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Das Schweigen und die Grenzen

Früher gehörte der Ort, in dem Jan Böttchers Roman spielt, zu Hannover, 1945 wurde es der DDR zugeschlagen. Nach 1989 gehörte es erst zu Mecklenburg, jetzt wieder zu Niedersachen. Familien wurden in Ost und West geteilt. "Nachglühen" nennt Böttcher seinen vor Ort recherchierten Roman, in dem er davon erzählt, mit welcher Macht Grenzen auch über 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung noch wirken.

Von Detlef Grumbach | 16.06.2008
    "Na ja, wenn man es ganz herunter bricht, dann ist es die Grenze zwischen Sprache und Schweigen, zwischen dem, was gesagt wird und dem, was nicht gesagt wird. Das ist die klarst fassbare Grenze in dem Buch überhaupt."

    Das Schweigen und die Grenzen sind die zentralen Bilder dieses Romans, den ein junger westdeutscher Autor über die Nachwirkungen des DDR-Grenzregimes in einem kleinen, niedersächsischen Ort an der Elbe geschrieben hat. Beide entfalten ihre Kraft vor allem daraus, wie sie eingebettet sind in eine wohl einmalige, historisch gewachsene Landschaft:

    "Und das kam zusammen mit dem Blick auf die Landschaft, der mich immer zugleich beglückt und auch befremdet hat. Also dort zu sein im Amt Neuhaus in einer auf den ersten Blick wunderschönen Gegend, mit einem Himmel, mit einer Weite, mit niedersächsischen Bauernhäusern und Höfen, mit dem wundervollen Blick auf die Elbe jetzt vom Deich aus. Also ich bin ein großer Fan der Landschaft und habe mit natürlich auch immer die Frage gestellt, die Landschaft durchschreitend: Warum ist die so schön? Und da gibt es natürlich so etwas wie die Ironie der Geschichte und die Ironie der Schönheit auch."
    Durch die Landschaft geht ein Riss. Früher gehörte das Amt Neuhaus zu Hannover, Niedersachen, 1945 wurde es der DDR zugeschlagen. Nach 1989 gehörte es erst zu Mecklenburg, jetzt wieder zu Niedersachen. Familien wurden in Ost und West geteilt, im Dorf haben die einen von der Grenze profitiert, waren als Hilfstruppen der Grenzer unterwegs, während andere zu Opportunismus und Verrat einfach schwiegen. Dass keine DDR-Neubauten und riesige LPGs die Landschaft prägen, hat seinen Grund in der Grenzlage. Hier wurde eher abgerissen, wurden Bürger, die als unzuverlässig galten oder Westkontakte hatten, umgesiedelt. "Nachglühen" nennt Jan Böttcher seinen vor Ort recherchierten Roman, in dem er davon erzählt, mit welcher Macht Grenzen auch über 15 Jahre nach der deutschen Vereinigung noch wirken, Grenzen, die der Mittdreißiger aus Lüneburg auch während seines Studiums an der Berliner Humboldt-Universität erlebt hat.

    "Es gibt natürlich eine biographische Verbindung zu dem Landstrich am Neuhaus, weil es wirklich nicht weit von meiner Heimat entfernt liegt und heute sogar wieder zum Landkreis Lüneburg gehört, wo ich herkomme. Insofern gibt es innerhalb der Landschaft die Überblendungen und die Brüche, und in meiner Biographie sicherlich auch verschiedene Phasen."
    Im Prolog erzählt Böttcher, wie die Leute im Herbst 1989 den Deich erobern, der jahrzehntelang zum Sperrgebiet gehört hat, auf dem nur die Grenzer patrouillierten: ausgelassene Stimmung, ein Fest, alles ist in Bewegung, auch die Sprache strotzt vor Kraft und Dynamik. Arme werden hochgerissen, "Jaaaaa" ruft Jo Brüggemann und wirft den Radiorekorder in die Luft, "Neeeiiiin" brüllt er, als er ihn nicht wieder auffangen kann. Und dann kippt die Stimmung. Erst die Angst vor den wirklichen Minen. Dann auch die vor denen in den zwischenmenschlichen Beziehungen. "Jens könnte jederzeit auftauchen", denkt Jo Brüggemann, "alles ist jetzt möglich." Jetzt schleicht er mit gesenktem Kopf. Jens Lewin und Jo Brüggemann waren Nachbarsjungen, Freunde, die nach der Schule viel Zeit miteinander verbracht haben - bis Jo plötzlich im Jugendknast gelandet ist.

    Der Roman setzt gut 15 Jahre später ein. Beide, Jo Brüggemann und Jens Lewin hatten den Ort nach der Wende verlassen. Jetzt kehren beide zurück. Jo kümmert sich um seinen pflegebedürftigen Großvater, während sein kauziger Vater mit dem Fernglas durch die Landschaft streift und die Vögel beobachtet. Jens - er bringt seine Frau Anna mit - will die Kneipe seiner Eltern, den "Deichkrug", übernehmen und in Schwung bringen. Doch in Bewegung gerät kaum etwas. Statt dessen schwelt eine alte Geschichte: Wieso kam Jens Lewin als Schüler in den DDR-Knast? Welche Schuld trägt Jo Brüggemann? Jo und Jens schleichen umeinander herum, sie sprechen nicht miteinander, ihr Schweigen dröhnt dem Leser in den Ohren:

    "Der ganz Roman spielt natürlich mit der Spannung, dass die beiden direkt nebeneinander wohnen, aber kein Wort miteinander reden. Also die reden bis zum Schluss nicht miteinander, diese Grenze bleibt bestehen und so thematisiert das ganze Buch die große Grenze und die kleine Grenze und wie die Dinge ineinander laufen, wo man ja denken könnte, zwischen zwei Ostlern verläuft ja eigentlich die Grenze nicht."
    Jo, Jens und seine Frau Anna: aus wechselnden Perspektiven nähert sich Jan Böttcher der Wahrheit dieses Grenzortes, der Erinnerung, was zwischen Jens und Jo geschehen ist, dem beklemmenden Schweigen in der Gegenwart. Anna, wie eine Archäologin, gräbt in die Tiefe. Als Fremde spricht sie mit den Leuten, stellt Fragen, auch an Jo Brüggemann, vor allem an ihren Mann. Doch sie beißt auf Granit. Jo Brüggemann beobachtet, streift durch die Gegend, tastet sich vor, was erzählbar ist und was nicht. Jens, so norddeutsch-wortkarg wie sein Freund, wirkt wie gelähmt, die Vergangenheit lastet wie ein Alp auf ihm, bricht im Inneren Monolog, in Tag- und Fieberträumen heraus. Der Glücksfall dieses Romans liegt dabei darin, wie Landschaft, Geschichte und der Mikrokosmos des Lebens ineinander greifen. Bilder, die eine historisch geprägte Landschaft evoziert, spiegeln sich in den Beziehungen zwischen den Menschen, entreißen sie ihrer scheinbaren Banalität. Zwischen beiden Ebenen entwickelt sich eine poetische Kraft, die den Leser in ihren Bann schlägt. Was war zuerst da? Der überwältigende Eindruck dieser niedersächsischen Landschaft oder das Interesse an der Geschichte dieses Dorfes?

    "Ich habe schon das Gefühl, rückblickend auf die drei Jahre, die ich daran gearbeitet habe, dass ich zuerst interessiert war an dem Landstrich und seiner historischen Bedeutung, eben viel dort gewesen bin, herumgelaufen bin, tatsächlich auch derjenige mit dem Fernglas bin, der Vögel beobachtet, weil der Seeadler wieder da ist. Also mir war schon klar, dass die Landschaft so mächtig ist, dass es besser ist, das dann zu kontrastieren mit so einem kammerspielartigen Zuschnitt, was das Erzählen angeht. Also mir ist wichtig die Spannung, die erwächst zwischen Landschaft und dieser sehr engen Konstellation. Eigentlich spielt das ganze Buch ja fast nur in der Blickachse zwischen diesen beiden Häusern, die nebeneinander stehen mit einer sehr wichtigen Wiese dazwischen."

    Auch diese Wiese, stumm wie sie ist, erzählt eine Geschichte. Hier stand das Haus der Familie Wulf. Die Familie wurde aus der Grenzregion umgesiedelt, das Haus wurde abgerissen. Hat Vater Brüggemann dabei seine Finger im Spiel? Will er sich diese Wiese einfach aneignen und reagiert deshalb so aggressiv, als Lewins ihre Gartenstühle dort platzieren? Grenzen verlaufen zwischen den Bewohnern des Dorfes, Grenzen verlaufen auch zwischen Jens Lewin und seiner Frau Anne aus dem Westen. Anne, der Fremden im Ort, wird bewusst, dass sie eigentlich gar nichts weiß von ihrem Mann, seiner Geschichte, seiner Herkunft. Je stärker sie mit den Nachbarn ins Gespräch kommt und auch die Kneipe wieder mit Leben füllt, desto schweigsamer wird ihr Mann, desto mehr zieht er sich zurück. Am Ende dieses großartigen Romans ist sie die Verliererin. Nachts, klammheimlich steigt sie ins Auto und fährt aus dem Dorf. Erst als es mit seinen ungelösten Geheimnissen hinter ihr liegt, macht sie die Scheinwerfer an.


    Jan Böttcher: Nachglühen
    Roman, Rowohlt Berlin 2008