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"Das Spiel der hundert Blätter"
Ein Buch, das atmet, flüstert und schreit

Die Freunde Jenică, Tili und Maca sind zusammen in Rumänien aufgewachsen. Sie bekommen die Möglichkeit, Einsicht in die Securitate-Akten zu bekommen und das Verschwinden eines Freundes zur Zeit der Diktatur aufzuklären. "Das Spiel der hundert Blätter" von Varujan Vosganian ist ein Buch über die von der Wende traumatisierte Gesellschaft.

Von Felix-Emeric Tota | 30.12.2016
    Varujan Vosganian, hier noch in seiner Funktion als rumänischer Industrieminister, beim Besuch eines Wirtschaftskongresses 2013 in Katowice, Polen. Der armenischstämmige Vosganian ist Autor des "Buches des Flüsterns", aus dem bei der Aktion Worldwide Reading am 21.4.2015, am 100. Jahrestag des Genozids an den Armeniern, in vielen Ländern gelesen wurde.
    Der Autor Varujan Vosganian, hier noch in seiner Funktion als rumänischer Industrieminister. (picture alliance / dpa / Andrzej Grygiel)
    Jeden Freundeskreis verbindet etwas Besonderes. Tili, Jenică, Maca und Luca verbindet etwas mehr. Dieses Etwas findet sich bei den Kastanienbäumen der Stadt, unter denen sie sich seit Jahren treffen. Auch heute noch, um ihr Spiel aus Kindheitstagen, das sogenannte "Spiel der hundert Blätter", zu spielen. Nicht aus Nostalgie, sondern weil es sie zusammenhält. Wenn das Laub im Herbst auf den Straßen liegt, springen sie von Blatt zu Blatt. Wer am weitesten kommt, der hat gewonnen.
    Sie leben im heutigen Rumänien und es ist der September eines guten Zwiebeljahres, wie es im Roman heißt. Die Freunde sind zu viert, obwohl sich nur noch drei von ihnen gegenüberstehen können. Luca ist lange verschwunden, spurlos und noch vor der Wende. Und trotzdem ist er immer bei ihnen.
    Ungleicher Freundeskreis
    Zum einen haben wir Jenică. Er ist Kioskbesitzer und Betreiber einer Lotto-Kollektur. Als unfreiwilliges Muttersöhnchen, wohnt er noch zuhause und bekommt von seiner Mutter quasi verboten, außer Haus mit seinen Freunden zu essen. Tili berät einen Puppenmacher bei der Namensgebung seiner Figuren, da er ein besonderes Talent dafür hat, das Wesen einer Figur oder einer Person zu erkennen. Und Maca, der dritte im Bunde ist ein Motorrad fahrender, langhaariger Flüchesammler. Er archiviert Verbalinjurien zur Ärgerbewältigung und erzürnt gerne ordnungsliebende Spießer. Ihr Fluchen hält er in seinem Notizbuch fest.
    "Das mit dem Lumpen ist eine alte Nummer, Väterchen. Von einem Herrn, wie Sie einer sind, erwarte ich etwas Besonderes." - "Na wart, jetzt komm ich runter zu dir." Dem Alten schwollen die Halsadern, während sein Adamsapfel spastisch in seinem Hals auf und ab sprang. "Wenn ich dir einen Tritt in den Hintern verpasse, verhungerst du in der Luft!"
    Die Freunde sind weit über Fünfzig und blicken auf ihre Vergangenheit, ihr Ingenieursstudium und ihre Arbeit in einer mittlerweile stillgelegten Maschinenfabrik, die sie manchmal noch aufsuchen. Lucas Abwesenheit ist dabei allgegenwärtig. Varujan Vosganians Geschichte, ist jedoch keine, die sich nur in den Erinnerungen der Freunde spiegelt, sondern eine, die genau diese Erinnerungen in die Gegenwart setzt.
    Vergangenheits- und Zukunftsbewältigung
    In "Das Spiel der hundert Blätter" geht es genauso sehr darum, wie Menschen ihre Vergangenheit bewältigen, wie auch darum, wie sie ihre Zukunft bewältigen. Dabei stellt sich immer wieder die Frage: Was macht es mit einem Menschen, wenn sich die eigene Existenz in Räumen abspielt, deren Wände immer näher kommen?
    Irgendwann geht genau in einem dieser Räume eine Tür auf: Das Archiv der Securitate gewährt Ihnen Einblicke in ihre Akten – und vor allem in eine, die das Verschwinden Lucas erklären könnte. Doch anstatt einer Gewissheit kommt dort erst die ganze Tragweite der Geschichte zum Vorschein.
    "Er war der beste Mathematiker von uns." - "Er war ohnehin der Beste von uns." - "Wir reden schon wie zwei Greise." Tili steckte die Kerze in den feuchtkühlen Boden. "Wie willst Du denn sonst auf einem Friedhof reden?" - "Vielleicht sollte man auf einem Friedhof überhaupt nicht reden", sagte Maca.
    Orientierungslosigkeit führt zu grimmigem Humor
    Schon in seinem viel beachteten Roman "Das Buch des Flüsterns" hat der ehemalige rumänische Finanz- und Wirtschaftsminister dem deutschen Publikum bewiesen, dass er nicht nur ein Mann der Zahlen, sondern vor allem ein Mann der Worte ist. Der Roman atmet – ja, er flüstert und schreit sogar – und stellt damit einen luziden Zugang zur Welt von Tili, Jenică, Maca und Luca her.
    Es ist eine Welt, in der man sich darauf verlassen kann, dass es gerade die Tatsachen sind, auf die man sich nicht verlassen kann. In ihrer Orientierungslosigkeit entspringt zwischen den Freunden ein oft therapeutischer aber dennoch grundpessimistischer, grimmiger Humor. In den großartigen Dialogen unterhalten sich die Figuren oft so tragikomisch, wie man es eigentlich nur aus Filmen von Aki Kaurismäki gewohnt ist.
    "Verstehst, wenn du eine solche Liebste hast, brauchst du nichts, rein gar nichts mehr sonst … Nur dass du den Bauch einziehen musst, wenn du in Unterhosen durch die Wohnung gehst … Warum ist die Welt bloß so verquer eingerichtet?" - "Hängt davon ab, aus welcher Richtung du draufschaust", meinte Tili. "Woher auch immer man draufschaute, es müsste immerzu gleich sein. Die Erde ist schließlich rund. Warum sollte nicht auch die Welt rund sein?" - "Die Erde ist rund, weil sie kreist. Die Welt kreist nicht, sie stürzt ein."
    Urrumänischer Blick auf die Welt
    In dem Roman findet sich ein urrumänischer Blick auf die Welt wieder. Vosganian als Schriftsteller muss man von seiner Rolle als Politiker hierbei aber lösen. Denn er hat kein Buch geschrieben, dass die Politik der kommunistischen Diktatur nachbereitet, sondern die Gesellschaft nach Ceaușescu aufbereitet.
    Diese von der Wende traumatisierte Gesellschaft bildet sich in Miniatur genau in den vier Protagonisten ab. Zum einen haben wir den Flüchesammler, der seinem Ärger Luft macht, er ist der Groll der Angeschissenen. Jenică der Lotto-Kollektor, sieht seinen Mitmenschen zu, wie sie Glück und Reichtum herausfordern. Er selbst, das Muttersöhnchen ist jedoch nicht in der Lage dazu, solch einen Leichtsinn aufzubringen, da er nie etwas anderes gelernt hat, als autortitätshörig die Füße still zu halten.
    Und Tili, der Puppenbenenner, erkennt den Kern der Dinge, spielt den Zirkus jedoch einfach mit. Der verschollene Luca nimmt in dieser Personen- und Gesellschaftskonstellation die sinnbildliche Rolle der rumänischen Hoffnung ein, die einmal da war, nun lange verschwunden ist – und an die man sich gerne erinnert.
    "Das Spiel der hundert Blätter" ist nicht nur vom Sujet her ein typisch rumänisches Stück Literatur, sondern auch von der Komposition und der sprachlichen Arbeit des Textes. Varujan Vosganian nutzt eine ähnliche Färbung der Worte und Szenen, wie man es hierzulande schon von Mircea Cărtărescu kennt. Das Bildliche der rumänischen Sprache eignet sich nicht nur für den Umgang mit kreativen, unterhaltsam-vulgären Flüchen, sondern auch dafür, zwischenmenschliche Szenen auszumalen und zu beschreiben.
    Märchenstellen kunstvoll in Handlung eingeflochten
    Vosganians Bilder bekommen für den Moment eine konkrete Form, bis er ihnen oft etwas traumhaft-abstraktes entlockt. So baut er in die Handlung des Romans auch sehr kunstvoll Märchenstellen ein, die als schöne Randepisoden gelesen werden können, aber auch als chiffrierte Momentaufnahmen aus der Zeit vor der Rumänischen Revolution:
    "Der Bahnsteig war jedes Mal voller Leute. Der Zug aber hielt niemals an, sodass niemand ausstieg und sich auch niemand darauf vorbereitete, einzusteigen. […] Die Frauen ließen ihre Taschentücher flattern, und die Männer schwenkten ihre Hüte. Schön gekleidet und steif, als müssten sie gleich auswendig gelernte Gedichte aufsagen, kleine Blumensträuße in den Händen, saßen die Kinder in der ersten Reihe."
    Vosganian braucht nicht viele Worte, um treffende, gesellschaftliche Sinnbilder zu schaffen. "Das Spiel der hundert Blätter" ist ein kurzer Roman, aber ein großes Stück Literatur. Er führt den Leser über die Unebenheiten von vier Biografien, wie über Punkte einer Brailleschrift – was daraus zu lesen ist, bleibt jedem selbst überlassen. Fest steht nur: "Das Spiel der hundert Blätter" ist ein Buch, nach dessen Lesen die Welt kurz ein wenig anders aussieht.
    Varujan Vosganian: "Das Spiel der hundert Blätter".
    Paul Zsolnay Verlag, Wien 2016. 224 Seiten, 20,00 Euro.