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"Das moderne Europa muss auch für Roma und Sinti Platz schaffen"

Die grüne Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck kritisiert die Pläne des Bundesinnenministers zur Eindämmung von Asylmissbrauch. Statt über reine Abschiebungsmaßnahmen nachzudenken, müsse man überlegen, wie man bessere Lebensmöglichkeiten für Sinti und Roma schaffen könne.

Marieluise Beck im Gespräch mit Jasper Barenberg | 15.10.2012
    Jaspar Barenberg: Strenge Töne schlägt Innenminister Hans-Peter Friedrich dieser Tage an mit Blick vor allem auf Flüchtlinge aus dem Südosten Europas. Der CSU-Politiker spricht von wachsendem Asylmissbrauch, er spricht von falschen Anreizen durch zu hohe Geldleistungen. Noch in diesem Monat will er zusätzliche Bundespolizisten und Beamte in Marsch setzen, um Asylanträge ohne Aussicht auf Erfolg schneller abzuarbeiten, abzuwickeln und die Leute wieder in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken. Es geht vor allem um Menschen aus Serbien und aus Mazedonien, die meisten von ihnen Roma. Viele sind in den vergangenen Wochen gekommen, viel mehr als im vergangenen Jahr. Das Ministerium spricht von einer Steigerung der Anträge von mehr als 60 Prozent. In Brüssel will Friedrich außerdem dafür sorgen, dass die Visumspflicht für diese beiden Länder wieder eingeführt wird. Sind diese Pläne geboten? Sind sie angemessen oder schürt da einer Ressentiments und reagiert hysterisch, wie die Organisation Pro Asyl beklagt? Darüber wollen wir in den nächsten Minuten mit der grünen Bundestagsabgeordneten Marieluise Beck sprechen, die sich seit Jahren intensiv unter anderem mit den Ländern Osteuropas und mit der Entwicklung dort beschäftigt. Schönen guten Morgen, Frau Beck!

    Marieluise Beck: Guten Morgen, Herr Barenberg!

    Barenberg: Frau Beck, die allermeisten, die in den letzten Wochen nach Deutschland gekommen sind, haben ja wohl kaum Aussichten, hier als politische Flüchtlinge anerkannt zu werden. Die Anerkennungsquote liegt bei nahezu null. Ist es richtig deshalb, dass der Innenminister jetzt etwas unternimmt?

    Beck: Der Innenminister sollte etwas unternehmen, aber er sollte nicht reine Abschiebungsmaßnahmen ins Auge nehmen, sondern sich mit dem Problem nähern, mit dem wir zu tun haben: einem unglaublichen Armutsproblem. In den Ländern des Balkan, besonders eben für die Gruppe der Roma und Sinti, deren Situation sich nach dem Zerfall Jugoslawiens dramatisch verschlechtert hat. Es gibt fast keinen Zugang mehr zu Bildung, damit natürlich auch keinen Zugang mehr zu Arbeit. Es ist für viele Menschen die Situation in dem Nachfolgestaat Jugoslawiens sehr, sehr schwer, aber für die Roma und Sinti, im Kosovo sind es Aschkali, eben noch einmal besonders dramatisch. Und insofern geht es darum, ein Armutsproblem als unseres zu betrachten, denn es ist Europa, und es kann nicht darum gehen, jetzt eine große Debatte, die ja auf Mühlen fließt, wo die Diskriminierung von Roma und Sinti ja auch in unserer eigenen Geschichte einen wohlvorbereiteten Boden hat.

    Barenberg: Frau Beck, Sie vermuten andere Gründe als welche in der Sache, die mit Asylrecht zu tun haben hinter dem, was der Innenminister jetzt auf den Weg bringt und plant?

    Beck: Ja. Also wenn man die Zahl von 60 Prozent nimmt, dann kriegen natürlich alle Menschen das Gefühl, um Gottes Himmels Willen, es kamen 100.000 und jetzt kommen 600.000. Die Zahlen sind sehr viel kleiner und sind nicht so sehr viel größer als im September vor einem Jahr. Allerdings – es sind immer Winter-Zahlen. Es ist tatsächlich so, dass wegen der unglaublich schlechten Lebensbedingungen, schlechter Wohnbedingungen sich immer wieder ein Zug von Roma und Sinti aus diesen Ländern in Richtung Westen in Marsch setzt. Zum Teil auch wegen falscher Versprechungen. Es wird ihnen zum Beispiel gesagt, ihr könnt arbeiten, wenn ihr nach Deutschland geht, und sie kommen dann hierher und merken, dass das so nicht geht. Es gibt in der Europäischen Union eine Dekade für die Roma-Integration, und die ist im Wesentlichen trockenes Papier geblieben. Das ist das Drama.

    Was ich sehr schön fände, wenn der Bundesinnenminister seinen Kollegen für wirtschaftliche Zusammenarbeit, Niebel, ansprechen würde. Es gab nämlich ein Programm für einen Education-Fund, also Zugang zu Bildung, und die Bundesregierung hat die Mittel, die dazu beizutragen waren, eingestellt. Also insofern würde ich sagen, wer jetzt hier sagt, wir entziehen euch in Serbien und Mazedonien die Visumsfreiheit, wenn ihr die Leute nicht zurückhaltet vom Kommen, ist das der falsche Ansatz, denn diese Visumsfreiheit ist ein großer Schritt für die Länder in Richtung Integration in Europa.

    Barenberg: Auf der anderen Seite, Frau Beck, haben Sie selber gesagt, und das sagen ja auch die Praktiker, geben die Flüchtlinge, die zu uns kommen und die zu uns gekommen sind in den vergangenen Wochen, überwiegend Roma, geben ja selbst oft wirtschaftliche Gründe für ihre Flucht an, geben selbst an, dass sie mit dem Versprechen, mit der Hoffnung hierher gekommen sind, dass sie etwas Geld in die Hand gedrückt bekommen. Ist denn das Asylverfahren, ist das Asylrecht der richtige Ort, das richtige Instrument, um mit diesem Problem, mit dem Problem der Armut umzugehen?

    Beck: Nein, der ist es nicht. Das Asyl ist für politische Verfolgung, für Verfolgung wegen körperlicher Versehrtheit, also zum Beispiel genitale Beschneidung, ist für andere Fälle gedacht. Es geht hier um soziale und Armuts- und Diskriminierungsprobleme. Und deswegen sage ich ja auch, wir müssen uns ganz stark mit hineinbegeben, diese Verantwortung, die Europa auch hat, dass es nicht ein Volk innerhalb Europas gibt, was überall, wo es hinkommt, diskriminiert wird. Das ist ja auch in Frankreich so. Es war unter der Regierung Sarkozy so, nun wird es unter dem Präsidenten Hollande fortgeführt. Dass wir es nicht geschafft haben, nach dem Krieg, in dem ja an der Ausmerzung dieses Volkes aus Deutschland heraus gearbeitet worden ist, dass wir es nicht geschafft haben, in diesen 70 Jahren eine soziale Einbindung, Lebensmöglichkeiten für diese Menschen zu schaffen, das ist ein großes Versagen von ganz Europa, und ich würde mir wünschen, dass der Innenminister mit diesem Blick in Europa, in Brüssel aufschlagen würde und sagen würde, liebe Kollegen, das ist etwas, das dürfen wir nicht hinnehmen, das moderne Europa muss auch für Roma und Sinti Platz schaffen. Und da die armen Länder es nicht schaffen, Mazedonien und Serbien steht das Wasser bis zum Hals finanziell, ist es mit unsere Aufgabe.

    Barenberg: Was Sie sagen, Frau Beck, ist also, dass die Bundesregierung tatenlos bleibt, da wo sie etwas unternehmen kann, und dass sie jetzt etwas unternimmt auf einem Gebiet, wo es eigentlich keinen Sinn macht?

    Beck: Ja. Es wird einfach Druck ausgeübt in Serbien und Mazedonien wird dann folgendermaßen gehandelt: Es wird den Roma und den Sinti, falls sie überhaupt einen haben, ihr Pass weggenommen. Das ist übrigens eine Menschenrechtsverletzung, es gibt ein Recht auf einen Pass. So wird der Druck nach unten weitergegeben. Und noch einmal: Es gibt eine – die Europäische Union hat eine Dekade für Roma-Integration ausgerufen, und das bedeutet Schulung für Polizisten, für Lehrer, in den Ministerien, immer, um Zugänge zu schaffen für diese Menschen in die Gesellschaften, und das sollte mit Kraft angepackt werden, statt jetzt zu sagen, wir halten uns vor allen Dingen die Menschen vom Hals und es ist nicht unser Problem. Wir haben noch 12.000 Roma oder Aschkali aus dem Kosovo bei uns im Land. Zwei Drittel von ihnen sind Kinder, die sind, weil sie jetzt oft ja schon zehn Jahre hier sind, hoch integriert. Da zum Beispiel sollten wir sagen, da sollten wir diskutieren, ob die nicht doch jetzt bei uns bleiben sollten. Und für das andere müssen wir als Europa für eine soziale Integration dieser Menschengruppe streiten.

    Barenberg: Zum Schluss, Frau Beck, was aber auf der anderen Seite bleibt, ist, dass es eben wirtschaftliche Gründe gibt für die Flucht dieser Menschen, und dass heißt dann doch auch, dass Innenminister Friedrich recht hat mit seiner These, dass der Missbrauch dann auch die Hilfsbereitschaft belastet für die wirklich Bedürftigen, die, die es wirklich nötig haben.

    Beck: Ja, wenn man diese Missbrauchsdebatte ganz oben auf die Tagesordnung stellt, findet man im Bereich Flüchtlinge immer sofort Beifall. Und ich sage – ich widerspreche ja nicht, dass es sich hier nicht um Asylfragen handelt, sondern ich sage, es sind Armuts- und soziale Probleme, und dann lasst uns die bitte mit Ruhe und Gemeinsamkeit angehen, statt einfach den Druck nach unten zu geben. Und die Drohung ist ja gewesen, Serbien und Mazedonien, wir entziehen euch die Visumsfreiheit. Und das ist einfach kein richtiges Vorgehen. Es ist ethisch auch nicht akzeptabel, denn wie gesagt: Dass dieses Volk, was zu uns gehört in Europa, so unglaublich vernachlässigt worden ist und wir es über Jahrzehnte nicht wirklich Anstrengungen unternommen haben, das als gemeinsame europäische Aufgabe zu sehen, das finde ich, gehört in ein soziales Europa mit hinein und deswegen nicht diese Asylfluten, sie überschwemmen uns, sie nehmen uns das Asylbewerberleistungsgeld weg und so weiter – das ist wirklich nicht der richtige Ansatz.

    Barenberg: Marieluise Beck von Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag, Sprecherin unter anderem für Osteuropapolitik. Danke für das Gespräch heute Morgen!

    Beck: Bitte schön, Herr Barenberg!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.