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Das Telefon in der Westentasche

Technologie.- Im Buch "Die Welt in 100 Jahren", herausgegeben 1910 vom Journalisten Arthur Brehmer, gibt es ein bemerkenswertes Kapitel mit dem Titel "Das drahtlose Jahrhundert". Vieles, was heute gang und gäbe ist, wurde damals schon vorausgesehen.

Von Frank Grotelüschen | 07.09.2010
    Ein Zuchthaus, weiß der Himmel wo. Zeit: Eine Stunde vor der Hinrichtung eines unschuldig Verurteilten. Die Mutter und die Braut des Verurteilten bitten um Gotteswillen, die Hinrichtung zu verschieben - weil ein neues Gnadengesuch an den Kaiser abgegangen ist.

    1910. In dem Buch "Die Welt in 100 Jahren" wagt der Autor Robert Sloss einen Blick in das ferne Jahr 2010 – und präsentiert seinen Lesern eine herzzerreißende Geschichte.

    "Ohne des Kaisers Unterschrift", lautete die Antwort, "ist kein Aufschub möglich". Der Henker ist bereit, alle Hoffnung ist verloren. Aber nein. Die Heldin des Stückes eilt zu einer drahtlosen Station. Sie kennt die Nummer des Kaisers. Sie ruft ihn an und spricht mit ihm, der Gott weiß wo auf der Jagd oder mit Staatsgeschäften beschäftigt ist. Und plötzlich ein Leuchten, ein Knistern – und auf dem sich langsam abrollenden Papier erscheinen die Schriftzüge des Kaisers. Die Begnadigung ist von ihm unterschrieben. Sie eilt zurück und kommt gerade zur rechten Minute, um die Hinrichtung noch zu verhindern.

    Robert Sloss geht zwar wie selbstverständlich davon aus, dass es im Jahr 2010 in Deutschland noch Kaiser und Todesstrafe gibt – kleiner Irrtum. Dafür aber sieht er etwas anders treffend voraus: einen Apparat, mit dem sich Geschriebenes per Leitung übermitteln lässt – das Faxgerät. Sowieso: Manche der Visionen, die 1910 im Buch "Die Welt in 100 Jahren" geschildert werden, sind erstaunlich hellsichtig.

    Sobald die Erwartungen der Sachverständigen auf drahtlosem Gebiet erfüllt sein werden, wird jedermann sein eigenes Taschentelefon haben, durch welches er sich, mit wem er will, wird verbinden können.

    Das drahtlose Telefon, heute Handy genannt.

    "Einerlei, wo er auch ist, ob auf der See, ob in den Bergen, ob in seinem Zimmer, oder auf dem dahinlaufenden Eisenbahnzuge, dem dahinfahrenden Schiffe, dem durch die Luft gleitenden Aeroplan, oder dem in der Tiefe der See dahinfahrenden Unterseeboot."

    Nun, das mit dem Handy auf dem U-Boot war zu optimistisch. Hier nämlich spielt die Physik nicht mit. Unter Wasser breiten sich Funkwellen schlicht nicht aus. Aber Robert Sloss philosophiert bereits darüber, welche gesellschaftlichen Umwälzungen ein drahtloses Telefon mit sich bringen könnte.

    Auf Ehe und Liebe wird der Einfluss der drahtlosen Telegrafie ein außerordentlicher sein. Liebespaare und Ehepaare werden nie voneinander getrennt sein, selbst wenn sie Hunderte oder Tausende Meilen voneinander entfernt sind. Sie werden sich immer sehen, immer sprechen, kurzum, es wird die Glückszeit der Liebe angebrochen sein. Denn künftighin wird sich die leibliche Gattin stets davon überzeugen können, was ihr Herr Gemahl treibt. Aber auch der Herr Gemahl wird ganz genau wissen, wie und ob seine Gattin nur an ihn denkt.

    Letzteres wird – Sloss mag es geahnt haben – anno 2010 nicht jedem Herrn Gemahl und jeder Frau Gemahlin so unbedingt in den Kram passen. Für solche Fälle wird man dann gewisse Täuschungsstrategien entwickeln – "Funkloch" etwa oder "Akku leer". Etwas jedoch, was unser Leben heute entscheidend prägt, hatten die Visionäre von 1910 noch nicht vorausgesehen: das Internet. Hier musste man auf die Hellseher des Jahres 1967 warten.

    "Das Einkaufen per Knopfdruck wird eine der Annehmlichkeiten der Zukunft sein. Eine Videokonsole zu Hause ist mit dem Kaufhaus verbunden. Dort filmt eine Kamera die Ware, zum Beispiel Kleidungsstücke, und schickt das Bild auf den Monitor, so dass man sich zu Hause per Knopfdruck etwas aussuchen kann."

    Der US-Film von 1967 zeigt eine amerikanische Vorzeigefamilie, wie sie in ihrem Einfamilienhaus an klobigen Bildschirmen und Tastaturen hantiert, sichtlich beglückt durch die Segnungen der modernen Technik.

    "Was sich die Frau auf ihrer Konsole ausgesucht hat, kann ihr Ehemann auf seiner Konsole bezahlen. Alle Rechnungen werden per Knopfdruck elektronisch überwiesen. Der Bankcomputer bucht sämtliche Ausgaben der Familie ab und schreibt sie gleichzeitig den Kaufhäusern gut."

    Homebanking, so nennt man das heute.

    "Ebenso zur Verfügung steht eine elektronische Korrespondenzmaschine. Sie erlaubt es, eine geschriebene Information sofort, ohne jeden Zeitverzug, in jeden Winkel der Welt zu schicken."

    Ganz offenbar der Vorläufer der E-Mail. Allerdings stellte man sich damals vor, die Mails nicht per Tastatur in den Rechner zu hacken, sondern einfach per Hand mit einem elektronischen Griffel in die Maschine zu kritzeln. Das ist zwar rein technisch anno 2010 ohne weiteres möglich, hat sich aber nie so richtig durchgesetzt.

    Das Buch "Die Welt in 100 Jahren" ist kürzlich im Olms-Verlag wieder aufgelegt worden.



    Zur Beitragsreihe "Rückblicke auf die Zukunft"


    Weitere Links zum Thema

    Thema-Beitrag in der ARD

    Denis Scheck über das Buch

    Videobeitrag von 1967