Freitag, 29. März 2024

Archiv


Das Paradies liegt immer woanders

Der niederländische Schriftsteller Joost Zwagerman bezeichnet seinen neuen Roman "Onkel Siem und die Frauen" als Spiegelgeschichte zu Madame Bovary von Gustave Flaubert. Sie will in die große Stadt, Zwagermans Hauptfigur in die Provinz. Onkel Siem ist ein komplexes Anti-Bild zu allem Angesagten, Städtischen, vermeintlich Wichtigen.

Von Volkmar Mühleis | 31.08.2005
    Joost Zwagerman ist ein Chronist des auf den ersten Blick Unspektakulären, Alltäglichen, Modernen. Verschlafene Vororte, Supermärkte, Krankenhäuser gehören zu seinen Dekors. Er entführt seine Leser nicht in andere Welten, sondern bricht ein in die vage Selbstverständlichkeit der Bilder, die zwischen dem Vertrauten im Fernsehen und auf der Straße, im Beruf, dem eigenen Wohnviertel herrscht.

    Die Hauptfigur seines neuen Romans "Onkel Siem und die Frauen" wäre in einem deutschen Buch ein Fan von Rex Gildo gewesen, hätte für eine Zeitschrift wie Gala vielleicht gearbeitet und schlicht und einfach seine Freude daran gehabt, durch Fußgängerzonen von mittelgroßen Kreisstädten zu flanieren. Stattdessen ist Onkel Siem Chefredakteur und Erfinder der fiktiven Hotelzeitschrift Guten Morgen, für die er durch die niederländische Provinz reist, um bezahlbare, anständige Übernachtungsmöglichkeiten vorzustellen.

    Siem ist alles andere als eine bloße Karikatur. Er ist ein komplexes Anti-Bild zu allem Angesagten, Städtischen, vermeintlich Wichtigen. Bei dem Stichwort Rührung denkt er nicht einfach an Kitsch, sondern daran wie jemand aus Erfahrung spricht. Doch bei aller Sympathie für seine Hauptfigur, vermischt Joost Zwagerman die Konstellation mit einer wohlkalkulierten Dosis Ironie:

    "Der Schlüsselroman in Onkel Siem und die Frauen ist Madame Bovary von Gustave Flaubert. Onkel Siem fühlt sich angesprochen durch die ländliche Szenerie in dem Buch. Die Protagonistin, Emma Bovary, will davon bekannterweise überhaupt nichts mehr wissen. Sie möchte nur weg aus der Provinz und der Spießigkeit. Doch gerade die Schilderungen der strengen Sitten und Gewohnheiten gefallen Onkel Siem besonders. Er idealisiert jede Person, die Emma Bovary abscheulich findet. Mein Buch ist insofern eine Spiegelgeschichte von Madame Bovary: Sie will in die große Stadt, um sich zu befreien, Onkel Siem dagegen in die Provinz. Das Paradies liegt immer woanders."

    Onkel Siem ist nicht allein auf Tour, sondern mit seinem Neffen Justus. Siem ist sein Wunschvater - eigensinnig, humorvoll, abenteuerlustig. Als Erwachsener beginnt Justus für seinen Onkel zu arbeiten und ebenfalls Hotelbesprechungen zu schreiben. Bei dem Titel "Onkel Siem und die Frauen" möchte man nun vielleicht die verwegensten Frauengeschichten erwarten. Auf Niederländisch heißt der Roman jedoch "Sechs Sterne".

    Und damit wird sofort eine andere Perspektive eingenommen: Siem vergibt in seiner Hotelzeitschrift nämlich bis zu fünf Sterne für die empfohlenen Unterkünfte. Mit sechs Sternen bezeichnet er allein seine Frau Tilly. Auf Reisen hat er durchaus Frauengeschichten, doch erscheint er seinem Neffen nicht als draufgängerischer Bonvivant. Dann jedoch fährt ein Riss durch die gepflegte Selbstverständlichkeit: Justus, der seinen Onkel idealisiert hat, erfährt von dessen Selbstmord.

    "Das Leben in Hotels, unterwegs, ohne feste Bindung hat für Justus etwas von Unsichtbarsein. Er genießt das. Doch plötzlich konfrontiert ihn der Tod seines Onkels mit seiner schwächsten Seite, dass nämlich das Unsichtbarsein einem entgleiten kann, in den Selbstverlust. Jeder, der dieses Buch hier in den Niederlanden gelesen hat, weiß, dass Siem und Justus ein Land suchen und heraufbeschwören, das es nicht mehr gibt: Die unschuldigen Niederlande von gestern. Die Probleme jedoch, die sie haben, sind von heute. Und ihre Ängste haben sie mit Blick auf morgen."

    Die Flucht vor den Eigenschaften‛ scheinen Siem und Justus angetreten zu haben, denkt man an Robert Musils Begriff vom "Mann ohne Eigenschaften". Siem ist ins Leere gelaufen, das erkennt sein Neffe, doch er begreift es nur mühsam. Die kultivierte Unbedarftheit ist für Joost Zwagerman ein Sinnbild des niederländischen Lebensgefühls, wie es sich in Zeiten des Aufschwungs, des Poldermodells, der vielgerühmten Weltoffenheit manifestiert hatte, das jedoch mittlerweile ins Wanken geraten sei:

    "Bleib einfach normal, dann bist du schon verrückt genug, ist ein urholländischer Ausspruch. Fall bloß nicht auf, Vergreif dich ja nicht im Ton, usw. Das hat sich inzwischen völlig geändert. Jetzt kann man gar nicht verrückt genug sein, und noch immer ist man der perfekte Niederländer. Niederländer erkennt man heute an ihrer manischen Ausgelassenheit. Und das ist nicht zuletzt für viele Holländer selbst ein Kulturschock! Wer sieht am seltsamsten aus während der Fußballweltmeisterschaft? Die Niederländer. Wer flippt am meisten aus? Die Niederländer. Wer ist am hysterischsten sowohl im Jubel als auch im Traurigsein? Die Niederländer. Die Reaktionen zum Beispiel auf die Ermordung von Pim Fortuyn vor drei Jahren waren nicht allein Trauer und Schock, sondern vor allem Hysterie. Seitdem sind die Niederländer wie Fähnchen im Wind, und suchen deshalb nicht weniger übertrieben nach ihren Wurzeln."

    Diese Gemengelage weiß Zwagerman in seine Geschichte einzubetten, ohne sie selbst ausführlich zu thematisieren. Im Vordergrund steht die Selbstreflexion von Justus, wie es zum Selbstmord seiner Onkels kommen konnte. Der Romancier hat im Juni in den Niederlanden ein Buch mit Gesprächen veröffentlicht, wie Kollegen von ihm den Freitod von Freunden oder Familienmitgliedern betrachten. Sein eigener Vater hatte versucht, sich das Leben zu nehmen. Dieses Ereignis stellte Joost Zwagerman in Bezug zur Geschichte von Onkel Siem und Justus durch ein Zitat von John Berryman, das er dem Schluss des Romans hinzufügte. In der deutschen Ausgabe fehlt es ärgerlicherweise, eröffnet es doch eine weitere Dimension des Textes. Sinngemäß heißt es:

    "Alles hängt davon ab, wessen Vater du warst, wenn du dich selbst töten willst."

    Als sein engster Mitarbeiter und Ersatzsohn bezieht Justus die Tat seines Onkels auf sich. Hat er denn im vorhinein nichts bemerkt? Hätte er ihm nicht helfen können? Zwagerman selbst hatte die Möglichkeit, seinen Vater danach zu fragen. Mit den Büchern Onkel Siem und die Frauen und dem niederländischen Door eigen hand - Von eigener Hand - hat er die Problematik zu umreißen versucht. Als ebenso erschreckend wie vielsagend erscheint ihm dabei die Geschichte von Ernest Hemingway:

    "Hemingway hatte seinen Vater durch Selbstmord verloren. Als Kind wie auch später noch als Erwachsener bewunderte er ihn sehr, auch wenn er natürlich nie verstanden hat, warum sich sein Vater das Leben genommen hatte. Wenn der Vater einem als Vorbild dient, dann ist sicher das letzte, was man von ihm zu hören erwartet: Das Leben hat keinen Sinn. Denn man fühlt sich dadurch verraten, schließlich hat er einen mit hier ins Leben geholt. Zu dem Zeitpunkt, da Hemingway genauso alt war wie sein Vater, als dieser Selbstmord beging, hat er sich dann auf exakt die gleiche Art umgebracht: Mit dem Gewehr an der Schläfe."

    Was spielt in den Tod von Onkel Siem mit hinein, weshalb wendete er sich ab von seiner Frau, seinem Neffen? Ein Ersatzsohn war Justus tatsächlich gewesen: Tilly und Siem hatten keine Kinder bekommen, und während sie fortan die Idylle eines Zuhauses hochhielt, kompensierte er die entstandene Entfremdung mit Bordellbesuchen und schlechten Affären. Justus strauchelt immer wieder darüber, als Erwachsener nicht gleichwertig seinem Onkel erscheinen zu können, sondern stets in den Rolle des Jungen verhaften zu bleiben. Er ist Teil der Kompensation, dieser aufrechterhaltenen Rückwärtsgewandtheit, der Nostalgie als Geschäft und Lebensform. Bis Siem eines Tages sich in eine Frau neu verliebt und seine Fassadenschieberei ihren Sinn verliert. Vor die Entscheidung gestellt, fällt er in sich zusammen.

    Joost Zwagerman erzählt diese Geschichte sehr direkt, als eine spannende Recherche, der jedoch weite Verzweigungen zugrunde liegen, die dem Buch den nötigen Nachdruck verleihen. Wie einem das eigene Leben entgleiten kann, zeichnet er in Interieurs nach, die banal zu sein scheinen, doch die es ihm erlauben, in dem vermeintlich ereignislos Alltäglichen die Melancholie und Bedrücktheit indirekt und dadurch umso wirksamer entstehen zu lassen. Der Roman erreicht einen unerwartet - von der rosafarbenen Gemütlichkeit her, die Onkel Siem so liebt.

    Joost Zwagerman: Onkel Siem und die Frauen.
    Verlag Kiepenheuer & Witsch