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Das neue atomare Wettrüsten (4/6)
Ultraschnell ins Ziel

Bei der Modernisierung der Atomwaffenarsenale ist Russland am weitesten, die USA stecken noch mittendrin. Eine der wichtigsten Entwicklungen dabei sind Trägersysteme, die Sprengköpfe präziser ins Ziel bringen – mit einer Geschwindigkeit, die dem Gegner kaum noch Abwehrmöglichkeiten lässt.

Von Dagmar Röhrlich | 21.07.2020
Illustration des Flugs des russischen "Hyperschall"-Sprengkopfes "Avangard". Laut dem russischen Präsidenten Wladimir Putin ist die Waffe nicht abzuwehren - die USA arbeiten allerdings an ähnlichen Systemen.
Die russische "Awangard"-Hyperschall-Rakete würde mit einer Geschwindigkeit von Mach 25 ihr Ziel treffen - Abwehr praktisch nicht möglich (www.imago-images.de)
"Sarmat ist eine furchteinflößende Waffe, die von keiner existierenden oder künftigen Raketenabwehr ausgeschaltet werden kann."
Der 1. März 2018. Wladimir Putin hält die Rede an die Nation. Auf gigantischen Bildschirmen begleiten martialische Computergrafiken und Videos seine Worte:
"Ein niedrig fliegender Marschflugkörper, der einen Nuklearsprengkopf auf unvorhersehbarer Bahn an der gegnerischen Abwehr vorbei an jeden Ort der Welt bringt."
Das Schwerlastraketensystem RS-28 Sarmat wird mit Flüssigtreibstoff betrieben und kann auch von mobilen Abschussrampen abgefeuert werden. (Screenshot vom 19.7.2018) 
Das russische Schwerlastraketen-System RS 28 Sarmat kann bis zu bis 15 Atomsprengköpfe auf einmal aussetzen (imago stock&people)
Putin spricht von Waffensystemen wie Sarmat: Mit ihm greife man den Feind an, ohne dass der sich wehren könne.
Neuartige "Wunderwaffen" oder nur Computersimulationen?
Ulrich Kühn vom Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg:
"Für die Weltgemeinschaft war es schon so etwas wie ein Schock, als der russische Präsident Wladimir Putin eine ganze Reihe von Wunderwaffen ankündigte - darunter teilweise Waffen, die es noch gar nicht gegeben hat wie beispielsweise ein nuklear angetriebener Marschflugkörper oder ein nuklear bestückter autonomer Unterwasser-Torpedo."
Dossier: Atomwaffen
Experten sind zwar der Ansicht, dass einige der Systeme nicht mehr sind als Computersimulationen. Aber, so Ulrich Kühn:
"Wenn man mich vor zwei oder drei Jahren gefragt hätte, ob ein System wie ein nuklear betriebener Marschflugkörper überhaupt möglich ist, hätte ich gesagt: Das ist nicht möglich. Inzwischen wissen wir aber, dass die Russen wirklich daran arbeiten. Es hat Tests gegeben. Diese Tests waren bisher nicht vielversprechend. Es kam auch schon zu einem relativ heftigen Zwischenfall, bei dem es zu Opfern und Toten kam. Ich glaube aber, dass Russland hier wirklich eine ganze Menge Geld, Zeit und Manpower in die Hand nimmt, um diese Systeme umzusetzen. Sodass ich das letztlich nicht mehr ausschließen würde, dass wir vielleicht in zehn Jahren ein solches System dann auch operativ sehen."
Schwerlastrakete als Trägersystem für neuartige Sprengköpfe
Neue Trägersysteme wie die interkontinentale Schwerlastrakete Sarmat, die gleich zehn bis 15 Atomsprengköpfe auf einmal aussetzen kann, sind eine der Säulen bei der Modernisierung der Atomwaffenarsenale, und zwar eine ganz zentrale. Kühn:
"Es geht um Abschreckung. Abschreckung ist Psychologie, die entsteht im Kopf und in der Vorstellung des Gegenübers."
Auf Psychologie setzen die Entwickler der Hyperschall-Flugkörper: Russen, Chinesen, Amerikaner arbeiten daran, aber auch Inder oder Franzosen.
Hyperschallflugkörper an sich gibt es seit den 1960er-Jahren – in Form ballistischer Raketen, die mehr als das Fünffache der Schallgeschwindigkeit erreichen können. Interkontinentalraketen schaffen sogar Mach 27, wenn sie auf ihrer ballistischen Bahn aus dem Weltraum wieder in die Atmosphäre eintreten. Doch mit dieser Flugbahn fehlt ihnen jedes Überraschungsmoment.
Angriffswaffen gegen gut verteidigte Ziele
Hans Kristensen von der "Federation of American Scientists" in Washington, DC:
"Neu ist jetzt, dass einige Länder beginnen, Systeme mit geringerer Reichweite mit Hyperschall-Fähigkeit auszustatten. Sie sollen mit Hyperschallgeschwindigkeit auf kürzere Distanz fliegen, innerhalb der Atmosphäre, und ihr Ziel sehr, sehr schnell treffen."
Und Ulrich Kühn erläutert: "Der Einsatz solcher hypersonischen Flugkörper wäre wahrscheinlich dort geeignet, wo es darum geht, enge und dichte Verteidigungsmaßnahmen zu durchkreuzen, also beispielsweise um einen amerikanischen Flugzeugträger abzuschießen."
Manövrierbare Systeme technisch extrem anspruchsvoll
Die technischen Anforderungen an manövrierbare Hyperschallwaffen sind extrem hoch: Sie brauchen neue Steuersysteme, auch neue, hochhitzebeständige Materialien, neue Antriebe. Ihre "Scramjets"; "luftatmenden Strahltriebwerke" starten erst bei sehr hohen Geschwindigkeiten und werden deshalb von einer Trägerrakete oder einem Düsenflugzeug aus abgeschossen.
Der Flugkörper Boeing X-51A WaveRider - hier in einer Illustration - wurde in vier Exemplaren gebaut und zwischen 2010 und 2013 erprobt. 
Der Flugkörper X-51A WaveRider diente der US-Airforce zum Test von Hyperschall-Konzepten (imago stock&people)
Es sind im Grunde Hightech-Röhren, durch die Luftmoleküle mit Hyperschallgeschwindigkeit hindurchströmen. In den Bruchteilen von Millisekunden, die die Passage dauert, vermischen sie sich mit dem Kraftstoff, das Gemisch entzündet sich, expandiert und erzeugt den Schub. Bis zur Einsatzreife wird es wohl noch etwas dauern. Doch die Chinesen testen bereits.
Die einfachere Alternative: Hyperschallgleiter
Hyperschallgleiter sind einfacher zu konstruieren. Sie werden von einer ballistischen Rakete aus starten können und gleiten dann auf einer kaum vorherzusehenden Bahn in ihr Ziel. Ulrich Kühn:
"Diese hypersonischen Flugkörper fliegen quasi auf Wellen in der Atmosphäre hinab, und das macht es natürlich extrem schwierig für Raketenabwehrsysteme zu identifizieren, wo denn eigentlich genau das System ist."
1. Oktober 2019. China führt auf der Militärparade zum 70. Geburtstag der Gründung der Volksrepublik seinen Hyperschallgleiter DF-ZF vor. Einsatzbereich: wahrscheinlich Präzisionsschläge gegen Flugzeugträger. Höchstgeschwindigkeit: zehnfache Schallgeschwindigkeit. Mach 10.
Der russische Präsident Wladimir Putin beobachtet den Start des Hyperschall-Raketensystems Awangard per Videoschaltung im Kommandozentrum des Verteidigungsministerium in Moskau. (26.12.2018) Neben Putin sitzen hochrangige Militärs sowie der Verteidigungsminister Sergeij Schoigu. 
Wladimir Putin beobachtet den Start des Hyperschall-Raketensystems Awangard per Videoschaltung (imago stock&people)
27. Dezember 2019. Der russische Verteidigungsminister Sergeij Schoigu erklärt die Einsatzbereitschaft für den Hyperschall-Gleitflugkörper Awangard. Einsatzbereich: wahrscheinlich interkontinentale Präzisionsschläge. Höchstgeschwindigkeit: Mach 25.
Verkürzte Entscheidungszeit erhöht das Risiko der Eskalation
Bei beiden Systemen ist konventionelle oder nukleare Bestückung möglich. Gegenwehr: aufgrund von Geschwindigkeit und Manövrierfähigkeit derzeit unmöglich. Hans Kristensen:
"Das ist eine gefährliche Entwicklung, weil das Staaten sehr, sehr nervös macht und die Entscheidungszeit verkürzt."
Zwar dürften die meisten dieser Trägersysteme konventionell bestückt werden – nur sieht man ihnen das bis zur Explosion nicht an.
"Sie erhöhen das Potenzial für Missverständnisse und Überreaktionen enorm. Doch die Entwicklung ist in vollem Gang – bei allen großen Atommächten."
Das zieht noch mehr Fortschritt nach sich: Wegen der kurzen Entscheidungszeiten zwingen die hyperschnellen Trägersysteme die Atommächte, auch die Frühwarnsysteme zu beschleunigen. Das wiederum geht – wenn überhaupt - nur mit intelligenter Technik, die ihre eigenen Risiken hat.