Dienstag, 23. April 2024

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Das spirituelle Ringen des Musikers Nick Cave
"Gott ist niemals weit entfernt"

Nick Cave ist eine popkulturelle Ikone. Seit rund 40 Jahren ist er unermüdlich künstlerisch aktiv - als Musiker und als Schriftsteller. In seinem Privatleben musste er schwere Krisen und Rückschläger verkraften. Als Mensch und als Künstler ringt Nick Cave mit dem Glauben und der Religion.

Von Burkhard Reinartz | 07.04.2021
Der Musiker Nick Cave bei einem Konzert in Moskau
Nick Caves Musik kreist immer wieder um Fragen des Glaubens (picture alliance/dpa | Eugene Odinokov)
Der Musiker und Schriftsteller Nick Cave fragt: "Existiert Gott?" Seine Antwort ist nicht eindeutig: "Ich bin nicht sicher, ob das die richtige Frage ist. Für mich ist die Frage interessanter: Was bedeutet es, zu glauben? Gegen all meine sachlichen Urteile, finde ich es unmöglich, nicht zu glauben oder zumindest sich nicht immer wieder zu fragen, was Glauben bedeutet. Mein Leben ist von der Idee Gottes bestimmt. Ob es nun seine Anwesenheit oder seine Abwesenheit ist."
Mitten in der Corona-Pandemie erschien im Dezember 2020 Caves CD "Litanies", Litaneien. Ein Gemeinschaftswerk mit dem belgischen Opernkomponisten Nicholas Lens. Die Titel folgen den menschlichen Lebensstationen: Geburt, Blüte, Zerbrechen und Übergang ins Unbekannte, wie Cave schreibt:
"Nicholas Lens rief mich während des Lockdowns an und fragte, ob ich zwölf 'Litaneien' schreiben könnte. Ich sagte zu, schlug nach dem Telefonat als erstes nach, was eine Litanei genau bedeutet: eine Abfolge von religiösen Bittgebeten. Ich erkannte, dass ich zeit meines Lebens nichts anderes geschrieben hatte. Sie sind für mich Bittgebete an einen göttlichen Schöpfer um eine kosmische Antwort."

"Ich war einfach nur frei"

Der Kontrast zwischen Nick Caves neuester Musik und seinen ersten Schallplatten könnte kaum größer sein. Noch in den 1980er-Jahren brachten die provokanten Lärmorgien seiner Band Birthday Party die Trommelfelle des Publikums fast zum Platzen.
Geboren wird Nicolas Edward Cave am 2. September 1957 in der australischen Kleinstadt Wangaretta. Die Mutter ist Bibliothekarin, der Vater Professor für englische Literatur. Er macht den Jungen schon früh mit den klassischen Werken europäischer Dichter bekannt – etwa mit Dante Alighieri, John Milton oder E.T.A. Hoffmann.
"Ich hatte liebevolle Eltern. Wir lebten auf dem Land an einem Fluss. Es war eine wilde Kindheit. Eine wunderbare Zeit. Ich wäre glücklich, das wieder erleben zu können. Als Kind hatte ich natürlich kein Konzept von glücklich oder unglücklich. Das Leben war wie es eben war. Ich war einfach nur frei."
Nick Cave studiert in Melbourne Kunst und gründet mit anderen Studenten eine der ersten australischen Punk-Bands. Die Musiker ziehen Anfang der 1980er-Jahre nach London und hoffen dort auf ihren künstlerischen Durchbruch. 1983 geht die Reise weiter in das damalige Musik-Mekka West-Berlin. Dort gründet Cave die Band The Bad Seeds. Sie begleitet ihn in unterschiedlicher Besetzung bis heute und veröffentlicht diverse erfolgreiche Alben. Im Laufe der Zeit ergänzt Cave die dunklen, ekstatischen Klänge durch gefühlvolle Balladen.
"Anfangs galt meine Musik ja als wild-chaotisch; diese Mischung aus Punk, Blues und Voodoo-Jazz hat viele überfordert."

Der Glaube als roter Faden

20 Jahre später ist Cave ein weltweit erfolgreicher Musiker, Schriftsteller und Drehbuchautor. Er hat Gastauftritte in Filmen wie Wim Wenders "Der Himmel über Berlin" und hält Vorlesungen über den Zusammenhang von Literatur, Spiritualität und Liebe. Seit den 1960er-Jahren durchziehen religiöse Themen, Bilder und Symbole die populäre Musik der Jugend. Für die Heroen der Rockmusik wie Bob Dylan, die Beatles oder Eric Clapton waren Himmel und Hölle, Gott und Glauben schon immer ein Thema.
"Nick Cave ist besonders gut verwertbar im Hinblick auf die Frage des Zusammenhangs zwischen Popmusik einerseits und Spiritualität andererseits, weil alles, was mit Glaube, Religion, Spiritualität zusammenhängt, bei ihm von Anfang seines Wirkens an wie ein roter Faden in den Songs vorkommt."
Aufnahme von Wim Wenders zusammen mit Nick Cave.
Nick Cave mit Wim Wenders - auch "Der Himmel über Berlin" kreiste um Glaubensfragen (Getty Images / Patrick McMullan)
Der Theologe Matthias Surall bewundert den ungewöhnlichen Künstler. Er leitet den Arbeitsbereich "Kunst und Kultur" der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers. Und hat das Buch veröffentlicht: "Spannende Theologie im Werk Nick Caves".
"Nick Cave kam sehr schnell durch die Beschäftigung mit biblischen Personen, Themen und Texten zu einer inhaltsschwangeren Auseinandersetzung mit klassischen theologischen Fragestellungen wie der Frage: Wie kann Gott bestimmte Dingen zulassen? - die alte und berühmte Theodizee-Frage, die er 2008 in einem Song 'We call upon the author' thematisiert hat."

Gehaltvolles Spiel mit biblischen Motiven

Matthias Surall betont: Wenn heute in der Popmusik religiöse Symbole und Bilder auftauchen, zeige das nicht automatisch eine religiöse Haltung der Musiker. Anders als bei Nick Cave bedienten sich manche Künstler oft nur spielerisch oder provozierend der religiösen Bilderwelt - eine Methode, die auch Cave vor allem in seinen wilden 1980er-Jahren nutzt. Als Underground-Poet entwirft er eine düstere Bilderwelt zwischen Liebe und Hass, Gott und Teufel. Seit der Jahrtausendwende bekommt Caves spirituelles Ringen mehr Substanz und Tiefe. Gleichzeitig wird die Musik ruhiger und konzentrierter. Wie in dem Song "Jesus alone".
Du bist vom Himmel gefallen
Crash-Landung auf einem Feld
In der Nähe des Flusses Adur
Blumen springen aus dem Boden
Lämmer platzten aus der Gebärmutter ihrer Mütter

Du bist ein junger Mann, der gerade aufwacht
Mit Blut bedeckt, das nicht deins ist
Du bist ein junges Mädchen voller verbotener Energie
Flackern in der Dunkelheit

Mit meiner Stimme
rufe ich zu dir
Lass uns zusammensitzen, bis der Augenblick kommt
Ich rufe zu dir
Mit meiner Stimme rufe ich zu dir
"Nick Cave ist typisch auch insofern, als er biblische Motive, Personen, Figuren, Zusammenhänge aufnimmt und gegen den Strich bürstet. Erstes Beispiel der Song 'Dig, Lazarus, Dig!' von 2008, wo er die biblische Figur des Lazarus - in Johannes 11 wird von seiner Auferweckung durch Jesus erzählt - durch das New York der 70er-Jahre streifen lässt. Eine grandiose Idee. Und er nimmt diese Figur auf, um im Grunde die Frage zu stellen: Wie gehen wir moderne Menschen eigentlich mit dem Tod und den Toten um - und welche Rolle spielt das?"
"Obwohl sich in vielen meiner Arbeiten Bezüge zum Alten und Neuen Testament finden, liegt die Wurzel von 'Dig, Lazarus, Dig!' nicht in konventioneller Religiosität. Meine Titelfigur soll ja nicht die Wundertätigkeit von Jesus preisen, sondern eher die Orientierungslosigkeit des Menschen offenbaren: Lazarus wird 'aufgeweckt', vielleicht sogar, ohne dies gewollt zu haben, und irrt als unbehauster Mensch durch die Hinterhöfe der modernen Neon-Welt: Er weiß nicht, wer er ist und wohin er gehen soll."

"Es geht immer um ein Ringen mit Gott"

Der Theologe Matthias Surall nennt ein weiteres Beispiel für Caves Auseinandersetzung mit der Bibel, diesmal mit dem Alten Testament. In dem Song "Mercy Seat" kontrastiert Cave biblische Bilder mit einer fiktiven Hinrichtungs-Story aus den USA.
Abgründe im Werk von Francisco de Goya - "Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer"
Nichts war dem spanischen Maler Franciso de Goya fremd: Er reiste in seiner Kunst vom Himmel durch die Welt zur Hölle. Er hoffte auf das Licht der Aufklärung, erlebte aber vor allem Düsternis.
Der Mercy Seat ist der Thron Gottes auf der Bundeslade, die im Alten Testament beschrieben wird. Und es ist zum anderen der elektrische Stuhl, auf dem das lyrische Ich dieses Songs sitzt, während er den Song intoniert und singt. Natürlich wird da Gott mit dem Leiden zusammen gedacht, er wird sogar mit dem Tod zusammen gedacht. Denn während dieser Hinrichtung verleitet er den Ich-Erzähler zu der irren Aussage in dieser Sterbe- und Lebessituation: "And God is never far away", Gott ist niemals weit weg. Und ich glaube, das kann nur im Blues und bei Nick Cave passieren.
"Was das Verhältnis eines Künstlers wie Nick Cave zu Gott anbetrifft, kann man wirklich nur sagen: Es ist immer ein gebrochenes gewesen. Es ist nie ein eindimensionales Verhältnis gewesen, wo man sagen kann, es ging nur darum, sozusagen Gott zu huldigen, Gott zu preisen, Gott zu loben. Ganz im Gegenteil. Es geht immer um ein Ringen mit Gott."

"Ich glaube an die Idee Gottes"

Cave fühlt sich vom furchterregenden Gott des Alten Testaments angezogen und gleichzeitig abgestoßen – in einer Art Hassliebe. Cave glaubt, dass Jesus gekommen sei, "um die Fehler seines Vaters zu berichtigen". Der Künstler pendelt zwischen zwei Polen: der Ahnung, dass es eine spirituelle Wirklichkeit gibt, und der Sorge, dass die Menschen durch ein großes kosmisches Nichts taumeln. Seine ambivalente Einstellung lässt manche Bewunderer glauben, er sei ein Atheist.
"Ich teile viele Probleme, die Atheisten mit der Religion haben: die Dogmen, der Extremismus, die Heuchelei, aber ich teile nicht die selbstzufriedene Gewissheit der Atheisten, das Gott nicht existiert. Ich glaube an die Idee Gottes, weniger an Gott als ein Wesen. Für mich ist es eine liebenswerte Eigenschaft des Menschen, dass er zu dieser Vorstellung imstande ist, dass sich eben nicht alles nur um Geld, Sex und Fressen dreht. Mir geht es darum, zu neuen, unbekannten Ebenen vorzustoßen. Und das erfüllt mich mit Angst und Begeisterung zugleich."
Besonders beeindruckt Matthias Surall, wie Cave seine Zweifel und die Sehnsucht, zu glauben, verbindet.
"Ich glaube schon, dass der Zweifel in besonderer Weise ein Signum der ernsthaft betriebenen Popmusik ist, wenn es um spirituelle Themen geht. Von daher ist es jetzt nicht verwunderlich, dass so etwas wie der Zweifel als Schwester des Glaubens dann noch einmal eine besondere Rolle spielt. Denn wenn man das biblisch ernst nimmt, dann ist der Zweifel nur die andere Seite des Glaubens."

Gott ins Sein schreiben

"Schreiben erlaubte mir einen direkten Zugang zu meiner Vorstellungskraft, zur Inspiration und schlussendlich zu Gott. Ich fand durch den Gebrauch der Sprache heraus, dass ich Gott ins Sein schrieb", bekennt Nick Cave in seiner Vorlesung an der "Wiener Schule für Dichtung" im Jahr 1998. Der Künstler verbringt mehr Zeit mit dem Schreiben von Texten als im Aufnahmestudio oder im Proberaum. Neben zwei Romanen verfasst er seitenlange Notizen, die oft in die Texte seiner Songs münden. Schreiben und Musik sind für ihn untrennbar verbunden. Das Credo des dunklen Romantikers lautet: Das persönliche Leben durch die Kunst in etwas Überpersönliches ausweiten.
"Die Sehnsucht ist ein ganz zentrales Motiv nicht nur bei Nick Cave, wenn es um ernsthafte Popmusik-Kultur geht. Und die Sehnsucht ist insofern entscheidend, als sie genau der Punkt ist, der die Spannungspole des Daseins miteinander verknüpft. Man kann sich das ganz schön klarmachen an den gebrochenen Charakteren und Figuren, die in vielen Kunstwerken von Nick Cave immer wieder vorkommen. Geschundene Kreaturen, die von Nick Cave mit Jesus parallelisiert werden."
Jesus liegt in den Armen seiner Mutter
Ist ein Photon freigesetzt von einem sterbenden Stern
Der Himmel ist voll von flüchtigen Lichtern
Wir sind Photonen, freigesetzt von einem sterbenden Stern
Wir sind Glühwürmchen, die im Dunkeln schwach pulsieren
Und alles ist fern wie die Sterne
Ich bin hier und du bist da, wo du bist

"Gott bleibt immer Gesprächspartner"

"Es geht immer um ein Ringen mit Gott. Und gerade das, finde ich, macht einen Künstler wie Nick Cave aus, dass er dieses Ringen wirklich durchhält, dass er also Gott im Grunde genommen als Zielpunkt von Sehnsucht im Blick hat, dass er Gott aber auch als Ansprechpartner im Blick hat für Dinge, die offensichtlich im Leben nicht allzu gut laufen. Bis dahin, dass er Gott anklagt, wenn es um Dinge wie den Tod geht. Mit Gott wird bei Nick Cave gerungen. Gott bleibt immer Gesprächspartner."
Beim heiligen John Coltrane - Die Apostel des Sounds in San Francisco
Jazz-Freunde verehren ihn: den Musiker John Coltrane. Bei einigen Amerikanern geht die Verehrung so weit, dass sie in Coltrane einen Heiligen sehen.
Wie in Caves jahrzehntelanger Drogenabhängigkeit, die er erst durch die Liebe seiner jetzigen Frau Susie Bick überwindet, mit der er seit fast 20 Jahren in Brighton an der englischen Südküste wohnt. Die Textzeile "Sterbend immer weiter gehen" könnte sein Leben als Überschrift begleiten. Als im Sommer 2015 einer von Caves Zwillingssöhnen, Arthur, mit 15 Jahren im LSD-Rausch von den Felsklippen Brightons stürzt und stirbt, fällt der Künstler emotional mit in den Abgrund. Ein Schock, den er in den Song "Skeleton tree", Skelettbaum oder kahler Baum verwandelt hat.
Sonntag Morgen, kahler Baum
Oh, nichts ist umsonst
Abgefallene Blätter wehen durch den Himmel
Ein flimmernder Fernseher glüht hell wie Feuer
Nichts ist umsonst
Rief ich aus
Nichts ist umsonst -
direkt über dem Meer

Transzendente Liebe

Trauer und Hoffnung, Glaube und Zweifel. Doch zweifelsfrei über allem die Liebe.
"Das Thema Liebe ist in besonderer Weise auch ein religiöses und theologisches Thema, weil Liebe ja letztlich auch ein Name Gottes ist und weil es ja nicht zufälligerweise auch in der Bibel heißt: Gott ist Liebe."
Der Song "Into my arms" gehört zu den Schlüsselsongs Nick Caves. Der Künstler erzählt darin, wie ihn die irdische Liebe zur transzendenten Dimension der Liebe geführt hat.
Ich glaube nicht an einen Gott, der sich einmischt
Aber ich weiß, Liebling, du tust es
Aber wenn ich an ihn glauben würde, würde ich mich vor ihn knien
Und ihn bitten, sich nicht einzumischen, wenn es um dich geht
dich so zu lassen, wie du bist
Und wenn er dich schon lenken muss
Dann bitte direkt in meine Arme
In meine Arme, oh Herr, In meine Arme

Ich glaube nicht an die Existenz von Engeln
Aber wenn ich dich anschaue, frage ich mich, ob das stimmt
Wenn ich an Engel glauben würde, riefe ich sie zusammen
und würde sie bitten, auf dich aufzupassen -
und eine Kerze für dich anzuzünden
Um deinen Weg hell und frei zu machen
Und wie Christus in Gnade und Liebe zu wandeln
In meine Arme, oh Herr, In meine Arme,
"Was für ein genialer Ansatz! Auf der einen Seite sagt Nick Cave hier nicht: Ich glaube nicht an Gott, sondern: Ich glaube nicht an eine bestimmte Erscheinungsform Gottes. Aber wenn ich dich Geliebte anschaue, dann kann ich nur sagen: Ich komme zum Zweifel am eigenen Zweifel, und zwar über die Liebe. Die Liebe ist genau die Brücke, die zum Glauben führen kann, indem sie mich den Zweifel am eigenen Zweifel lehrt. Und letztlich ist Gott nichts anderes als diese Liebe."