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Das Märchen von der Solidarität

Während der Deutsche im vergangenen Jahr durchschnittlich anderthalb Mal ins Kino gegangen ist, hat jeder Franzose drei Kinotickets gekauft. Dass Frankreich eine Kinonation ist, unterstreicht allein schon der Marktanteil des einheimischen Films bei unseren Nachbarn. Der lag 2011 bei 40 Prozent. Der erfolgreichste französische Film des zurückliegenden Jahres hat bislang unglaubliche 16 Millionen Besucher gezählt. "Ziemlich beste Freunde" heißt er und ab morgen ist er auch in den deutschen Kinos zu sehen. Genauso wie die Reality-Komödie "Jonas" mit Christian Ulmen sowie der argentinische Film "Chinese zum Mitnehmen".

Von Jörg Albrecht | 04.01.2012
    Chinese zum Mitnehmen" von Sebastián Borensztein
    In China fällt eine Kuh aus heiterem Himmel auf das kleine Boot eines jungen Liebespaares. Bei dem Aufprall wird die Frau erschlagen. Mit dieser makabren Szene eröffnet Sebastián Borensztein seinen Film "Chinese zum Mitnehmen". Es ist eine von vielen unglaublichen Zeitungsgeschichten aus aller Welt, die der Argentinier Roberto seit vielen Jahren sammelt und die ihm ein flüchtiges Lächeln in sein ansonsten mürrisches Gesicht zaubern.

    Roberto, der ledig ist und keine Verwandten hat, betreibt einen kleinen Laden für Eisenwaren. Menschen mag er nicht besonders. Selbst der sympathischen Mari, die nicht aufgibt, um Roberto zu werben, zeigt er regelmäßig die kalte Schulter. Doch auch wenn er alles andere ist als ein Menschenfreund - einem in Not geratenen Mitbürger würde der Einzelgänger immer helfen. Glück also für den Chinesen Jun, dass er auf Roberto trifft, als dieser unmittelbar nach seiner Ankunft in Buenos Aires ausgeraubt wird.

    "Nein, nein, ich verstehe kein Wort. ... Ich verstehe kein Wort. Aber ich hab's gesehen. ... Kannst du meine Sprache? Nein?"

    Eine auf Juns Unterarm eintätowierte Adresse ist der einzige Anhaltspunkt für Roberto. Er findet heraus, dass Jun seinen Onkel, der vor Jahren nach Argentinien ausgewandert war, besuchen will. Doch dieser Onkel ist unauffindbar. Und weil weder die argentinische Polizei noch die chinesische Botschaft eine große Hilfe sind, nimmt Roberto den Gestrandeten bei sich auf und setzt ihm eine Frist von sieben Tagen. Sollte er seinen Onkel bis dahin nicht gefunden haben, ist es mit Robertos Gastfreundschaft vorbei.

    "Und er versteht wirklich kein Wort? - Nichts. Nur Chinesisch. - Und wie machst du das? - Mit Gesten. Es gibt ja auch nicht viel zu reden. - Erst lebst du wie im Kloster und dann mit einem Chinesen. Du bist seltsam, Roberto."

    Der geduldete chinesische Gast wird dafür sorgen, dass Robertos bislang so geordnetes Leben der Vergangenheit angehört. Der Eisenwarenhändler ist auf dem besten Weg ein anderer Mensch zu werden. Regisseur Sebastián Borensztein schildert diese Wandlung wunderbar unaufdringlich in lakonischen Bildern. Mit leiser Situationskomik zeigt er das vorsichtige Abtasten zweier Männer, deren gegenseitiges Verständnis nicht von der Sprache abhängt. Dabei glänzt der argentinische Schauspielstar Ricardo Darín in der Rolle des Misanthropen Roberto mit einer nuancierten Charakterstudie.

    "Chinese zum Mitnehmen" von Sebastián Borensztein - empfehlenswert!


    "Ziemlich beste Freunde" von Olivier Nakache und Eric Toledano
    "Und was sagen die Ärzte zu diesem Thema? - Ach, mit dem Fortschritt der Wissenschaft werden die mich durchbringen, bis ich 70 bin. ... Ich würde mir die Kugel geben. - Aber auch das ist schwierig für einen Querschnittsgelähmten. - Das stimmt. Scheiße, das ist hart."

    Und noch eine ungewöhnliche Begegnung, die zu einer unerwarteten Freundschaft führen wird. Schauplatz ist jetzt ein Viertel in Paris, wo das Geld zu Hause ist. Dort lebt Philippe, der, seit er mit einem Gleitschirm verunglückt ist, im Rollstuhl sitzt. Als Philippe einen neuen Pfleger sucht, gehört auch Driss zu den Bewerbern. Ein junger Mann schwarzer Hautfarbe mit großer Klappe, dicker Polizeiakte und ohne jeden Respekt. Nur will Driss gar nicht den Job, sondern nur eine Unterschrift fürs Arbeitsamt, die bestätigen soll, dass er sich um die Stelle bemüht hat. Doch Philippe will Driss als Pfleger engagieren und fordert ihn mit der Wette heraus, den Job nicht mal zwei Wochen durchzuhalten.

    "Wenn er wenigstens qualifiziert wäre. Aber er scheint ja komplett unfähig zu sein. Sei bloß vorsichtig! Die Jungs aus der Vorstadt kennen kein Mitleid. - Genau das ist es, was ich will. Kein Mitleid."

    Stattdessen wird ihm der junge Mann aus der unteren Gesellschaftsschicht die verlorene Lebensfreude wieder zurückbringen. Was klingt wie ein mit Klischees beladenes Sozialmärchen, basiert erstens auf einer wahren Geschichte. Und zweitens gelingt es den beiden Hauptdarstellern François Cluzet und Omar Sy, die Stereotypen ihrer Figuren vergessen zu machen. Ein Märchen ist "Ziemlich beste Freunde" dennoch. Es ist das Märchen von der Solidarität der Menschen, die keine gesellschaftlichen Grenzen kennt. Verlogen vielleicht, aber auch komisch und berührend.

    "Ziemlich beste Freunde" von Olivier Nakache und Eric Toledano - akzeptabel!

    Christian Ulmen als "Jonas"
    Christian Ulmen als "Jonas" (picture alliance / dpa / Delphi Filmverleih)
    "Jonas" von Robert Wilde
    "Guten Morgen, ich habe hier einen neuen Schüler. ... Frau Sekretärin hat den Raum nicht gefunden. ... Sonst wäre ich ein bisschen früher hier gewesen. ..."

    Jonas ist der Neue an der Brandenburger Paul-Dessau-Gesamtschule. 18 Jahre ist er alt, mehrfach sitzen geblieben, aber gewillt seinen Schulabschluss nachzuholen. Sechs Wochen Bewährungszeit werden Jonas eingeräumt. Sechs Wochen, in denen er seine Lehrer im Unterricht überzeugen muss. Gelingt ihm das nicht, ist Jonas' Schulkarriere endgültig zu Ende, wie ihm der Rektor der Schule zu verstehen gibt.

    "Dann wird an dieser Stelle die Rote Karte gezogen. Dann ist Ende. - Können Sie mir noch mal mit genauso vielen Worten noch mal das Tolle sagen, was alles cool wird, wenn ich es schaffe? Ich brauche immer so was. Dass man mir sagt: Klar Jonas schaffst du das!"

    Nicht 18 Jahre, sondern doppelt so alt ist der Schauspieler Christian Ulmen. Er spielt den Jonas in einer inszenierten Dokumentation, die Alltag an einer deutschen Schule abbildet. Dank einer perfekten Maske und vor allem dank des komödiantischen Talents von Ulmen ist die Verwandlung in einen Schüler überraschend realistisch. Anders als in seinen Rollen in "Mein neuer Freund" gibt Ulmen diesmal nicht den verkleideten Provokateur, der bestimmte Situationen herausfordert. Wie viele Szenen wirklich authentisch sind und was Lehrer und Schüler letztlich von dem Projekt gewusst haben, wird nie deutlich. Aber es ist auch überhaupt nicht wichtig, denn "Jonas" ist ein amüsantes Filmexperiment geworden.

    "Jonas" von Robert Wilde - empfehlenswert!