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Das Tokio der Zukunft
Visualisierung eines Hip-Hop-Songs

Der japanische Filmregisseur Sion Sono zeichnet mit der Manga-Verfilmung "Tokyo Tribe" ein düsteres Bild der Millionenstadt. Eine Story über rivalisierende Gangster-Banden, Straßenkriminalität, Spielhöllen, Bordelle, Nachtklubs und vor allem über diverse Musikszenen und ihre Stilrichtungen.

Von Rüdiger Suchsland | 12.07.2015
    er japanische Filmregisseur Sono Sion konsequent in seiner Haltung, die Essenz des Kinos im Spektakel und im Exzess zu suchen.
    Der japanische Filmregisseur Sono Sion konsequent in seiner Haltung, die Essenz des Kinos im Spektakel und im Exzess zu suchen. (picture alliance / dpa)
    Es ist eine schlechthin bewundernswerte Szene, mit der Sono Sion seinen neuen Film beginnen lässt, und sie allein wäre Grund genug, "Tokyo Tribe" anzusehen. Eine einzige, sehr lange Kamerafahrt bildet den Anfang. Sie folgt zweien der zukünftigen Hauptfiguren durch eine nächtlich belebte Straße, führt sie zusammen und wieder auseinander und präsentiert in den vier bis fünf Minuten die sie dauert, das Tokioter Stadtviertel Bukuro und seine Menschen. Es ist Nacht, Neonlichter erleuchten die Szenerie und geben ihr einen bewusst künstlichen, leicht billigen Glanz. Dann setzt Regen ein, plötzlich und stark - eben wie aus einer Regenmaschine.
    Schon dieser klassische "Establishing Shot", mit dem Kameramann Daisuke Soma von einer Höhe aus einen Panoramablick gestattet, und dann mit bestimmten Personen, ihren Weg verfolgend, in die Szenerie eindringt, sie vorführt und vorstellt, zitiert das Hollywoodkino seiner größten Zeit: Der der vierziger und Fünfzigerjahre. Diese Zeit, besonders ihre Musicals, steht für den ganzen Film Pate: In ihrer sehr bewussten Künstlichkeit, ihrer Stilisiertheit, ihren Ritualen. Sions Film spielt offen mit der Studio- und Technicolor-Ästhetik vom "Zauberer von Oz" bis zu "One from the Heart", der er seinen Look entlehnt.
    Ironisierte Bild-Entfaltung
    "Tokyo Tribe" ist eine "East Side Story" über rivalisierende Gangster-Banden, über Straßenkriminalität, Spielhöllen, Bordelle, Nachtclubs und vor allem über diverse Musikszenen und ihre Stilrichtungen. Es dominiert dabei der Hip Hop, und man könnte den ganzen Film als die Visualisierung eines Hip-Hop-Songs verstehen, als eine Bild-Entfaltung, die dessen Inhalte weitgehend wörtlich nimmt und dabei ironisiert.
    Dies ist aber ebenso, auch das macht die erste knappe Viertelstunde des Films unmissverständlich klar, ein Tokio-Film. Die Stadt selbst und ihre Topografie sind das Thema, und bis zu einem bestimmten Grad sogar der Hauptdarsteller des Films. Die Topografie von Tokio, die hier sichtbar wird, ist die einer neuen Stammesgesellschaft.
    Feine Unterschiede der Popkultur
    Die Stämme sind die Jugend- und Musikstile, ihre Grenzen sind durch die feinen Unterschiede der Popkultur markiert.
    Die Erzählung wird dabei dynamisch angetrieben vom Dauerwummern der Elektrobeats. Das ist mitunter gewöhnungsbedürftig, zugleich faszinierend in der Konsequenz, mit der Musikalität hier den Ton angibt. Im Mix der Stile und in seinem Tempo.
    Erfolg gegen den Aggressor
    Zugleich ist "Tokio Tribe", der auf dem in Japan berühmten Manga von Santa Inoue basiert, ein Film zum Hingucken, der sich ganz der Logik der Bilder verschreibt. Die eigentliche Handlung ist gegenüber diesem Spektakel sekundär. Alles spielt in einer nahen Zukunft, in der Tokio unter zwei Dutzend rivalisierenden Banden aufgeteilt ist. Es geht um einen Yakuza-Clan, der von einem wahnsinnigen Boss angeführt wird, und die Alleinherrschaft in der Stadt übernehmen will. Ein anderer, friedlicher Clan hält gegen und am Ende schließen sich alle Gangs der Stadt mit Erfolg gegen den Aggressor zusammen.
    Am Anfang schon, im allerersten Dialog, wurden Hoffnung und Freude als Gegengift gegen Einsamkeit und "das Ende der Welt" etabliert. Und so kann man in "Tokio Tribe" leicht auch tiefere Bedeutung und friedfertige Botschaften entdecken.
    Nur kommt es darauf nicht an. Denn nicht um das Gute geht es hier. Im Kern ist dies ein Film über das Böse, wie immer bei Sono Sion, und dazu gehört, dass dieses Böse auch wirklich böse ist, und nicht verniedlicht, oder auch nur mit der Rationalität schlüssiger Begründungen ausgestattet wird.
    Verzicht auf Perfektion
    Was "Tokio Tribe" aber vor allem zu einem wunderbaren, spannenden, unterhaltsamen Film und einstweilen beispiellosem Kino macht, das auf Harmony Korines "Spring Breakers" ebenso anspielt, wie auf Kubricks "Clockwork Orange", ist sein Vertrauen in den Vorrang des Visuellen und sein tollkühner Verzicht auf Perfektion. Dafür ist Sono Sion konsequent in seiner Haltung, die Essenz des Kinos im Spektakel und im Exzess zu suchen.