Freitag, 19. April 2024

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Das neue atomare Wettrüsten (1/6)
Zerstörer der Welten

"Gadget" war der Codename der ersten Atombombe, die heute vor 75 Jahren explodierte. Drei Wochen später lagen Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche. Inzwischen lagern in den Arsenalen der Atommächte "moderne" Bomben. Sie sind hochpräzise - und gelten als Option für einen "begrenzten Atomschlag".

Von Dagmar Röhrlich | 16.07.2020
Der Feuerball der ersten gezündeten Atombombe im "Trinity"-Projekt auf der "White Sands Missile Range", New Mexico am 16. Juli 1945.
"Zerstörer der Welten" - der Feuerball der ersten gezündeten Atombombe am 16. Juli 1945 (www.imago-images.de)
16. Juli 1945. Als um 5 Uhr 29 auf dem Testgelände White Sands in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe gezündet wird, ist einige Kilometer davon entfernt Robert Oppenheimer Zeuge des Ereignisses. Später wird er, um seine Eindrücke in Worte zu fassen, einen alten hinduistischen Vers zitieren:
"Jetzt bin ich zum Tod geworden, der Zerstörer der Welten."
Die "Trinity"-Testbombe mit dem Spitznamen "The Gadget" hängt noch nicht vollständig aufgebaut im Test-Turm, daneben der US-Physiker Norris Bradbury (Juli 1945)
Codename "The Gadget": Die erste Atombombe vor ihrer Zündung im Versuchsgelände in New Mexico (www.imago-images.de)
Was folgt, ist drei Wochen später die Zerstörung von Hiroshima und Nagasaki: Was lebt, verdampft, verbrennt, wird verstrahlt: 100.000 Menschen sterben sofort, weitere 130.000 qualvoll in den Monaten danach.
Eine Waffe wie jede andere?
"Vor ein paar Jahren hatte ich die Gelegenheit, an Orten wie Tomsk und Jekatarinburg in der ehemaligen Sowjetunion Studenten zu unterrichten. Mir fiel auf, dass diese jungen Leute, die um die 20 bis 25 Jahre alt waren, nicht mehr viel über Atomwaffen wussten. Sie sahen sie nicht als ungeheuer gefährlich an. Für sie unterschied sich der Einsatz von Atomwaffen nicht so sehr von dem jeder anderen Waffe. Das machte mir Angst, denn Atomwaffen sind so viel stärker."
35 Jahre lang war Robert Kelley im US-Atomkomplex tätig, bevor er ans Friedensforschungsinstitut SIPRI wechselte.
"Wenn chemische Sprengstoffe explodieren, entsteht die Energie aus der Reaktion meist zwischen den Stickstoff-, Kohlenstoff- und Sauerstoffatomen. Bei einer Kernreaktion erhält man für jede Reaktion durch die Spaltung von Uran- oder Plutoniumatomen eine Million Mal mehr Energie. Plötzlich reicht ein kleines Paket, um eine ganze Stadt auszulöschen."
Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe im August 1945.
Furchtbare Verwüstung: Hiroshima nach dem Abwurf der Atombombe im August 1945 (imago images/Photo12/Ann Ronan/Picture Library)
Wasserstoffbomben für das nukleare Armageddon
Während des Kalten Kriegs setzten die Supermächte beim Wettrüsten auf möglichst viele Megatonnen TNT-Äquivalent: Die Uranbombe von Hiroshima und die Plutoniumbombe von Nagasaki erscheinen winzig im Vergleich zu den bis zu 4.000 Mal stärkeren Wasserstoffbomben, die ihre Energie nicht aus der Kernspaltung beziehen, sondern aus der Kernfusion. Die Megawaffen haben sich durchgesetzt. Robert Kelley:
"Niemand baut mehr nur einfache, effiziente Plutonium- oder Uranbomben, außer vielleicht Pakistan und Indien. Nordkorea könnte sich in diesem Lager befinden, obwohl wir ziemlich gute Hinweise darauf haben, dass Nordkorea eine sehr große Nuklearbombe gezündet hat. Also, da draußen gibt es viele Wasserstoffbomben."
Dossier: Atomwaffen
"Eine verrückte Idee": die Neutronenbombe
Dafür scheint eine Spezialentwicklung Geschichte zu sein: die Neutronenbombe, die vor allem über Strahlung tötet und nicht so sehr über Explosion und Hitze. Die USA haben sie entwickelt, aber auch Russland, China und Frankreich. Kelley:
"Der US-Neutronensprengkopf ist verschwunden, weil es eine verrückte Idee war. Sein einziger Zweck war, wie ursprünglich geplant, die sowjetischen Panzer in der Bundesrepublik zu stoppen. Dafür brauchten Sie einen Sprengkopf, der klein genug war, um nicht ganz Westdeutschland zu zerstören, denn das sollte ja eigentlich geschützt werden. Die Idee erschien dann doch als zu dumm, und die Trägersysteme gibt es nicht mehr. Außerdem braucht man für Neutronenbomben enorme Mengen an Tritium, das sehr teuer in der Herstellung ist und radioaktiv. Es zerfällt mit einer Halbwertzeit von etwa zwölf Jahren, und man müsste es ständig kiloweise ersetzen. Das bereitet eine Menge logistischer Probleme."
Demonstranten am 4.4.1981 in Bonn tragen ein Plakat mit der Aufschrift: "Gegen die atomare Bedrohung. Nein zu Atomraketen und Neutronenbomben!" 
Die Idee der Neutronenbombe "Menschen töten, Infrastruktur bewahren" führte zu heftigen Protesten der Friedensbewegung (www.imago-images.de)
Bunker-Knacker und Bomben mit Präzisionslenkung
Derzeit wissen Experten von keiner der neun Atommächte, dass sie in ihren Arsenalen Neutronenbomben lagern. Es ist sowieso nicht so sehr die Sprengkopf-Physik, über die heute die Fortentwicklung und Modernisierung der Kernwaffen läuft, sondern Transport und "Verpackung". Bob Kelley:
"Das Ding, das knallt, ist in vielerlei Hinsicht ziemlich einfach. Man wird wohl dasselbe alte Teil wie immer benutzen, nur in einer modifizierten Form."
Es werden beispielsweise Hüllen aus hochlegiertem Stahl zugefügt, mit denen eine Atomwaffe vor der Explosion metertief ins Erdreich eindringt, um einen unterirdischen Bunker zu zerstören. Oder: Bomben bekommen eine Präzisionslenkung, die sie wesentlich treffsicherer macht. Mehr Treffsicherheit hat den Effekt, dass die Waffen kleiner werden können und ihr Ziel trotzdem zuverlässig vernichten. Das ist gewollt: Man wünscht sich Atomwaffen mit geringer Sprengkraft, die nicht Millionen Menschen töten und die Welt in einen nuklearen Winter stürzen. Kelley:
"Das sollte Ihr Missbehagen erregen, denn das soll die Waffen einsetzbarer machen."