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Das Schöne als Wegweiser und Hindernis

"Es gibt nichts Verdächtigeres als die Behaglichkeit, mit der man über das Schöne verhandelt hat", mit diesen Worten beginnt der Philosoph und Sinologe François Jullien sein jüngstes Buch, worin er sich mit einem der wirkmächtigsten Begriffe unserer westlichen Kultur auseinandersetzt - dem des "Schönen", der seit der griechischen Antike, über das Christentum bis in die Neuzeit die Kunst, die Ästhetik, die Philosophie beherrscht hat.

Von Astrid Nettling | 24.01.2013
    Und selbst die "nicht mehr schönen Künste" der Moderne, die sich von seiner Vorherrschaft zu befreien suchten, stehen noch in dessen Bann. Was aber hat im Westen überhaupt zu dieser Wirkmacht des Schönen geführt? Dazu, dass aus der reichen Palette von dem, was wir als schön bezeichnen, "das Schöne" extrahiert und als Ideal künstlerischen Schaffens verabsolutiert werden konnte?

    "Das Schöne hat über der europäischen Kultur gethront, ohne dass man die Befangenheiten erkundet hätte, auf die es sich stützte. Die Moderne hat gegen das Schöne revoltiert, ohne jene nennenswert zu erhellen. Das 'Schöne' versteht sich also nicht von selbst. Doch wie kann man die Fragen aus einer angemessenen Distanz stellen, um eine solches Maß an Konformismus ins Wanken zu bringen?"

    Wie in seinen anderen Büchern auch geht es Jullien nicht bloß um die Befragung unserer Tradition von innen, sondern darum, die Denkbahnen, welche die westliche Tradition seit ihren Anfängen eingeschlagen hat und in deren "Spurrillen" unser Denken sich bis heute bewegt, von außen, von woanders her befragbar zu machen - von China, dessen Tradition und dessen Kunst weder "das Schöne" noch die Vorherrschaft "des Schönen" kennen. Denn anstatt "das Schöne" wie die Venus von Botticelli in idealer Vollkommenheit aus dem Meer des ewig bewegten Seienden als eine zeitlos gültige Idee heraussteigen zu lassen, verfolgt die chinesische Tradition seit je einen geradezu konträren Weg. Den der Zurücknahme alles isoliert Hervorstechenden zugunsten einer ständigen Trans-Formation der Dinge, deren Bewegung und Lebendigkeit auch der Maler in seiner Kunst einzufangen hat. Einen Berg bei klarem Wetter abzubilden, sei leicht, heißt es in einer Schrift über die Malerei, meisterhaft hingegen, den Übergang von klarem Wetter hin zu Regen oder Nebel zu malen, wenn die Dinge in Unbestimmtheit absinken, hervortreten und wieder eintauchen, zwischen Vorhandensein und Nichtvorhandensein schwankend. Hier, so Jullien, "verleiht keine Form Stabilität, wovon könnte sich "das Schöne" also ablösen, um ein eigenes "Sein" zu behaupten?" Auch deshalb, hebt er hervor, sei in der bildenden Kunst Chinas gänzlich unbeachtet geblieben, worin "die Griechen ihren Begriff von der Schönheit gefunden haben" - der menschliche Akt, der zwar "in der Unmittelbarkeit des sinnlich Wahrnehmbaren" entstehe, doch zugleich "das sinnlich Wahrnehmbare in eine Form umschlagen lässt, die ideal ist". Denn einzig dem Schönen als dem "Hervorleuchtendsten", wie es bei Platon heißt, kommt die besondere Bedeutung zu, als Idee auch im Sinnlichen offenbar zu werden. Und diese "Offenbarung", so Jullien, hat die westliche Kunst in ihren großen Akten immer und immer wieder ins Werk gesetzt.

    "Indem die großen Aktdarstellungen den Körper vollkommen enthüllen, zerreißen sie zugleich das kontinuierliche Gewebe der Phänomene, um endlich dahinter 'blicken' zu lassen; sie brechen mit der Verschwommenheit der Rhapsodie unserer Sinne und isolieren ein eigenes und endgültiges Wesen. Aus dem Innersten des sinnlich Wahrnehmbaren ziehen sie etwas Absolutes, dem es an nichts mehr mangelt. Einen großen Akt zu betrachten bedeutet in jedem Fall, den Bereich der Metaphysik zu betreten."

    China hat einen solchen Schritt in die Metaphysik nicht vollzogen, wie Jullien in seiner präzisen Übersetzungslektüre an vielen seiner klassischen Texte aufzeigt. Das Denken Chinas ist von Anbeginn nicht metaphysisch. Daher kennt es auch nicht die Dualität getrennter Sphären, die im Westen die antike, die christliche und die neuzeitliche Metaphysik bestimmt hat, kennt nicht "das Schöne" und seine Gespanntheit zwischen diesen Sphären, zwischen Sinnlichkeit und Intelligibilität, zwischen Körper und Geist, zwischen dem Unmittelbaren der Sinneswahrnehmung und der Transzendenz, kennt somit auch nicht die schwierige Vermittlungsleistung, die man deshalb "dem Schönen" aufgebürdet hat. "Wenn man demgegenüber feststellt", so Jullien, "daß China die Vorstellung von 'Bergen und Flüssen' besaß, die sich einzig im Spiel ihrer Polaritäten entfalten", ohne dass etwas aus diesem immanenten Spiel ständiger Trans-Formation heraustritt, um sich als ein Absolutes zu erheben, dann kann man, so Jullien, "das Schöne aus dieser falschen begrifflichen Evidenz befreien, in der es fixiert gewesen ist." Wenn man also die metaphysische Last, die "das Schöne" bei uns jahrhundertelang zu tragen hatte, von seinen dafür viel zu zarten 'Schultern' nimmt und diesem schönen Körper hier oder jener schönen Landschaft dort das immanente Spiel von "Hervortreten und wieder Eintauchen", von Sich-Zeigen und Sich-Verbergen, in freier Selbstentfaltung gestattet, dann könnte sich auch unser Verhältnis zum Schönen entspannen. Dann könnten wir, wie Jullien formuliert, "das Schöne endlich in seiner Fremdartigkeit wiederherstellen", das heißt, es aus dem Griff der Metaphysik entlassen, ihm stattdessen mit Offenheit und Staunen begegnen und seinem freien Selbstentfaltungsspiel in schöner Gelassenheit beiwohnen.

    "Wir haben dem Schönen lange Zeit unsere Weihrauchopfer dargebracht. Es ist Zeit, die impliziten Annahmen, die dem Schönen sein Vorrecht verschafft haben, an den Tag zu bringen; zu ermessen, welche Wege das Schöne eröffnet und welche es versperrt hat."

    Literatur
    François Jullien: "Die fremdartige Idee des Schönen"
    Passagen Verlag, Wien 2012
    190 Seiten, 24 Euro