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"Das Prinzip"
Die Wirkung von Heisenbergs Entdeckung der Quantenmechanik

In seinem neuen Roman "Das Prinzip" spürt Jérôme Ferrari der Wirkung nach, die Werner Heisenbergs Entdeckung der Quantenmechanik auf unsere Wahrnehmung der Welt und das Sprechen hat. Ferrari enthüllt dabei die politische Naivität des von der Schönheit der Formeln wie der Natur beseelten Physik-Nobelpreisträgers.

Von Sigrid Brinkmann | 10.08.2015
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    Werner Heisenberg erhielt 1932 den Nobelpreis für Physik (picture alliance / Georg Goebel)
    "23 Jahre waren Sie alt, und hier, auf dieser trostlosen Insel, auf der keine einzige Blume blüht, war es ihnen zum ersten Mal gegeben, Gott über die Schulter zu schauen."
    Helgoland, 1922. In einem langen Monolog - Distanz zur Person Werner Heisenbergs wahrend - vergegenwärtigt Jérôme Ferrari den Taumel, in den der Physiker geriet, als dieser die Quantenmechanik entdeckte und erkannte, dass die Substanz der Welt nicht materiell ist und sich alles immerzu in Auflösung befindet.
    "Es gab nur eine Abfolge einzelner Ereignisse, das die Nacht erhellende Aufleuchten flüchtiger Existenzen. Keine Permanenz. Keine Kontinuität. Keine einzige Bahn - eine Armee jedoch blutleerer Schreckgespenster, die mit unbestimmbarer Geschwindigkeit die Wilson-Kammer durchzogen, schemenhaft leibhaftig werdend, um in den Nebel hinein den Abdruck ihrer vagen Konturen zu prägen. Und dies ist eben das Prinzip."
    Jérôme Ferrari versucht, zu beschreiben, was sich hinter der sichtbaren Wirklichkeit verbirgt. Ganz so wie der Wissenschaftler Heisenberg, der danach verlangte, "jenseits des Offensichtlichen zu sehen". Ferrari nähert sich dessen fiebriger Ergriffenheit radikal subjektiv, vermeidet aber bewusst jede Seelenschau. Es gibt keine einzige Dialogpassage in dem Roman, dafür eine Liste bedrängender Fragen, die der Ich-Erzähler mit der Feststellung quittiert: "Unentwirrbar ist dies."
    Im Gespräch bekennt sich Jérôme Ferrari zur Lücke. Unerträglich vermessen und auch überflüssig hätte er es gefunden, eine philosophische Romanbiografie zu schreiben. Ferraris Stärke besteht im Herausheben einzelner Momente, so, wenn sein Erzähler sich vorstellt, wie Werner Heisenberg 1937 an einer Leipziger Straßenecke steht und Spenden für die Winterhilfe sammelt. Man vollzieht mit, wie sich die Welt im Auge des Wissenschaftlers in eine grotesk wirkende Theaterbühne verwandelt haben dürfte.
    "Das Romanvorhaben hat große Veränderungen durchlaufen, bis ich zu schreiben begann. Anfangs wollte ich in erster Linie über das Verhältnis von Sprache und Realität und über die poetischen Facetten der Quantentheorie schreiben. Ich wollte die Unschärferelation mit der Literatur verbinden. Nach und nach sah ich mich aber doch gezwungen, die moralischen und politischen Aspekte der Entdeckung mit einzubeziehen. Dass mich dies zunächst kaum interessierte, hat sicherlich auch mit der Furcht zu tun, ich könne der Verantwortung nicht gewachsen sein. Lektionen erteilen, das ist nun wirklich das Letzte, was ich will."
    Jérôme Ferrari fokussiert auf folgenreiche Lebensentscheidungen des Nobelpreisträgers. Dazu gehört dessen Entschluss, 1933 nicht ins Exil zu gehen, sondern in Deutschland auszuharren und zusammen mit Max Planck wissenschaftliche "Inseln des Bestands" zu bilden. Heisenberg, der beauftragt worden war, das Atomprogramm der Nationalsozialisten zu leiten, wusste, dass er sich kompromittierte. Von Juli 1945 bis Januar 1946 wurde er mit neun deutschen Kernphysikern auf Farm Hall in Großbritannien festgehalten. Die Alliierten wollten ihnen Informationen über den Fortschritt des deutschen Uranprojektes ablauschen.
    Mit wunderbar leichter Ironie beugt sich Ferrari über die Eifersüchteleien der nervösen Wissenschaftler. Ernst wird sein Ton, als er schildert, wie der Abwurf der Atombombe über Hiroshima die Forscher verzweifeln lässt. Sie spürten genau, dass die Zündung der Bombe die Physik, wie der Autor sagt, entwürdigt hatte.
    "Mein größtes Problem - wenn ich jetzt mal eine Kategorie der Psychologie der Schöpfung bemühen darf - bestand darin, meine Empathie für Heisenberg beim Schreiben zu zügeln. Mein Mitgefühl war so groß, dass ich zum Beispiel Schwierigkeiten hatte, beim Lesen der Abhörprotokolle von Farm Hall zu verstehen, was man den internierten Physikern vorwarf. Ich fand, dass ihre in Gesprächen geäußerten Ansichten sich nicht auffällig unterschieden von der damals geläufigen Art, Zwangslagen darzustellen. Dass bei einer Abhörung rund um die Uhr auch viel Belangloses aufgezeichnet wurde, musste ich erst mal in meinen Kopf bekommen. Die Gefahr, dass der Roman in eine staunende Apologie abgleiten könnte, war mir schon bewusst. Ich wollte nicht anklagen und genauso wenig eine Verteidigung schreiben."
    Ferrari bricht die Chronologie auf und wechselt zwischen Schauplätzen in Deutschland, Dänemark, Großbritannien und Korsika. Das Erzähler-Ich wechselt seine Identität. Auf den letzten Seiten lässt Ferrari es in die Haut eines amerikanischen Soldaten schlüpfen, der Werner Heisenberg 1946 - nach der Entlassung aus Farm Hall - im bayrischen Urfelden aufsucht. Beide richten den Blick auf ein wunderschönes Bergmassiv, doch sieht jeder etwas ganz anderes. Jérôme Ferraris hat ein ungeheuer sicheres Gespür für Ambivalenz, die in erzwungener Gesellschaft zu knistern beginnt. "Das Prinzip" ist ein souverän geschriebener Roman, ideologiefrei, poetisch und lebensklug: ein "chef d'oeuvre".
    Jérôme Ferrari: "Das Prinzip"
    Roman, aus dem Französischen von Christian Ruzicska und Paul Sourzac, Secession-Verlag für Literatur, Zürich 2015, 133 Seiten, Preis: 19,95 Euro