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Das "Tanking"-Phänomen
Spielen, um zu verlieren

Es klingt unglaublich, aber in amerikanischen Ligen wie der NBA gibt es jedes Jahr für viele Teams nur ein Ziel - so viele Spiele wie möglich verlieren, um ganz unten in der Tabelle zu landen. Der Grund: Es gibt keinen Abstieg, aber Aussicht auf eine dicke Belohnung.

Von Jürgen Kalwa | 21.05.2017
    Spielszene zwischen den NBA-Teams Dallas Mavericks und Memphis Grizzlies
    Haben die Dallas Mavericks mehrfach absichtlich verloren? Kaum zu glauben, aber genau das hat Eigentümer Mark Cuban vor Kurzem öffentlich gesagt. (Imago)
    Man muss damit rechnen, dass man in Amerika öffentlich gescholten wird, wenn man nicht auf Sieg spielt. Das passierte erst vor einer Woche in Florida bei einem der bestdotieren Golfturniere der Welt, der Players Championship. Die Zielscheibe? Der Engländer Ian Poulter, der auf den schwierigen letzten Löchern konsequent auf Nummer sicher ging, um bloß nicht den zweiten Platz zu verlieren. Denn der war mit 924.000 Dollar üppig dotiert. So üppig, dass die Summe Poulter reicht, um sich frühzeitig die Spielberechtigung für die nächste Saison auf der amerikanischen Tour zu sichern.
    Der Vorwurf der Feigheit eines bekannten Kommentators im Fernsehen schlug daraufhin Wellen. Poulter bestritt vehement. Und zahlreiche Journalisten sprangen ihm bei. Doch das Eisen ist noch heiß. Denn nur wenige Tage später gab Mark Cuban, Eigentümer der Dallas Mavericks und Arbeitgeber von Dirk Nowitzki, zu, dass das Team die letzten neun Spiele der Saison aus voller Absicht weggeschenkt hatte: "The Mavs, once we were eliminated from the playoffs, we did everything possible to lose games.”
    Gezielt Letzter werden
    Verlieren? Warum? Um in der Tabelle noch so weit wie möglich abzusacken, nachdem die Mannschaft die Playoffs der sechzehn Besten verpasst hatte. Sie haben sich nicht verhört. In einer Liga wie der NBA ist es gang und gäbe, dass Mannschaften gezielt um das Schlusslicht in der Tabelle kämpfen. Der Grund: Im amerikanischen Mannschaftssport gibt es keinen Abstieg, es existiert also kein wirtschaftliches Risiko. Kellerkinder werden sogar regelrecht belohnt: Je schlechter die Saison, desto besser die Chancen, um beim alljährlichen Zuteilungstermin der Nachwuchsspieler, genannt Draft, Zugriff auf die vielversprechendsten Talente zu bekommen.
    Es geht um Leistungsparität und darum, auf diese Weise eine permanente Zwei- oder sogar Drei-Klassengesellschaft wie in der Fußball-Bundesliga zu verhindern. Es gilt allerdings nicht als ehrenvoll, dauernd zu verlieren. Weshalb Clubverantwortliche dies gewöhnlich nicht so einfach zugeben. Mark Cubans Offenheit überraschte denn auch viele.
    Allerdings: Die Kritik an einer derartigen Verhaltensweise - genannt "Tanking” - fiel maßvoll aus. Andere NBA-Teams schmeißen gleich von Anfang an die ganze Saison weg. Das Phänomen ist schließlich so alt wie das Konzept der Draft. Weshalb die NBA schon vor Jahren eine Lotterie einführte, bei der Bälle aus einer Lostrommel gezogen werden. Wie erst vor einer Woche. Der Letzte der Tabelle der regulären Saison hat bei diesem System zwar die statistisch beste Chance, als Erster bei der Draft an die Reihe zu kommen. Aber die liegt - rein mathematisch - nur noch bei 25 Prozent.
    NBA-Chef Silver spielt das Problem herunter
    Man hat das System im Laufe der Zeit verfeinert. Früher warf man noch DIN-A-4-Umschläge mit den Clubnamen in die Trommel. Und es gab überdeutliche Anzeichen dafür, dass dabei manipuliert wurde. Wie 1985, als die in New York ansässige NBA den New York Knicks half, den besten jungen Spieler seines Jahrgangs zu verpflichten, den späteren Dream-Team-Center Patrick Ewing.
    Der aktuelle NBA-Commissioner Adam Silver spielt übrigens das "Tanking”-Problem gerne herunter. Wie 2014 in einer Pressekonferenz, als er behauptete, es gäbe keinen Beweis dafür, dass Mannschaften in seiner Liga absichtlich Spiele verlieren: "My understanding of tanking would be losing games on purpose. And there is absolutely no evidence that any team in the NBA has ever lost a single game, certainly not in the time that I have been in the league, on purpose.”
    Angeblich, so schob Silver unlängst nach, besteht das einzige Problem darin, dass Trainer bisweilen bewusst ihre besten Spieler, obwohl fit, nicht aufbieten, um ihnen eine Erholungspause zu geben. Was angesichts einer regulären Saison mit 82 Spielen in sechs Monaten plus Playoffs nachvollziehbar ist. "Tanking” irritiert übrigens nicht nur normale Fans, sondern vor allem auch solche, die in den USA zu Hundertausenden auf den Ausgang der Spiele wetten. Begegnungen, die vorab im Prinzip entschieden sind, besitzen keine Attraktivität.
    Dass Cuban, der in der Vergangenheit hohe Geldstrafen bezahlen musste, weil er die Liga und ihre Schiedsrichter kritisierte, von der NBA für seine Offenheit Gegenwind bekommt, ist mehr als unwahrscheinlich. Denn dann müsste die Liga auch andere bestrafen. Und das hat sie für diese Form der Unsportlichkeit noch nie getan.