gesehn, dass nimmer lebt. Und i denk oft zurück wie mir da wegzogen sind von Oberndorf hat's gesagt, warum kommen wir denn soweit obi, da muss i eh verhungern da unten. Sag i wo wirst denn verhungern. Und ist wirkli so gewest. "


    Franz Lehr ignoriert das Schild "Vorsicht Einsturzgefahr" und dringt in das Innere der Kirchenruine vor. Wilde Rosen wachsen auf dem Schuttberg, der einst Altarraum war; am noch verblieben Mauerwerk haften blaue Farbreste. Teile des spätgotischen Sänger- und Orgelchors samt Kreuzrippen liegen merkwürdigerweise im Osten des Kirchenschiffs.

    Lehr: " Man red halt davon und spricht davon und die Erinnerung is da und man stellt sich vor, das is halt eine Kirchen gewesen und des is halt heute noch was Besonderes. "
    Pointstingl: " Die Orgelempore, die liegt herunter, ob durchs Sprengen, na ja, so wird's nicht obi gefallen sein. "

    Josef Pointstingl blickt skeptisch auf die zerbröckelnde Hälfte des Kirchturms. Der Landwirt ist davon überzeugt, dass das österreichische Bundesheer 1957 oder 1958 die westliche Giebelmauer der Kirchenruine sowie die Nordwestecke des Turms von der Schießbahn Wildings aus mit Granaten beschossen hat. Mit eigenen Ohren habe er in seinem Elternhaus gehört, wie der verantwortliche Offizier mit dem Beschuss geprahlt habe. Begleiter Oberstleutnant Zach, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit im Truppenübungsplatzkommando Allentsteig, sieht das ganz anders.

    Zach: " Soweit sich das am TÜPL-Kommando Allentsteig in den Unterlagen zurückverfolgen lässt, hat hier weder ein indirekter noch ein direkter Beschuss der Kirche Oberndorf stattgefunden.(Pause) Wann natürlich irgendeiner irgendetwas macht was nicht dokumentiert ist , das können Sie nicht mehr nachvollziehen. "

    Pointstingl: " Er wird da gestanden san vor dem Wald da, vor dem W1 und da wird er hergeschossen haben. "

    Zach: " I was net ob man vom W1 da direkten Sichtkontakt zum Turm hat... "

    Pointstingl: " Oder ist er weiter eini gefahrn. "

    Zach (laut): " Ja, ja, natürlich. "

    Pointstingl (aufgeregt): " Er hat's erzählt bei uns im Haus und i war ja da immer neugierig. "


    Franz Lehr nimmt Abschied von der Grabstätte und geht langsam zurück dem Steinhaufen, der einst sein Elternhaus war. Rot leuchten die Kapuzinerhütchen aus der Wildnis; fast wirkt er heiter.

    " Solang wir leben wird's schon bleiben. Die Nachkommen sind woanders aufgewachsen, die haben kei Beziehung. Wir haben die Kindheit da verbracht und des is halt ein Stück Heimat. "


    Als der zweite Weltkrieg 1945 vorbei war, begann das Nachdenken darüber, was aus dem Truppenübungsplatz werden sollte. Es wäre damals möglich gewesen, das Gebiet wiederzubesiedeln. Die meisten Dörfer hatten das Kriegstraining und den Krieg selbst ohne größere Schäden überstanden. Doch zunächst ging der Tüpl A in sowjetischen Besitz über. Als 1955 die Russen abzogen, da schöpften die umgesiedelten Waldviertler Hoffnung, wurden jedoch abermals enttäuscht. Zwar distanzierte sich die Österreichische Regierung vom NS-Regime, dessen Militärarreal aber wollte sie weiterhin nutzen. Und so ging der Truppenübungsplatz Allentsteig 1957 an das österreichische Bundesheer. Per Gesetz wurden alle Rückstellungsansprüche zunichte gemacht. Erst spät, erst in den 90er Jahren regte sich in Österreich dagegen Protest. Dokumentiert ist der Widerstand in einem Heimatmuseum der etwas anderen Art, in dem Museum für Alltagskultur des Historikers Friedrich Polleross. Er war einer ersten, der die Geschichte des Waldviertels nicht einfach so hinnehmen wollte.



    Friedrich Polleross und sein nicht alltäglicher Kampf gegen das Vergessen
    Der Saal im Museum für Alltagsgeschichte in Neupölla ist bis auf den letzten Platz besetzt. Friedrich Polleross, Gründer des kleinen Museums, zeigt seinen Dokumentarfilm über den Bau der Kampkraftwerke. Arbeiter erzählen, wie sie vor fünfzig Jahren unter größten Anstrengungen das Wasserkraftwerk bei Ottenstein am Rande des Truppenübungsplatzes errichtet haben. Zehn Arbeiter kamen dabei ums Leben. Damals war das Gelände noch unter russischer Besatzung.

    " Wie wir in Ottenstein die Gleichenfeier gehabt haben , des war a große Feier, da war auch der Landeshauptmann Steinböck da, der hat gesagt, da drüben der Truppenübungsplatz des wird blühendes Bauernland werden - leider ist es bis heute noch Truppenübungsplatz. "

    Johann Gerhardter erinnert sich; einer von vielen Zeitzeugen, die Friedrich Polleross, Historiker und Kunstgeschichtler der Universität Wien, im Rahmen seiner Studien über die Geschichte der Zwangsaussiedelung und ihre Folgen befragt hat.

    Friedrich Polleross, ein kleiner energiegeladener Mann mit kreisrunder Brille, hat in den oberen Museumsräumen eine Stube mit Tisch, Bank und Truhe eingerichtet; die Bauernmöbel stammen aus Äpfelgeschwendt, einem von der Landkarte ausradierten Dorf. Viele Exponate hat er selbst gesammelt; schließlich ist er hier geboren und aufgewachsen. Den Schieß-Lärm des angrenzenden Truppenübungsplatzes kennt er von Kindheit an; das Gelände aus der Perspektive des Panzers.

    " Ich war Funker auf einem Schützenpanzer, insofern war ich nicht bei der kämpfenden Truppe und war dann eher weiter hinten. Ich bin kein klassischer Pazifist, aber ich bin beim Bundesheer zu einem Antimilitaristen geworden. "

    Damals in den späten Achtzigern hat eine kleine Gruppe von Truppenübungsplatz-Gegnern erstmals begonnen, die Haltung der Republik Österreich in dieser Causa aufzuarbeiten. Gemeinsam mit dem Filmemacher Manfred Neuwirth befragte Friedrich Polleross Ausgesiedelte und verantwortliche Politiker. Warum hat die Republik Österreich nach 1955 trotz zahlreicher Rückstellungsanträge keine Wiedergutmachung geleistet und keine Wiederbesiedelung durchgeführt? In dem Dokumentarfilm "Erinnerungen an ein verlorenes Land" versucht Hermann Withalm, 1955 Staatssekretär im Bundesministerium für Finanzen und Verwaltung, eine Antwort.

    " Das Bundesheer hat damals massiv ins Treffen geführt, dass es absolut notwendig sei, den gesamten Truppenübungsplatz, wie die Deutschen ihn hatten, wieder zum Leben zu erwecken beziehungsweise ihn bestehen zu lassen. Auf der anderen Seite natürlich das massive Verlangen derer, die vertrieben worden sind, zurückkehren zu können. Und da ist eine Interessensabwägung dann zustande gekommen bzw. ein Kräftemessen zwischen Bundesheer und Land Niederösterreich - gesiegt hat dann im Großen und Ganzen das Bundesheer. "

    Der umtriebige Museumsdirektor mit dem schwarz-grauen Spitzbart bleibt abrupt vor einer Vitrine mit einer historischen Landkarte stehen: Standorte der Fassbinderzunft sind dort eingetragen; Neupölla vor 1938 liegt sichtbar im Zentrum blühender Wirtschaftszweige. Mit der Errichtung des Truppenübungsplatzes ist etwa ein Drittel des wirtschaftlichen Einzugsgebietes verloren gegangen.

    " Das Problem war, dass die Republik Österreich ganz bewusst, und das belegen die Akten, ganz bewusst den kurzen Zeitraum zwischen dem Abzug der Sowjetunion 1955 und der Errichtung des Truppenübungsplatzes 1957 und der Einrichtung des Bundesheeres genutzt hat, den Truppenübungsplatz nicht wiederzubesiedeln, sondern die Gesetzeslage so zu ändern, dass die Rückstellungen abgeschmettert werden von einem Grossteil der Antragsteller und dieses Gebiet an die Republik Österreich übergeht. Und es war den Beamten im Ministerium natürlich klar, dass sie das auf diese Weise wesentlich billiger bekommen als wenn sie das zurückgeben und dann noch einmal kaufen müssten zum regulären Marktpreis. "

    Der Museumsdirektor wischt etwas Staub von der Vitrine. Im Strafrecht würde man das als Hehlerei bezeichnen, bemerkte er scharfsinnig in einer Rede, die er 1988 anlässlich der Filmpremiere von "Erinnerungen an ein verlorenes Land" im Filmtheater Allentsteig gehalten hatte. Denn die demokratische Republik habe zwar gerne den von der Nazidiktatur zusammen gestohlenen und erpressten Besitz übernommen, sich aber geweigert, dafür Wiedergutmachung zu leisten. Erst 1995, anlässlich des Jubiläums 50 Jahre Zweite Republik, erhalten die noch verbliebenen Aussiedler vom Parlament eine eher symbolische Entschädigung aus dem "Nationalfond der Republik Österreich für die Opfer des Nationalsozialismus" : pro Kopf 70.000 Schilling, also 5000 Euro.

    Der Film über die Kampkraftwerke endet mit einem Schwenk über die dunklen Tannen rund um den Stausee Ottenstein. Dass das fast schwarze Wasser Ruinen eines ausgesiedelten Dorfes für immer zudeckt, wissen nur wenige. Friedrich Pollerross hat einen Traum.

    " Ich glaub nicht, dass wir so einen großen Truppenübungsplatz brauchen, vor allem nachdem heutzutage nicht mehr von großen Panzerschlachten auszugehen ist. Ich denke am sinnvollsten wär eine touristische Nutzung im Rahmen des Landschaftsschutzgebiets Kamptal, wo man sich auch ein Konzept machen müsste, die historischen Ereignisse zu dokumentieren und zu erschließen und auch touristisch zugänglich zu machen. "

    Vor dem ersten österreichischen Museum für Alltagsgeschichte brennt eine große weiße Kerze; der Himmel ist sternenklar.

    Es wird wieder einmal geschossen auf dem Truppenübungsplatz.



    Die meisten Menschen im Waldviertel scheinen Soldatenuniform zu tragen. Zumindest diejenigen, die jung sind. Diejenigen die jung sind und nichts mit dem Militär zu tun haben, ziehen weg. Nach Wien, nach Salzburg, Innsbruck oder Linz. Weil es dort Arbeit gibt. Die Kleinstadt Allentsteig ist nicht nur Namensgeber des Truppenübungsplatzes, dort residiert auch die Kommandantur des TÜPL A. In einem Schloss. Der Rest der Stadt liegt im Dornröschenschlaf.


    Nix-mehr-Blues
    Frau Haschka und ihr Stadtbeisl in Allentsteig
    Mittagszeit im Stadtbeisl: Gerade einmal zwei Tische sind besetzt. Ein junges bleiches Paar mit Baby bestellt die Rechnung: Vier Achtel Wein und eine Cola. Ein älterer Pensionist wartet auf sein Schnitzel; an der Theke stehen ein paar Männer bei einem Bier; offensichtlich Angestellte des österreichischen Bundesheeres.

    Wirtin Ingrid Haschka sitzt an einem Extratisch und raucht. Seit acht Jahren führt sie das kleine Gasthaus in Allentsteig.

    " Es wird immer weniger. Geschäftsmäßig wird's immer schlechter. Wenn Übungen san, die werden angesetzt bis 23 Uhr, und dann geht keiner mehr fort: Des is des Problem von Allentsteig. Früher war da sehr viel los mit dem Bundesheer, aber es wird immer weniger. "

    Fast alle Bundesheersoldaten haben ein eigenes Auto und fahren so oft wie möglich wenn sie frei haben nach Hause; eine Diskothek gibt es hier nicht. Frau Haschka wirft den geflochtenen Zopf nach hinten; die attraktive Fünfzigerin ist Mitglied im Kameradschaftsbund, der im Hinterhof ihres Gasthauses sein Vereinslokal hat; wenigstens eine Abwechslung. Die ältesten Kameradinnen sind 82 und 83 Jahre alt.

    " Wenn irgend wo eine 50jährige Feier is , da fährt unser Kameradschaftsbund auch dorthin, jo, es is ganz liab "
    " Die zwei Marketenderinnen haben wir, die haben ihre Uniform, des Dirndl, ja, des is ganz liab. Die gehen da so mit, haben a Fasserl umhängen, da kann man dann a Schnaps trinken und so, des is super. "

    Plüschtiere sitzen auf dem Fenstersims zwischen den Grünpflanzen. Die Auslagen der Geschäfte vis-a-vis an der Hauptstrasse sind leer.

    " Jeder verlangt sehr viel Pacht und jeder fahrt auswärts einkaufen. Des is schlimm. Weil wir haben kein Schuhgeschäft mehr, kein Elektrogeschäft, wir haben nix eigentlich; keins wo man sich Gewand kaufen kann. Alles weg, und des hat in Allentsteig sehr viel Geschäfte gegeben. "

    Ingrid Haschka schaut neugierig aus dem Fenster; draußen fährt ein Konvoi von Militärautos vorbei hinauf auf den Schlossberg. Dort residiert das Truppenübungsplatzkommando in einer ehemaligen Ritterburg, die später zu einem Renaissanceschloss ausgebaut wurde. Einmal im Jahr lädt das Bundesheer die über 2000 Einwohner der Stadt zu einem Schlossfest; eine Art Betriebsfest. Mit 550 Angestellten ist das Heer einer der größten Arbeitsgeber in der Region und schafft 23 bis 25 Millionen Euro Umsatz im Jahr. Ingrid Haschka zuckt mit den Achseln; davon merkt sie wenig. Auf Bestellung liefert die resolute Wirtin höchstens hin und wieder ein Essen hinauf auf den Schlossberg.

    " Es raunzt a jeder, und des Bundesheer kauft auswärts. Allentsteig hat eigentlich fast nix davon. Einkauft wird in Horn, Waidhofen, Zwettl, und in Allentsteig, nix. Des san nur Kleinigkeiten, der Bäcker liefert vielleicht am Tag 50 Semmeln aussi, der Fleischhacker vielleicht ein wenig an Leberkas, und dan san mer fertig "

    Unter dem rührigen Altbürgermeister Bendinger gab es Versuche, Allentsteig aus seiner Lethargie zu befreien: Das Aussiedlermuseum wurde professionell vom Wiener Volkskundemuseum betreut; heute ist es meist geschlossen. Das Eulenmuseum lockt mehr Touristen an, meint der neue Bürgermeister. Wenig beachtet ist auch die Skulptur "Landschaftsmesser" der international bekannten Künstlerin Valie Export; eine metallene Klinge ragt in den See, der die Stadtgemeinde vom militärischen Sperrgebiet trennt. Ein Symbol der kollektiven Erinnerung: Die Namen der 42 ausgesiedelten Ortschaften sind auf einer Glasstele festgehalten.

    Ingrid Haschka hat ein besonderes Kunstwerk in ihrem Stadtbeisl hängen, gefertigt von der Fliegerabwehrschule Langenlebarn. Ein Nachthimmel ist darauf zu sehen, erhellt vom Feuerzauber der Geschosse; und mitten in der Collage das Bild einer Madonna.

    " Des is ihre Schutzpatronin. Des is a Geburtstagsgeschenk von dieser Einheit und da bin ich ganz stolz drauf. "

    Die Männer an der Theke bestellen noch eine Runde Bier. Für diesen Zustand hat die Wissenschaft einen Fachbegriff geprägt: Das Allentsteig-Syndrom. Dieses hält sich hartnäckig; die Stadt hat sich von dem Trauma der Aussiedelung nie richtig erholen können.

    " Über des Thema hört man überhaupt nix mehr, des is abgeschlossen, des war mal und fertig. "

    Literatur
    Peter Härtling: "Zwettl. Nachprüfung einer Erinnerung",
    dtv-Verlag, 2008