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Das Sonnenfeuer von Culham

Im europäischen Versuchsreaktor JET in Großbritannien wurde am 9. November 1991 die erste kontrollierte Kernfusion durchgeführt - insofern spät, da Forscher schon in den 50er-Jahren behauptet hatten, innerhalb der nächsten zehn, maximal 20 Jahre, würde dieser Schritt vollzogen.

Von Arndt Reuning | 09.11.2011
    An jenem Samstag war die Sonne schon untergegangen in dem englischen Städtchen Culham in der Nähe von Oxford. Und doch sollte an diesem Abend für wenige Augenblicke noch einmal das Sonnenfeuer entfacht werden. Künstlich, am Fusionsreaktor JET, am "Joint European Torus". Ein wichtiger Schritt hin zu einer Energiequelle der Zukunft, mit einem Brennstoff, der im Überfluss zur Verfügung steht: mit Wasserstoff. Die reifenförmige, vier Meter hohe Ofenkammer war damit gefüllt worden, aufgeheizt auf über 100 Millionen Grad. Um 19.44 Uhr war es dann soweit. Augenblicklich wird allen Anwesenden klar: Es hat funktioniert. Die Kerne des Wasserstoffs sind miteinander verschmolzen und haben deutlich messbar Energie abgegeben.

    "Das war ja ein riesiger Erfolg. Die ganze Welt war anwesend, und es war ein riesiger Applaus, als tatsächlich dann die ganzen Kameras , die eigentlich in der Torus-Halle aufgestellt waren, - da wurden die ganzen Bildschirme zeitweilig blind wegen der hohen Strahlung. Und das heißt, wir konnten den Erfolg indirekt messen, dass ein großes Schneegestöber auf den Bildschirmen zu sehen war."

    Der Physiker Manfred von Hellermann war einer der rund 500 Wissenschaftler, die mitgewirkt haben an dem Fusionsexperiment in Culham. Nur zwei Sekunden lang hat das Sonnenfeuer damals gelodert. Ungefähr zwei Jahrzehnte hingegen hatte der Countdown gedauert. Von den ersten Entwürfen der Experten zu Beginn der 70er-Jahre bis hin zu eben jenem Augenblick im Herbst 1991, als eine "signifikante Energiemenge" freigesetzt wurde, wie es der damalige JET-Direktor Paul-Henri Rebut formulierte. Tatsächlich war es gerade einmal so viel - oder besser: so wenig - , wie ein Mensch aufnimmt, wenn er eineinhalb Tafeln Vollmilchschokolade verzehrt. Und damit stand ein dickes Minus unter der Bilanz der Forscher. Für das Anheizen des Fusionsofens hatten sie mehr Energie benötigt als die Kernverschmelzung ihnen wiedergeben konnte. Von einem Energiegewinn also keine Rede. Klaus Pinkau vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Garching, wenige Tage nach der gelungenen Fusion.

    "Die Fusionswärme, die durch das Einfüllen von Deuterium und Tritium erzeugt worden ist, die beträgt ja 1,7 Megawatt. Wenn man so viel Wärme herausbringen will, wie man an Aufheizleistung hereinsteckt, dann hätte die herauskommende Fusionswärme 20 Megawatt betragen müssen, also etwa den zehnfachen Betrag."

    Deuterium und Tritium sind die beiden schweren Formen des Wasserstoffs. Bis zum November '91 hatten die Forscher immer nur versucht, die Kerne des Deuteriums miteinander zu verschmelzen – ohne das gewünschte Ergebnis allerdings. Die Fusionsreaktion zwischen Deuterium und Tritium ablaufen zu lassen, das war das eigentliche Novum des JET-Experimentes - und der Schlüssel zum Erfolg. Allerdings auch zu einem gewissen Preis: Tritium ist im Gegensatz zu Deuterium radioaktiv. Auch wenn bei einem Unfall in einem Fusionsreaktor keine unkontrollierte Kettenreaktion droht, wie etwa bei der Kernspaltung, so könnte doch eine gewisse Menge des radioaktiven Gases in die Umwelt gelangen. Für die "Süddeutsche Zeitung" glich das Sonnenfeuer in England damals dann doch eher einem Strohfeuer:

    "Es gibt wenige Hinweise darauf, dass ein Fusionsreaktor, wenn es ihn denn geben sollte, wirtschaftlich sein könnte, aber viele Indizien dafür, dass es ein eher umweltunverträgliches Gerät sein würde. Für die Energiewirtschaft ist er deshalb belanglos."

    Ob und wann die Menschheit also einmal die Früchte jenes Fusionsexperimentes in Culham wird ernten können, muss die Zukunft erst zeigen. Zumindest aber hat das europäische JET-Unternehmen den Grundstein gelegt für weitere Generationen von Fusionsreaktoren, wie zum Beispiel für das internationale Groß-Projekt ITER im französischen Cadarache. Europa, die USA, Russland und vier asiatische Staaten wollen dort erstmals eine Fusionsreaktion länger als nur wenige Sekunden ablaufen lassen - und damit dann auch einen Energieüberschuss erzeugen. Noch einmal Klaus Pinkau:

    "Wir wissen ja auch alle, dass das Energieproblem ein ganz ungeheures Problem ist, dem sich unsere Kinder- und Enkelgenerationen werden stellen müssen. Und es war eigentlich immer unsere Überzeugung, dass wir diese Vorbereitungsarbeit würden leisten müssen, damit unsere Kinder und unsere Enkel dereinst die Information haben, die sie dann brauchen, um zu entscheiden, ob sie so etwas benutzen wollen."