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Das Rätsel um die Entstehung der Arten

Evolution.- Der Begriff "Kambrische Explosion" bezeichnet den Zeitpunkt, als erstmals alle heutigen Tierarten gleichzeitig existierten. Allerdings weiß man heute, dass auch vor der Kambrischen Explosion Tiere lebten - zum Beispiel Schwämme oder rätselhafte Organismen ohne Maul oder Magen.

Von Dagmar Röhrlich | 19.12.2011
    Agnostus war nur ein paar Millimeter lang, wahrscheinlich ein Trilobit, eines der ältesten Tiere der Welt - und augenlos. Das machte ihn für Charles Darwin zum Symbol für das Rätsel "Kambrische Explosion":

    Damals schienen wie aus dem Nichts die ersten Vertreter fast aller heutiger Tierstämme aufzutauchen. Und in diesem speziellen Fall war es sogar eine blinde Art. Da aber jede Art von einfacheren Ahnen abstammen sollte, hatte Darwin ein Problem: Als Ausgangspunkt war Agnostus einfach unmöglich. Heute wissen Paläontologen dank Fossilfunden und moderner Analysetechnik, dass die Evolution der Tiere weit vor dieser Kambrischen Explosion begonnen hat. Aber warum und wie sich damals große, gepanzerte Organismen mit Mäulern verbreiteten, darüber debattieren die Forscher immer noch:

    "Es gibt verschiedene Hypothesen dazu, was vor rund 540 Millionen Jahren die Kambrische Explosion angetrieben hat. Wir haben versucht, die Ideen zu prüfen, in dem wir die Fossilfunde der vergangenen Jahre mit den Ergebnissen von molekularen Uhren kombinieren."

    Douglas Erwin am Amerikanischen Nationalmuseum für Naturgeschichte. Der Begriff "molekulare Uhr" steht dabei für eine Methode, die mithilfe von Veränderungen im Erbgut zweier Arten bestimmt, wann der letzte gemeinsame Ahne der beiden gelebt hat. Das Prinzip: Je mehr Mutationen, desto mehr Zeit ist vergangen:

    "Weil wir nicht wissen, wie schnell diese Veränderungen im Erbgut abgelaufen sind, müssen wir die molekularen Uhren eichen. Dazu setzten wir Fossilien ein, bei denen wir den Zeitpunkt ihres ersten Auftauchens gut kennen, solche aus dem Kambrium etwa, aber auch jüngere wie Fliegen, deren Ursprung gut bekannt ist."

    Um zu sehen, wie sich der Stammbaum der Tiere entwickelt hat, nutzten Douglas Erwin und seine Kollegen die genetischen Analysen von 115 heute lebenden Arten. Deren Wurzeln reichen weit in die Erdgeschichte zurück.

    "Zu den Schlüsselergebnissen unserer Arbeit gehört, dass der letzte gemeinsame Urahn aller Tierarten von heute vor mehr als 800 Millionen Jahren gelebt hat. Schon sehr früh erschienen dann die Schwämme und Nesseltiere, zu denen die Quallen und Seeanemonen gehören. Dann gab es eine lange Pause, in der nichts passiert ist, vielleicht, weil es stressige Zeiten waren."

    Ursache des Stresses sind die schweren Eiszeiten, die es damals gab. Zwischen 760 und 635 Millionen Jahren könnte die Erde zweimal zu einem Schneeball gefroren sein: Dann wäre sie von den Polen bis zum Äquator von einem mehr oder weniger dicker Eispanzer bedeckt gewesen. Jedenfalls schien in dieser Phase die Evolution zu pausieren. Erst vor 580 Millionen Jahren ging es weiter, wie erste Fossilfunde zeigen. Richtig dynamisch wurde es dann vor rund 540 Millionen Jahren mit der Kambrischen Explosion:

    "Unser wahrscheinlich interessantestes Ergebnis ist, dass mit der Kambrischen Explosion die sogenannten Kronengruppen auftauchen, die für die letzten gemeinsamen Ahnen aller Tierarten von heute stehen. Unseren Analysen zufolge lebte damals beispielsweise der letzte gemeinsame Vorfahr aller Glieder- und Weichtiere - also unter anderem der Krebse, Insekten, Muscheln oder Kopffüßer."

    Diesen Analysen zufolge war die Kambrische Explosion also ein "reales" Ereignis, bei dem die Ahnen der heute lebenden Tiere tatsächlich zum ersten Mal auf der Bühne erschienen:

    "Trotzdem geben unsere Ergebnisse beiden Forschergruppen recht: denen, die erklären, dass die Kambrische Explosion für eine sehr schnelle Artenbildung und schnelle Veränderungen in der Evolution steht, und denen, für die Tiere eine ältere Geschichte haben. Beide haben recht, aber mit Blick auf verschiedene Stadien."

    Zunächst gingen vor 800 Millionen Jahren einfache Tiere an den Start, dann spalteten sich die Urahnen der Schwämme und Nesseltiere ab. Und dann – mit der Kambrischen Explosion – entstanden die mit Kopf, Verdauungstrakt, Armen und Beinen. Und damit könnten die Schwämmen etwas zu tun haben:

    "Wir nehmen an, dass besonders die Schwämme die Umwelt stark verändert haben. Wenn sie sterben, begraben sie ein wenig Kohlenstoff im Sediment. Außerdem fressen sie eine Menge organischer Substanz, die dann nicht mehr verrotten und dabei Sauerstoff verbrauchen kann. Dadurch stieg der Sauerstoffgehalt im Wasser, komplexere Tiere wurden möglich. Die Schwämme hätten danach die spätere Evolution anderer Gruppen ermöglicht."

    Die Würmer könnten ihnen dabei geholfen haben. Sie gruben den Meeresboden um und belüfteten ihn, so dass mehr Bakterien und Einzeller dort leben konnten und es mehr zu fressen gab. Das verlieh der Evolution zusätzlichen Schub. Diese Ergebnisse legen nahe, dass die Grundlage der Kambrischen Explosion Umweltveränderungen waren, die von den Tieren selbst angetrieben wurden: Sie selbst veränderten die Systeme so, dass sich immer vielfältigere Formen entwickeln konnten. Charles Darwin wäre begeistert.