Ausgangspunkt des Erzählens ist ein Spinnhaus, ein Haus, in dem sich nicht nur Merkwürdiges ereignet, sondern das auch von sehr seltsamen, unangepassten Zeitgenossen bewohnt wird. Es handelt sich um Außenseiter, die nicht ins Bild passen. Sie finden im Spinnhaus ihren Platz, leben aber am Rande der Gesellschaft.
Das Spinnhaus existiert nur in meinem Kopf und in dem Buch. "Also der Stoff war da, die Geschichten waren da. Und natürlich gibt es alte Spinnereien, alte einsame Häuschen, die sagenumwoben sind. Das ist kein wirkliches Bauwerk, man braucht es nicht zu suchen. Dieses Spinnhaus, konkret an dem Ort, gibt es nicht.
Auffällig ist, dass Kerstin Hensel ihre Figuren in Geschichten verwickelt, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen. Denn bisweilen geht es in dem Roman "Im Spinnhaus" nur im weitesten Sinne realistisch zu, so dass sich der Eindruck einstellt, hier wird nicht nur über das Spinnen erzählt, sondern auch ein sehr eigenwilliger Erzählfaden gesponnen. Die Autorin nimmt sich mit einer gewissen Vorliebe gerade der Dinge des Wirklichen an, die eher unwirklich klingen, aber der Realität nicht entbehren. Und dann stellt sich heraus, dass das, was ins Phantastische tendiert, sehr wirklich ist, während sich das real Gebende frei erfunden ist.
Was ist Realismus in den Geschichten? Das ist ja, sag ich jetzt mal, ein Realismus, der einen halben Meter über dem Erdboden steht. Mich interessiert kein platter Realismus, der das Leben abkupfert oder die Natur abkupfert, kein Fotorealismus, sondern alles was an Magischem, was an Märchenhaftem an Phanatsie an Surrealem, Grotesken stattfindet, hat für mich immer noch etwas mit Realismus zu tun.
Nach altem erzgebirgischen Brauch wird in Hensels Roman nicht nur gesponnen, sondern auch geklöppelt. Neben der Uhlig Trulla erweist sich auch Demuths-Christoph als wahre Meister in dieser eigentlich eher den Frauen vorbehaltenen "Kunst".
Aber auch in der Struktur weist der Text Parallelen zum Klöppeln auf. Kerstin Hensel verfolgt mit "Im Spinnhaus" nicht die Spur eines zentralen Charakters, sondern sie verwaltet ein umfangreiches Figurenensemble. Alle Figuren hängen an verschiedenen Fäden. Während des Erzählens nimmt sich die Autorin einzelne von ihnen vor und arbeitet mit ihnen, entwirft mit diesen Figuren ein Erzählmuster. Haben sie ihre Spur im Textgewebe hinterlassen, werden sie zur Seite gelegt. Dies kann für einen Moment oder auch für immer sein. Danach greift Hensel dann zu neuen Figuren, durch die sich ein anderer Geschichtenfaden in den Text einbringen lässt. Auf diese Weise sind stets alle Figuren präsent, auch die, die gerade nicht in die Handlung verwickelt sind – sie liegen praktisch in Bereitschaft und könnten jederzeit von der Autorin zur Hand genommen werden.
Die so entstandene Textur bedient sich zwar der Technik des Klöppelns, aber als Ergebnis vermag die Autorin kein wohlfeines Geschichtendeckchen vorzulegen, das sich zur beschaulichen Betrachtung eignet. Vielmehr unterläuft Kerstin Hensel mit dem von ihr angefertigten bizarren Geschichtenteppich falsche Erwartungshaltungen von Harmonie.
Wenn wir jetzt schon bei dem Begriff Klöppeln bleiben, [...] Klöppeln ist immer was Schönes, ist immer was fast Kitschiges, dieses alte Handwerk. Und was ich aber zusammen klöpple ist nicht immer schön. Also ich versuche, auch mal eine Brennessel mit rein zu klöppeln. Und was mich ja reizt bei jeder Außenseiterposition, die jede der Figuren einnimmt, dass sie eben natürlich verschiedene Charaktere haben und das nur durch verschiedene Charaktere, durch verschiedene Stoffe, sich ein interessantes Muster ergibt. Das Leben ist voll von diesen Mustern. Dieses Wollen, es nicht können, was anders machen wollen und auch da scheitern, das ist uraltes Muster. Viele verstört das natürlich, weil das ja kein Roman im herkömmlichen Sinne ist. Vielleicht muss man es auch nicht als Roman bezeichnen, sondern [...] als [...] einzelne Erzählungen, die miteinander versponnen und verknüpft sind. [...] Und das hat mich [...] gereizt, so ein Menschenpanorama, wo verschiedene Leute, zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich aktiv heraustreten und mitspielen.
Kerstin Hensel hat eine gewisse Vorliebe für Figuren, die das Glück verfehlen, die mit ihren Vorstellungen vom Anderssein scheitern wie die Stülpnagel-Sophie und die Winkler-Gisela aus der Episode "Kino", die es in die Weite zieht, die nach Amerika wollen, aber dann doch nur vier Tage lang in der Gegend umherirren, bis sie wieder in Neuwelt ankommen, zurückkehren an den Ort, der den Ausgangspunkt ihrer gescheiterten Welteroberung bildete. Nur eine von ihnen wird später dem Erzgebirge entkommen, aber sie landet nicht in Amerika, sondern in der russischen Steppe, an der Drushba-Trasse.
Kerstin Hensels Figuren finden ihren Platz im Leben nicht oder nur schwer. Wie eine Sehnsuchtsmetapher schwebt über den Figuren die Vorstellung: "Leben ist so viel mehr." Aber weder die, die es aus Neuwelt treibt, werden glücklich noch die Seßhaften, die vergeblich darauf warten, dass sich in ihrem Leben noch etwas ereignet. Diese in ihrem Wollen unvollendet bleibenden Figuren haben in Kerstin Hensel eine Erzählinstanz gefunden, die Gescheiterten mit Milde begegnet.
Erstmal denk ich hat jede Figur ihre Erfüllung in der Literatur, also in der literarischen Geschichte. Ich hab früher immer gedacht, der Mensch muss ständig frei sein, muss sich ständig loslösen von den Dingen, wo er herkommt. Das stimmt aber nicht, ist meine Erfahrung inzwischen. Die meisten Menschen wollen das nicht. Aber: Die Menschen wollen glücklich sein. Und manchmal findet sich das Glück der Leute in Dingen, die wir als moderne und lebendige Menschen vielleicht gar nicht als Glück bezeichnen würden. Und ich versuch manchmal das kleine Glück, das auch im Scheitern, oder im Stillstand liegt, zu beschreiben. Wie schreibt man Glück, wie gestaltet man eine Figur, die wirklich ins Glück geht. Ist ja fast ne philosophische Frage! Es gibt in der ganzen Literatur sehr wenig davon. Ich denke manchmal, wenn man das Unglück oder das Elend benennt, dass für den Leser etwas eintritt, wie Erkenntnis oder Erschrecken oder Irritierung und in dem Moment denkt man vielleicht über das eigene Leben nach. Damit ist schon unheimlich viel erreicht, mehr ist überhaupt nicht zu erreichen.
Neben den seltsamen, eigenbrötlerischen Figuren, die in dem Roman von Kerstin Hensel anzutreffen sind, spielt auch ein Bär eine zentrale Rolle. Zunächst ist er auf dem Weg ins Spinnhaus, das er dann wieder verlässt, um zum Ort seiner Herkunft zurückzukehren. Dann begegnet der Bär ganz unterschiedlichen Personen, zu denen der Fotograf Wolzack ebenso gehört wie die ABM-Spinnerin Fiedler. Während der Fotograf auf einen vor der Kamera posierenden Bären trifft, der sich als Bestie aus dem Erzgebirge vermarkten lässt, gestaltet sich das Zusammentreffen des Bären mit der Fiedlern gänzlich anders. Geradezu mit Zutrauen, beinahe liebevoll schmiegt sich das wilde Tier an die Spinnerin, wohl, weil er sich an das von ihr gesponnene Garn erinnert, das ihm im Winter Wärme bot. Und schließlich stellt er – auf einer anderen metaphorischen Ebene – für Tänner-Achim in der Spielzeugvariante ein Sehnsuchtssymbol dar. Also der Bär ist in der Tat eine sehr gewaltige Metapher. Früher war der Bär in ganz Ost- und Mitteleuropa, also auch im Erzgebirge, eines der Haupttiere, die die Wälder bevölkerten. Und im 19. Jh. ist er ausgerottet worden. Jetzt kommt er wieder. Also etwas Archaisches, etwas was schon tot geglaubt wurde, kehrt wieder zurück. Natürlich ist der Bär auch – man kennt es aus dem Märchen – eine Metapher für Angst, für Sehnsucht. Den lass ich durch den Roman tapsen.
Also geht es in Kerstin Hensels Geschichten aus dem Erzgebirge doch ein wenig märchenhaft zu. Durchaus. Denn dass sich die Uhlig-Trulla Silber aus dem Haar kämmt und in einigen Geschichten tatsächlich der Bär los ist, tendiert durchaus zum Märchen, aber eher zu den düsteren, vielleicht am ehesten zu denen von Wilhelm Hauff und Hans Christian Andersen.
Kerstin Hensels Roman Im Spinnhaus lässt sich als Leidensgeschichte lesen, als Variante, wie sich Geschichte in die Figuren eingeschrieben hat. Den Verlierern, den Gescheiterten hat sich Kerstin Hensel angenommen. Vielleicht werden die Erzgebirgler nicht mögen, was sie über ihre Gegend erzählt, denn entstanden ist ein Geflecht mit schäbigen, auch ausgefransten Stellen, das bewusst auf äußeren Glanz verzichtet.