Samstag, 20. April 2024

Archiv

"Das Salz in der Wunde"
Die innere Leere eines Parvenüs

In der schillernden Pariser Literaturszene der 20er-Jahre war Jean Prévost nicht nur ein Name, sondern vor allem ein Auftritt: Zur Stelle, wenn es Beiträge für die einschlägigen Literaturmagazine der Zeit zu schreiben galt. Mit seinem Buch "Das Salz in der Wunde" über einen französischen Parvenü zeigt er sich als bildgewaltiger Erzähler.

Von Anja Hirsch | 10.08.2015
    Ein Buch fächerartig aufgeschlagen
    Prévost war auch Mitglied der französischen Résistance - und wurde 1944 von deutschen Soldaten erschossen. (imago/Mint Images)
    Zum Sport bezog Jean Prévost klar Position. Fußball, Rugby, Kajakfahren standen bei ihm hoch im Kurs, Golf und Tennis dagegen eher nicht - für ihn nur "ein trauriger Tanz beim Warten auf den Nachmittagstee", wie er verächtlich schrieb. Auf die Frage nach seiner Idealvorstellung vom Glück soll er mit 34 Jahren geantwortet haben: Anarchie in allem. Die höchste Tugend war ihm die Verwegenheit, das größte Laster die Dankbarkeit. Dadaismus und Surrealismus lagen ihm fern. Auch als Literaturvermittler - er schrieb bald für wichtige Pariser Literaturmagazine - mied er Trends und entdeckte lieber neue Autoren wie Antoine de Saint-Exupéry. Prévost - ein hoch gebildeter, im Gespräch arroganter, schnell aufbrausender Alleskönner: Das ist das Bild, das Zeitgenossen und Biografen von ihm zeichnen.
    Impulsiv und zunächst unsortiert ist auch der Held Crouzon, den sich Prévost für seinen Roman "Das Salz in der Wunde" ersonnen hat. Ursprünglich sollte er "Revanche", "Rache", heißen, nach der Kraft, die hier alles in Bewegung bringt, einsetzend im Jahr 1924. Crouzon, ein Jurastudent mit fast fertiger Doktorarbeit in Paris, steht nach einem unrühmlichen Vorfall mit einem Freund, dem er nach falscher Anschuldigung einen Kopfstoß versetzte, an einem Scheideweg. Im Bekanntenkreis, meint er, meidet man ihn seitdem. Wo soll er hin, wie seine Zukunft gestalten?
    "Anwalt? Jurist und Rechtsgelehrter? Er hatte weder für Politik noch für große Reden etwas übrig. Dabei fand er in der Öffentlichkeit durchaus Anklang, mit seinen dunklen Haaren und der hageren Statur, der geraden Nase und dem schmalen Kinn; bei Studentenversammlungen sprach er aus dem Stegreif, glänzte eine Zeit lang; und gerade, wenn er am mitreißendsten war, hörte er abrupt auf, schnitt sich mit einer sarkastischen Bemerkung selbst das Wort ab. Die einen fanden ihn etwas seltsam, die anderen hochmütig."
    Trotziger Wechsel in die Provinz
    Crouzons trotziger Wechsel in die Provinz - er will es seinen Freunden unbedingt zeigen - stößt tatsächlich eine unglaubliche Erfolgsgeschichte an. Zupackender Charme vertreibt schnell jede Feindseligkeit, die dem Großstädter anfänglich entgegenschlägt. Er arbeitet als Wahlkampfhelfer und Journalist. Bald gehören ihm durch geschicktes Agieren Zeitung und Druckerei, deren lukrativste Einnahmequelle Anzeigen und Werbeplakate sind. Er ist allgemein beliebt, dieser sehnige Meister im Hochsprung, der auf Tischgesellschaften originell Konversation macht und alt wie jung bezirzt. "Das Salz in der Wunde" besticht zunächst als Zeitroman, durchströmt vom Innovationsrausch der Industriegesellschaft nach dem Ersten Weltkrieg.
    "Nach einem schnellen Mittagessen traf er sich mit seinen wichtigsten Anzeigekunden. Um fünf kehrte er in sein Büro zurück, bis acht diktierte er seiner Sekretärin Briefe. Abends aß er eine Milchsuppe und Obst und ordnete bis zehn seine Papiere; danach half ihm ein heißes Bad, einzuschlafen - sofern er keine neue Eingebung hatte, denn gerade bei der Ablage kam er oft auf neue Ideen. In diesen Fällen schrieb er, durch ein kaltes Bad und eine Massage mit dem Rosshaarhandschuh belebt, bis Mitternacht im Schein seiner Schreibtischlampe."
    Zügig und lebendig erzählt Prévost vom Erfolg eines Emporkömmlings, wie ihn seinerzeit auch Autoren wie Balzac, Maupassant oder Émile Zola schilderten. Mit feinem Strich gelingt ihm auch die Darstellung der Schattenseiten dieser Existenzweise. Crouzon ist bald körperlich ausgebrannt, seine zermürbenden Selbstzweifel für den Leser jederzeit greifbar. Dieser zwischen Moral und Ehrgeiz unstet agierende, ambivalente Charakter trägt den Roman.
    "Er empfand Mitleid für diese glühenden, unglücklichen Männer, ein Gefühl, das fast allen Beleidigten gemein ist: Was gibt es Mitleiderregenderes als eine Menschenmenge? Dennoch ging er zu Docteur Loubin und trank Champagner: Er wollte mit seiner Bosheit und seinem Frohsinn einschlummern."
    Langsam legen sich Wut und Eitelkeit
    Langsam aber legen sich Wut und Eitelkeit. Diese allmähliche Wesensveränderung eines Unternehmers, der sich durchaus mit Kalkül die Beliebtheit seiner Kunden erkauft, unter anderem durch riskante Hilfsaktionen bei einem Großbrand, ist die fast noch spannendere Geschichte hinter dem prächtigen Zeitkolorit. Diese Konzentration auf das Innenleben unterscheidet ihn von vergleichbaren Stoffen, wie etwa Thomas Manns Buddenbrooks. Bei Prévost agiert ein Mann mit Visionen, der mit glücklicher Hand den Zeitgeist erfasst. Im richtigen Moment setzt er auf drahtlose Telefonie und Phonografen und gründet erste Restaurants.
    Es bleibt aber auch seine Verletzlichkeit spürbar, in hingestotterten, inneren Kurzmonologen oder pointierten Dialogen, die harsche Risse hineinschlagen in diese ordentlich chronologisch erzählte Lebensbilanz. Nicht Geld, sondern eine langsam wachsende Liebe füllen schließlich die innere Leere dieses Parvenüs, der Großes schafft und lernt, sich selbst dabei als etwas Kleines zu sehen. Umgeben von unterschiedlichsten Frauengestalten, manche wie aus alten, romantischen Filmen, entsteht so ein bisweilen rührendes Kammerspiel, genährt von Intrigen und Naivität, den Urstoffen menschlichen Empfindungshaushalts.
    Der Literaturwissenschaftler und Frankreichkorrespondent Joseph Hanimann hat ein unbedingt lesenswertes Nachwort beigesteuert. Patricia Klobusiczky hat diesen Roman aus dem Französischen souverän übertragen, mit ungewöhnlichen, griffigen Ausdrücken, wie zum Beispiel "Fracksausen" oder der Ausruf "diese Pappenheimer". Und vielleicht ist der Roman eben doch durchaus expressionistisch, eine Variation auf einen Kerngedanken dieser Epoche: dass übermächtiges Erleben starken Aktionismus auslöst. Diese Kraft hat sich auf Jean Prévosts Schreiben übertragen. Mit dieser gründlich edierten, mit Anmerkungen zu Zeitbezügen versehenen Ausgabe seines Romans "Das Salz in der Wunde" ist er nun als bildkräftiger Erzähler zu entdecken.
    Buchinfos:
    Jean Prévost: "Das Salz in der Wunde", Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky., Nachwort von Joseph Hanimann, Manesse Verlag, Zürich 2015, 275 Seiten, Preis: 14,95 Euro