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Das Tor zur Welt

Die Geschichte des Rotterdamer Hafens begann bereits im 14. Jahrhundert mit der Gründung eines Fischerdorfes - und zwar dort, wo jener kleine Fluss in die Maas mündet, der dem Ort seinen Namen geben sollte: die Rotte.

Von Kerstin Schweighöfer; Redakteur am Mikrofon: Norbert Weber | 02.09.2006
    Zunächst pochte das Herz des Hafens am westlichen Stadtrand, nicht weit von der Innenstadt entfernt. Die meisten Hafenarbeiter wohnten gleich auf der anderen Seite der Maas, im Stadtteil Feyenoord. Doch der Hafen wuchs und verschob sich immer mehr Richtung Westen, bis hin zum 40 Kilometer entfernten Hoek van Holland. Dort, wo Maas und Rhein in die Nordsee fließen, wurden dem Wasser 1973 neue Hafengebiete abgerungen: die so genannte Maasvlakte - die Maasebene.

    Inzwischen umfasst der Rotterdamer Hafen ein Gebiet von 10.000 Hektar und platzt trotzdem aus allen Nähten. Eine zweite Maasvlakte ist geplant und soll erneut dem Meer abgerungen werden. 40 Kilometer landeinwärts, dort, wo alles begann, sind Hafenkräne, Docks und Lagerhallen längst verschwunden. Architekten aus aller Welt bauen hier ein neues
    Wohn-, Arbeits- und Ausgehviertel. Auch den traditionellen Hafenarbeiter gibt es nicht mehr, denn längst haben Computer und Maschinen seine Arbeit übernommen. Und statt Kisten, Schachteln und Dosen gibt es nur noch Container. Container, in denen pro Jahr rund 350 Millionen Tonnen Güter transportiert, und mit denen rund 180 Millionen Menschen in ganz Europa versorgt werden.


    Kapitän Cees de Keijzer
    Mit dem Hafen steht und fällt die Identität der Stadt
    Kop van Zuid, heißt die alte Hafen-Landzunge im südwestlichen Stadtzentrum von Rotterdam - "Kopf des Südens". Zwischen den modernen Wolkenkratzern aus Stahl und Glas pfeift auch bei ruhigem Wetter noch der Nordseewind. Bis vor kurzem war dieses ehemalige Hafengebiet verlassen und verfallen. Doch Stararchitekten wie Renzo Piano oder Norman Foster haben ihm neues Leben eingeblasen und Rotterdam zum Mekka für Architekturfans gemacht.

    Unermüdlich flitzen Wassertaxis quer über den Fluss hin und her, vorbei an vollbesetzten Hafen-Rundfahrtbooten und langsamen Schleppern auf dem Weg zum Ruhrgebiet. Auf der Wilhelmina-Pier im westlichen Teil der Landzunge flanieren Liebespaare am Ufer entlang. Auf den vielen Cafeterrassen treffen sich Geschäftsleute zur Mittagspause.

    Auch Cees de Keijzer ist an diesem Mittag auf der Wilhelmina-Pier verabredet. Fester Händedruck, forscher Schritt, dem 63Jährigen ist anzumerken, dass er die Fäden am liebsten selbst in der Hand hält. Als Kapitän hat er einst alle Weltmeere befahren. Auch für ihn war Rotterdam das Tor zur Welt:

    Die Wilhelmina-Pier kennt de Keijzer wie seine Westentasche. Hier hatte er einst angeheuert - als junger Kadett bei der Holland-Amerika-Linie, kurz HAL genannt. Und hier beendete er seine Karriere auch - bei der Städtischen Hafenbehörde, die vor kurzem in einen der Wolkenkratzer auf den Kop van Zuid umgezogen ist: das World Port Centre.

    "Auf der Wilhelmina-Pier hat sich der Kreis meines Lebens nach 41 Jahren buchstäblich wieder geschlossen. Aber ich kann Ihnen versichern: Zwischendrin hat sich eine Menge getan!"

    Als de Keijzer anfing, ragten hier noch Hafenkräne statt Wolkenkratzer in den Himmel. Statt Touristen und Geschäftsleuten rückten jeden Morgen Hafenarbeiter aus dem Kleine-Leute-Viertel Feyenoord zum Löschen und Laden an.

    Doch der Hafen wuchs und verschob sich immer weiter nach Westen Richtung Nordsee, bis hin zum 40 Kilometer entfernten Hoek van Holland. Auf dem Kop van Zuid wurde es still, zu still, fand auch Kapitän de Keijzer. Er begrüßt es, dass hier wieder reges Leben herrscht. Aber alles sei so anders geworden. Das macht ihn manchmal sentimental. Zum Beispiel, wenn er am einstigen Verwaltungsgebäude der HAL vorbeikommt. Das Backsteingebäude mit seinen beiden grünen Kupferdachtürmchen liegt am äußersten Zipfel der Landzunge.

    Heute ist dort das Hotel New York untergebracht, eine auch im Ausland beliebte Adresse, wo Brautpaare die Hochzeitsnacht verbringen und sich Yuppies zum Austernschlürfen treffen.

    Hier hatte sich der junge Kadett einst gemeldet. Nun steuert de Keijzer über den alten Mosaikfussboden auf die Rezeption zu - vorbei an verschlissenen Reisekoffern, die wie vergessene Gepäckstücke in der Halle stehen.

    In den letzten 120 Jahren saßen hier Zehntausende von Europäern auf ihren Habseligkeiten, um mit den Dampfschiffen der Holland-Amerika-Linie in die Neue Welt zu emigrieren.

    "Taschentuchpier" wird die Wilhelmina-Pier deshalb auch genannt. Wegen der vielen Taschentücher, die beim Abschiednehmen im Wind flatterten. Und wegen der vielen Tränen, die vergossen wurden.

    Elf Jahre lang durchkreuzte de Keijzer alle Meere: von Montreal aus hinterm Eisbrecher her durchs Polargebiet. Mit Kohlen an Bord nach Venezuela und dann mit Öl weiter nach Peru und Chile. Oder nach Feuerland durch die Straße von Magellan, um Kap Hoorn zu vermeiden mit seinen unberechenbaren Gewässern.

    Bei einer Reise war auch seine Frau mit dabei an Bord, sieben Monate lang. New Orleans, Odessa, Mombasa - alle fünf Kontinente wurden dabei besucht.

    Trotz allem vermisst er die Weltmeere nicht. Dazu sei der Job viel zu hart und riskant geworden: fast schon verantwortungslos würden die Reedereien die Kapitäne zwingen, die Zeitpläne einzuhalten - auch noch bei Windstärke 8 und wahnsinnigem Wellengang.

    Wieder wird de Keijzer sentimental. Nichts sei übrig geblieben von der Romantik des Seemannslebens. Ein gnadenloses Geschäft sei es geworden, bei dem sich alles nur noch ums Geld drehe:

    "Heutzutage gibt es ja nur noch Container. Wir hatten noch Schachteln und Dosen. Oder Kartons voll mit Schweizer Schokolade und französischem Cognac."

    Aber Rotterdam müsse nach vorne schauen. Container würden nun einmal die Zukunft bedeuten; es sei wichtig, dass sich Rotterdam Asien gegenüber zu behaupten wisse. Mit dem Hafen stehe und falle die Identität der Stadt, sagt der alte Kapitän. Städte wie Amsterdam haben einen Hafen. Rotterdam hingegen ist ein Hafen.

    "In der Tat mache ich wenig Aufhebens von den großen Seehäfen. Ich verabscheue das ganze Mauerwerk, mit dem man das Meer ausstaffiert. In diesem Labyrinth aus Dämmen, Molen, Deichen und Kais verschwindet der Ozean wie ein Pferd unter dem Harnisch. Je kleiner der Hafen, um so größer das Meer", schrieb Victor Hugo, der französische Schriftsteller im Jahr 1836.
    Für andere wiederum bedeutet Hafen Glück, Sehnsucht, Wiederkehr - die Erfüllung einer Hoffnung. So wie für Calderon, der Hauptfigur in Wolfgang Koeppens erzählender Prosa "Zum ersten Mal in Rotterdam".



    Calderon, der gegen Mittag in Rotterdam, das ihm vertraut war, obwohl er es nicht kannte, angekommen war, wandte sich, nachdem er die Centraal Station verlassen hatte, sofort und entschieden nach links, zum Hafen, zur See. Ohne sich um die Taxis, die hier auf die Reisenden warteten, die Autobusse und Straßenbahnen zu kümmern..., folgte Calderon allein seiner Erinnerung an einen Plan der Stadt, den er, bunt und anziehend genug, mit vielen himmelblau getuschten Wasserläufen im immer überheizten Kontor des Kohlenhändlers an der torfmoorigen, rußverschmierten Wand hatte hängen sehen.(...) Damals schon und ganz erniedrigt hatte sich Calderon vorgenommen, als Mann nach Rotterdam zu gehen und dort ein reicher Kaufmann zu werden, Herrscher über die Brandstoffe in Europa, größer, mächtiger als der kleine Kohlenhändler in der kleinen, engen Heimatstadt.

    Im Rotterdamer Hafen liegt das größte Containerumschlagunternehmen Europas, das "Europäische Container Terminal" ECT. Das erste Containerschiff lief 1966 ein und hatte lediglich 400 Container an Bord. Inzwischen treffen Schiffe mit bis zu 9000 Containern ein. Meistens geht es um so genannte 20-Fuss-Container: sechs Meter lang und 32 Tonnen schwer. Dank des technischen Fortschritts können sie problemlos gelöscht werden. Mehr als neun Millionen waren es im Jahr 2005.

    Jahrelang hielt sich Rotterdam dadurch nicht nur als modernster, sondern auch als größter Hafen der Welt, musste sich jedoch vor zwei Jahren von Shanghai und Singapur einholen lassen. Nur dort werden noch mehr Container umgeschlagen als im niederländischen Rheindelta.
    Koos Knol hat miterlebt, wie die Erfindung des Containers den Hafenbetrieb revolutionär veränderte.


    Koos Knol
    Vom einfachen Arbeiter zum Containermanager


    Das Deltaterminal auf der Maas-Ebene, weit draußen bei Hoek van Holland: Dort, wo die Nordsee beginnt, scheint sich eine Science-Fiction-Stadt breitzumachen mit gigantischen Kranbrücken aus Stahl, Angst einjagenden Greifarmen und vollautomatisierten Fahrzeugen: Menschenleer und wie von Geisterhand bewegt flitzen diese Fahrzeuge auf dem Terminal hin und her. An der Kaimauer liegt ein haushohes Frachtschiff hinter dem anderen, *bis zu 350 Meter lang und voll beladen mit bunten Containern, die wie riesige Legosteine übereinander gebaut sind. Unter ohrenbetäubendem Lärm werden die Schiffe gelöscht - und zwar computergesteuert, erklärt Containermanager Koos Knol voller Stolz:

    "Sehen Sie, da kommt wieder ein Container an. Der Greifarm des Krans hievt ihn vom Schiff nach oben, dann wird er in 45 Meter Höhe über die Kranbrücke an Land gebracht. Jetzt müssen wir nur noch auf eines unserer vollautomatisierten Fahrzeuge warten."

    "Da ist es ja schon! Sobald es genau unter dem Container steht, wird dieser herabgelassen. Dann bringt das Fahrzeug den Container in ein Depot, wo er von einem vollautomatischen Stapelkran eingeräumt wird. Da bleibt der Container dann, bis er von einem Lkw abgeholt wird."

    Mit seinen milden hellblauen Augen erinnert Koos Knol ein bisschen an den britischen Schauspieler Anthony Hopkins.

    Aber, so betont der 57-Jährige voller Stolz, er ist ein waschechter Rotterdamer. Seine Landsleute bräuchten das nicht lange zu fragen, das würde jeder sofort hören

    Seit 39 Jahren arbeitet Koos Knol beim Europäischen Container Terminal ECT, dem größten Containerumschlagunternehmen Europas. Er war von Anfang an mit dabei, erst als einfacher Hafenarbeiter, der das Löschen und Laden von der Pike auf lernte. Inzwischen hat er sich hochgearbeitet und ist operationeller Manager, das heißt, er muss für einen reibungslosen Ablauf sorgen und das gesamte Gebiet regelmäßig kontrollieren.

    "Schuld an allem ist mein Opa, der nahm uns sonntags immer mit zum Hafen, in der Tasche ein paar Zigarren. Mit denen bestach er dann die Seeleute, damit sie uns an Bord der großen Schiffe ließen. Wir Kinder fanden das fantastisch. Deshalb wollte ich später unbedingt im Hafen arbeiten."

    Koos hat miterlebt, wie die Zahl der Hafenarbeiter durch die Automatisierungen von 60.000 auf 20.000 schrumpfte. Zum Glück haben die meisten gute Abfindungen bekommen, erklärt er, als ihm ein alter Kollege mit einem Becher Kaffee entgegenkommt.

    Mark arbeitet ebenfalls seit der ersten Stunde beim ECT. Vom guten alten Hafenarbeiter sei durch die Automatisierungen nicht viel übrig geblieben, meint er. Aber mit Romantik und Nostalgie hat er nichts am Hut: Früher sei das Leben auch verdammt schwer gewesen, heute hingegen alles viel angenehmer und buchstäblich leichter.

    Koos zeigt auf den riesigen grünen Schiffsrumpf, der neben ihm am Kai wie ein mehrstöckiger Apartmentkomplex in den Himmel ragt: die Bangkok Express.

    Mit ihren 320 Metern ist sie eines der modernsten Schiffe der Welt.

    Die kommt aus dem fernen Osten aus Häfen in China oder Japan, erklärt Koos auf dem Weg zum Auto, um seine Kontrollfahrt fortzusetzen.

    Die ersten Container mit Weihnachtsschmuck für die Wohnzimmer Europas sind bereits Anfang August eingetroffen; im September werden die ersten Ladungen mit Feuerwerk für Silvester folgen. Doch was so in den Containern steckt, ist von außen nicht zu erkennen.

    "Das interessiert uns auch nicht sonderlich. Lediglich gefährliche Stoffe wie Chemikalien oder Sprengstoff müssen registriert werden. Aber der Zoll führt regelmäßig Stichproben durch. Tausende Container werden jedes Jahr mit einem Spezialgerät gescannt oder von Hunden durchsucht. Und glauben Sie mir, inzwischen sind die Zollbeamten so erfahren, dass sie genau wissen, wo sie kontrollieren müssen. Etwa, um Drogenschmugglern das Handwerk zu legen."

    Ab und zu werden in den Containern auch Menschen entdeckt, Flüchtlinge aus Afrika zum Beispiel. Aber das sei lebensgefährlich und zum Glück eine Ausnahme. In Kürze soll jeder Container mit einem elektronischen Siegel versehen werden, sodass genau festgestellt werden kann, woher er kommt, was sein Ziel ist und ob er in der Zwischenzeit geöffnet wurde - eine Anti-Terror-Maßnahme, die die Amerikaner zur Bedingung gemacht haben.

    Am Ende seiner Kontrollfahrt schaut Koos immer im Kontrollraum vorbei, das ist das klopfende Herz des ECT. Von hier aus wird wie vom Kontrollturm eines Flughafens aus alles gesteuert und jede Containerbewegung registriert.
    Und hier kann auch alles sofort gestoppt werden - was allerdings nur in Notfällen geschieht, und die sind zum Glück selten. "Wir haben nur am ersten Weihnachtstag geschlossen", lacht Koos. Ansonsten geht es auf den ECT-Terminals nonstop durch mit Laden und Löschen.

    Noch zweieinhalb Jahre, dann wird Koos pensioniert. Vor Entzugserscheinungen hat er allerdings jetzt schon Angst. Aber, so meint er, es gibt ja zum Glück noch genug andere schöne Dinge im Leben. Reisen zum Beispiel. Seine Frau freue sich jetzt schon drauf. Seereisen allerdings kommen dabei nicht in Frage:

    "Meine Frau wird schon auf einem wackligen Steg seekrank - das ist ausgeschlossen!"


    Kaum, dass Calderon die Brücke betreten hatte, fügte sich sein Schritt in ihr Schwingen. Links auf dem erhöhten Steg der Bahnlinie überholten ihn die Güterzüge, übermannten ihn die Waren der Welt. Auf Fässern, Kisten, Ballen, Säcken die Schrift Arabiens, die Pinselstriche chinesischer Philosophen, das Alphabet der Bibel. Calderon, von einem mächtigen Sog erfasst, trieb mit und dahin in einem Fluss von königlichen Kaufherren, Buchhaltern, Betrügern, Dieben, Seeleuten, Dockern, Werftarbeitern und den Tod herausfordernden geschäftigen Boten auf surrenden, schrill schellenden Fahrrädern. Dazwischen die Automobile mit den Weltreisenden im Fond und den Tropenkoffern hinten aufgeschnallt, die Lastwagen mit dem Brandgeruch des treibenden Öls und die breitbrüstigen, wie in schweren Träumen wandelnden belgischen Pferde mit den flachsigen Mähnen wie Frauenhaar behäbig auf den Bildern der holländischen Maler in den Museen.

    30.000 Seeschiffe und 110.000 Binnenfahrtschiffe laufen jedes Jahr in den Rotterdamer Hafen ein. Sobald ihre Länge 70 Meter überschreitet, dürfen sie nur mit Lotse einlaufen. Das gilt auch für Schiffe ab einem Tiefgang von 17,40 Meter. Alle Lotsen im Rotterdamer Hafen haben zunächst mindestens zehn Jahre lang als Kapitän die Weltmeere befahren. Denn nur die erfahrensten Kapitäne dürfen Lotsen werden. Deshalb ist das Durchschnittsalter der Berufsanfänger relativ hoch und liegt bei 31,32 Jahren.

    Lotse Dennis Hortensius
    Wer Tanker in den Hafen bugsiert muss viel Erfahrung haben
    Die Nordsee rund drei Meilen vor der niederländischen Küste. Bei strahlendem Sonnenschein und mit voller Fahrt hat das Zubringerschiff Perseus die Rotterdamer Lotsenzentrale in Hoek van Holland verlassen. Jetzt bremst es ab, um sich vorsichtig einem so genannten Rustpunt-Boot zu nähern, einem Schiff, das den Lotsen als Ruhepunkt dient.

    Dort wartet Lotse Dennis Hortensius. Im Morgengrauen hat der 50Jährige bereits einen Tanker aus dem Hafen gelotst. Jetzt bringt ihn die Perseus zu einem zweiten Schiff, mit dem der Lotse an diesem Vormittag wieder zurück in den Hafen fahren soll.

    Gut gelaunt begrüßen sich die Besatzungsmitglieder, als die beiden Boote nebeneinander liegen. Dann springt Dennis Hortensius an Bord der Perseus. Breite Schultern, kurze blonde Haare, blitzende blaue Augen, der groß gewachsene Holländer ist ein Seebär wie aus dem Bilderbuch.

    "Mein Großvater war ebenfalls Lotse, deshalb wollte ich es auch werden. Meine Tochter zeigt ebenfalls bereits Interesse, mein Sohn hingegen, der ist 16 und weiß es noch nicht."

    Hortensius ist seit 20 Jahren Lotse und hat schon so manches mitgemacht - auch so hohen Wellengang, dass er nicht per Schiff sondert per Helikopter an Bord eines Schiffes gebracht werden musste. Heute ist es eine reine Routineangelegenheit. Es geht um die "Godavos", ein 170 Meter langes Containerschiff aus Island. Die kommt mehrmals im Jahr. Hortensius kennt sich an Bord gut aus, denn er hat sie schon mehrmals, wie es im Fachjargon heißt, "belotst":

    "Die hat viel Fisch an Bord, frischen Kabeljau für die Europäer und eingefrorenen für die Südostasier. Aber auch Aluminium. Früher transportierte sie auch Pferde, da leisteten uns immer 20 Shetland-Ponys an Bord Gesellschaft."

    Was ein Lotse neben Erfahrung noch braucht, ist vor allem gute Kondition. Auch damit ist Hortensius reichlich gesegnet. Was er sogleich beweisen kann, als sich die Godavos wie ein riesiges Ungetüm von backbord nähert:

    Er verteilt Schwimmwesten, kontrolliert ein letztes Mal die Schnürsenkel seiner schweren Schuhe und setzt den Rucksack auf. Denn ein Lotse muss beide Hände frei haben:

    Dann klettert er flink die Leiter hinauf an Bord des Containerschiffes, wo er von der Bemannung empfangen wird.

    Zwischen haushoch getürmten Containern begibt er sich zum Heck des Schiffes. Dort führt eine endlos scheinende Treppe hinauf zur Kommandobrücke.

    Hier oben, 27 Meter über dem Seespiegel, ist das Reich von Kapitän Niklas Altarson:

    Seit elf Jahren schon fährt der Isländer diese Route, immer von Reykjavik über die Färöer-Inseln nach Rotterdam, dann weiter nach Hamburg und von dort aus über Schweden zurück nach Reykjavik.

    Den Weg in den Rotterdamer Hafen würde er auch selbst finden. Aber Schiffe über 70 Meter sind verpflichtet, sich lotsen zu lassen. Verantwortlich allerdings bleibt weiterhin der Kapitän, trotz Lotse. "Wir arbeiten zusammen, ich bin nur ein Berater", erklärt Hortensius bescheiden, bevor er dem Lotsenradarposten Bescheid gibt, dass er sich auf den Weg zum Waalhafen macht, Pier 7. Dort soll die Godavos anlegen:

    Gegen 12 Uhr wird sie im Waalhafen erwartet, fast zweieinhalb Stunden dauert die Fahrt zu diesem Hafenkomplex. Er liegt flussaufwärts Richtung Innenstadt, gut 30 Kilometer von der Rhein-Nordseemündung entfernt.

    Die Fahrt führt vorbei am Europoort, wo die ganz großen Öltanker und Containerschiffe mit einem Tiefgang von bis zu 24 Metern gelöscht werden können. Weiter östlich im Botlek haben die Chemie-Betriebe ihren Sitz und alle großen Ölraffinerien. Bei jedem neuen Hafenkomplex muss sich Hortensius beim Radarposten melden:

    Schwerbeladene Schlepper mit Erz und Kohle ziehen vorbei. Im Früchte-Hafen legen Tanker mit Apfelsinensaft aus Brasilien an: Hier wird er verpackt und landet in Europas Geschäften. Hortensius zeigt auf die großen Hügel links am Ufer, die aussehen wie Sand oder Kies:

    "Das ist Katzenstreu aus Amerika und der Sahara, ein hoch absorbierendes Zeug. Es wird hier bei uns gelöscht, in Säcke gefüllt und abtransportiert in die Supermärkte."

    In der Ferne ist bereits die Wolkenkratzersilhouette der Rotterdamer Innenstadt mit der Erasmusbrücke zu sehen. Auf der Kommandobrücke flaniert ein Pärchen, das nicht zur Bemannung gehört: zwei Touristen aus der Schweiz, die zwei Wochen lang mitreisen. Sie freuen sich auf Rotterdam. Die letzte Nacht haben sie auf hoher See verbracht. Das Essen an Bord sei prima und die eigene Kabine, die sie haben, tipptopp. Mit 2.000 Euro pro Person ist diese Art des Reisens zwar teurer als eine normale Kreuzfahrt, aber dafür um so erholsamer:

    "Sehr. Ja, ja. Wir machen nicht viel. Frühstück um 8, Mittagessen um 12, um 18 Uhr Abendessen und dazwischen etwas hier oben."

    Gegen halb zwölf nähert sich die Godavos planmäßig dem Waalhafen. Lotse Hortensius greift zum Fernglas. Die Container, die sich über eine Länge von mehr als 100 Metern unter ihm türmen, versperren die Sicht auf den Bugbereich. Hortensius muss gleich scharf nach steuerbord abbiegen. Er will sicher sein, dass er dabei kein kleines Schiff über den Haufen fährt.
    Gekonnt und elegant bringt er die Godavos in den Waalhafen, um das Steuer dann wieder an Kapitän Altarson zu übergeben. Der will beweisen, dass er seinem Lotsen in nichts nachsteht und die letzten Meter bis zur Pier 7 selbst bewältigen - auch wenn er rückwärts anlegen muss. Das ist Pflicht, alle Schiffe müssen mit dem Bug Richtung See anlegen, um den Hafen im Notfall schnellstens wieder verlassen zu können.

    Mühelos bringt Altarson sein langes Gefährt in die richtige Position - gerade so, als parke er einen Mittelklassewagen rückwärts in eine Parklücke ein. Mit dicken Trossen wird die Godavos am Kai festgemacht; der Motor verstummt. Hortensius greift zum Rucksack, um die Lotsenformulare herauszuholen und zusammen mit dem Kapitän auszufüllen.

    Jede Handlung im Hafen kostet etwas: Anlegen, Löschen, Tagegeld. Für den Lotsendienst wird die Reederei mindestens 2.000 Euro zahlen müssen: Beide Männer unterschreiben. Dann schütteln sie sich herzlich die Hände und nehmen Abschied. Erst morgen geht es dann weiter nach Hamburg. Während die Schweizer Touristen das Schiff verlassen, um sich Rotterdam anzusehen, leitet der Kapitän alles für das Löschen der Ladung in die Wege. Lotse Hortensius geht ebenfalls von Bord: Feierabend! Das war's für dieses Mal. Man sieht sich!

    Menschenfüße, Pferdehufe, Wageneisen, Räderreifen, Autoräder deckten den Boden der Brücke mit einer so dichten Folge von Bewegungen, dass ein zu Boden gerichteter Blick das harte feste Grau nur flüchtig und unter Schatten wahrnehmen konnte. Rechts aber, durch die Lücken im starken Netz der Pfeiler, der verflochtenen und genieteten eisernen Träger, konnte Calderon den Strom sehen, wie er mit überraschender und plötzlich unheimlicher Geschwindigkeit der See zuging, Schiffe trug, lustig noch, zu ihrem sicheren Untergang.

    Hier hörte Calderon den zweiten, dumpf dröhnenden Heulton aus der Sirene des Amerikadampfers. Wenn er seinen Kopf über die Köpfe, die vor ihm Köpfe waren, hinausreckte, konnte er in einiger Entfernung, hinter den Teerdächern flacher Schuppen, den Spinnenarmen der Kräne, die gedrungenen Schornsteine des Ozeanriesen in einer schrägen Parallele vor dem Himmel stehen sehen, der ein wenig nach Regen aussah; doch stieg der Sirenendampf des Riesen, da der Ton noch in immer weiter sich entfernenden Echos aus der Stadt zurückgeworfen wurde, als blendend weiße und lieblich flockige Wolke zu Gott auf.


    In Rotterdam befindet sich der wichtigste Ölmarkt der westlichen Welt. Alle großen Raffinerien haben hier ihren Sitz. Dank der so genannten Eurorinne, die 25 Meter tief gegraben wurde, können auch die allergrößten Öltanker in Rotterdam einlaufen. Ein Drittel des Gesamtumschlags ist Rohöl, der Grundstoff für Benzin, Diesel und Kerosin und, feiner verarbeitet, für viele chemische Produkte. Das ist das Besondere an Rotterdam: Mehr als die Hälfte des Öls wird von der im Hafengebiet angesiedelten Chemie-Industrie zu Halbfertig-Endprodukten verarbeitet. Der größte Teil der Hafenfläche ist denn auch für die Petrochemie reserviert. Der Ölpreis allerdings wird nicht in Rotterdam bestimmt, das ist ein hartnäckiges Missverständnis. Das Öl wird in Rotterdam lediglich verarbeitet oder weitergeleitet.

    Joost Emmen von Exxon Mobile
    Alles dreht sich um das Öl
    Kompressoren und Kühllüfter, Röhren, Pipelines und Pumpen, Schlote und Schornsteine soweit das Auge reicht: Im Hafenteilabschnitt Botlek haben alle großen Ölraffinerien und viele Chemiefirmen ihren Sitz. Das ist die Welt von Joost Emmen, 37 Jahre alt, blond und immer gut gelaunt: Joost arbeitet seit 12 Jahren bei Exxon Mobile. Er hat in Delft chemische Verfahrenstechnik studiert. Schon als Schüler stand es für ihn fest: In seinem Leben sollte sich alles um Erdöl drehen:

    "Das schwarze Gold hat mich schon immer fasziniert. Wie man aus dieser schwarzen zähen Flüssigkeit, die aus der Tiefe der Erde nach oben gepumpt wird, wunderschöne goldgelbe Produkte machen kann."

    Tagtäglich inspiziert er die Raffinerie - und zwar auf dem Rad, mit Helm, Schutzschuhen und blauem Overall: "Das machen wir hier alle so", erklärt er lachend: Zum Laufen sei das Gebiet einfach zu groß. Außerdem wolle man den Autoverkehr aus Sicherheitsgründen auf ein Minimum beschränken. Da sei das Fahrrad die ideale Lösung: Die Fahrt führt an weißen Tanks vorbei, die wie überdimensionale Hutschachteln am Rand der Raffinerie liegen: Hier wird das Rohöl zwischengelagert. Denn die Öltanker können wegen ihres extremen Tiefganges nicht bis zum Botlek einlaufen. Sie werden schon rund 20 Kilometer weiter flussabwärts im Europoort gelöscht. Per Pipeline landet das Öl dann gut eine Stunde später in den Tanks der Raffinerien.

    Von dort aus wird das Rohöl in zwei Destillationstürme geleitet und abgebrochen in Stoffe wie Diesel, Kerosin oder den Benzingrundstoff Naphtha. Übrig bleibt der so genannte Vakuumrückstand: Der wird in einer dritten Anlage auf 500 Grad erhitzt bis winzig kleine Koks-Teilchen entstehen.

    "Sehen Sie den Laster da unter den Destillationstürmen? Der wird gerade mit 20 Tonnen Koks beladen. Wir holen einfach alles aus dem Rohöl, was herausgeholt werden kann. Wir brechen es total ab. Den Koks kann man zur Herstellung von Autoreifen benutzen. Diese Ladung hier allerdings ist für eine Zementfabrik bestimmt."

    Kollege Nelo Emerencia kommt vorbei - ebenfalls auf dem Rad. So wie Joost hat auch er in Delft chemische Verfahrenstechnik studiert und teilt dessen Faszination für das schwarze Gold:

    "Das Fantastische an Erdöl ist, dass sich daraus nicht nur Benzin oder Diesel gewinnen lässt. Wir stellen hier auch Grundstoffe für die Chemie und die Kunststoffindustrie her. So können Seidenstrümpfe gemacht werden, Regenschirme, Schuhe, Golfbälle oder Golfschläger - alles aus Erdöl!"

    Insgesamt arbeiten 540 Menschen auf der Raffinerie: Ingenieure, Techniker, Wartungsspezialisten, Forscher und Petro-Chemiker im Labor. Doch nur 35 Menschen sind pro Schicht nötig, um die Fabriken auf vollen Touren laufen zu lassen. Computer spielen auch hier inzwischen die Hauptrolle, erklärt Joost - und zwar im Kontrollraum, wo sie von so genannten Operatoren bedient werden:

    "Natürlich haben wir noch immer Maschinen, die von Hand bedient werden müssen. Aber viel wurde automatisiert. Statt Menschen haben wir Motoren, und die werden hier vom Kontrollraum aus über die Computer gesteuert."

    Vom Schwarzen Gold selbst ist auf dem gesamten Raffineriegelände nichts zu sehen: Es fließt versteckt durch Rohre und Leitungen. Erst als Endprodukt wird es wieder sichtbar - zum Beispiel an der Tankstelle. Die weitaus meisten Endprodukte verlassen die Raffinerie so, wie sie als Rohöl einst hier landeten - per Schiff. Am nördlichen Fabrikrand liegen zwei Anlegestege für See- und drei für Binnenfahrtschiffe. Die verlassen Rotterdam rheinaufwärts Richtung Deutschland oder Belgien, beladen mit Diesel, Benzin oder Heizöl:

    "Da fährt gerade ein Binnenfahrtschiff vorbei, hinten auf dem Heck das Auto. Dass es flüssige Ladung hat, sieht man an den Leitungen auf Deck. Direkt vor uns liegt ein Seeschiff, das ist ungefähr 160 Meter lang. Es wird gerade voll gepumpt - die Oriental Protea."

    "Unsere Arbeit beginnt und endet am Wasser", meint Joost. Kollege Emerencia kann ihm da nur beipflichten:

    "Ohne Hafen wären wir nichts. Wir brauchen ihn sowohl zum An- als auch zum Abtransport unserer Produkte. Rotterdam ist unglaublich wichtig für uns. Und die Schiffe beim Einlaufen oder Ablegen zu sehen, das ist mächtig, das ist prächtig und immer wieder ein gewaltiges Schauspiel!"


    Auf dem Vorder- und Achterdeck waren Dampfkräne mit dem Einholen der letzten Fracht beschäftigt, die, in große Netze geschnürt, wie das Spielzeug der Riesendame durch die Luft gehoben wurde. Auch ein rechteckiger Kasten, der von Calderons Standplatz aus klein wirkte, doch ein Pferd umfasste, das mit schönen, angstvoll blickenden Augen und entsetztem Schrei Abschied von Europa nahm und nie auf die Prärie zu den Pferden wollte, wurde scheinbar mühelos an Bord gezogen. Grad waren diese Arbeiten zu Ende geführt, da der Dampfer zum dritten Mal und nun besonders inbrünstig seine Sirene tönen ließ. Ihr antworteten sogleich viele andere, mildere, aber doch verwandtschaftlich gestimmte Laute, und ein Rudel von kleinen wendigen Schleppern zog bisher im Wasser verborgene Stahltrossen straff, die vom Heck der Kleinen wie die schrägen Wege kühner Seiltänzer zum Bug des Ozeanbezwingers führten. So, im Anfang seiner weiten Reise und im Anhang ungelenk, fast hilflos, wurde das Schiff aus dem Hafen bugsiert. Allein die Klänge der Bordkapelle, die den Abschiedsmarsch spielte, blieben den Zuschauern, die ihrerseits hurra riefen.

    Zu einem Hafen gehörte früher auch ein verruchtes Hafen-Rotlichtviertel, so wie es Jacques Brel einst in seinem berühmten Lied "Dans le Port d'Amsterdam" besungen hat. Doch auch das hat sich im Zuge der Modernisierungen längst geändert: Erstens ist das Hafengebiet dazu viel zu groß geworden, welcher Seemann weit draußen zwischen den Containerterminals kann es sich leisten, per Taxi in die 30 Kilometer entfernte Innenstadt zu fahren - und dann wieder zurück? Zweitens bleibt für Ausschweifungen kaum Zeit: Statt Tagen oder Wochen liegt ein Schiff heute allerhöchstens ein paar Stunden im Hafen und läuft dann wieder aus.

    Das Bedürfnis allerdings, das Bordleben zu vergessen - und sei es nur für ein paar Stunden, ist geblieben. Deshalb gibt es im Rotterdamer Hafen, mitten zwischen den Terminals, die Heijplaat, ein internationales Freizeitzentrum für Matrosen.


    Sozialarbeiter Kees Nobel
    Abwechslung und Hilfe für Seeleute im Seemannszentrum Heijplaat



    Zweimal pro Woche fährt Kees Nobel raus zur Heijplaat. Dieser internationale Seemannstreff liegt mitten im Hafen zwischen Containerterminals. Kees ist Mitte 50 - Sozialarbeiter. Seit 12 Jahren kümmert er sich im Rotterdamer Hafen um Matrosen aus aller Welt. Auf der Heijplaat können sie Fußballspielen und gratis im Internet surfen. Es gibt eine Bibliothek, Fernsehen und Videospiele, eine Basketball-Sporthalle, drei Telefonzellen, Billardtische und Tischfussball. Hinter der Bar steht Rijn, 62 Jahre alt, groß, etwas beleibt - ein gemütlicher Typ. Er ist der Sohn eines deutschen Seemannes:

    "Meine Mutter kommt aus Rotterdam und mein Vater war aus Harburg. Aber der ist nicht zurückgekommen."

    Rijn versorgt die Seeleute mit Kaffee, Bier oder Schnaps. Es gibt auch einen Happen zu essen: Broodjes oder Toast Hawaii. "Die Leute kommen gerne hierher", sagt Sozialarbeiter Kees:

    "Wir holen sie mit kleinen Bussen ab und bringen sie auch wieder zurück. Aber viele wissen nicht, dass es die Heijplaat gibt. Deshalb gehe ich regelmäßig an Bord von Schiffen, die gerade angekommen sind, um die Seeleute über unseren Service zu informieren."

    Kees hilft den Seeleuten beim Bewältigen von Alltagsproblemen aller Art, angefangen bei billigen Telefonkarten über Steuerformulare bis hin zu Schadenersatzanträgen und Arztadressen. Ladung runter, neue Ladung rauf - der Zeitdruck mache auch den Seeleuten am meisten zu schaffen. Zeit zum Verschnaufen bleibe kaum noch. Früher blieb ein Schiff zwei Wochen im Hafen, heute sind es nur noch Stunden. Um so wichtiger sei es, den Seeleuten in diesen wenigen Stunden Abwechslung zu bieten.

    "Runter von Bord und tief durchatmen, das beengte Leben an Deck vergessen und abschalten. Die Russen setzen sich dann gerne an unser Klavier. Philippinische Seeleute hingegen spielen am liebsten Gitarre. Sie machen auch am meisten von unserer Basketball-Halle Gebrauch, denn mit Fußball haben die nichts am Hut. Und sie sind verrückt nach Karaoke, ob sie nun singen können oder nicht!"

    In der Internetecke sitzt Jerry Alcedo und versucht, mit seiner Familie in Kontakt zu kommen. Er kommt von den Philippinen und hat drei Kinder. 15, 11 und 8 Jahre sind sie alt.

    Jerry ist schon zum dritten Mal auf der Heijplaat und dankbar über den gebotenen Service. Der 46jährige arbeitet als zweiter Steuermann auf einem Containerschiff. Zwei Monate war er auf See. Er ist froh, zwischen durch mal wieder kurz festen Boden unter den Füssen zu haben. Schon im Morgengrauen, gegen 5, geht es weiter: erst nach Antwerpen, dann weiter Richtung Griechenland und Israel.

    Einmal im Monat telefoniert er mit seiner Frau, täglich schickt er ihr eine sms. Er vermisst seine Familie sehr. Doch er habe einfach keine andere Wahl. Auf den Philippinen gebe es nicht genug Arbeit. Das Seemannsleben sei hart. Aber immerhin verdiene er jetzt genug, um seine Familie ernähren zu können.

    Zwei Seeleute rufen an, um mit dem Bus abgeholt zu werden.

    "A little bit late, isn't it?" Ein bisschen spät, findet Rijn. Er wechselt mühelos die Sprache, als er merkt, dass es um zwei Deutsche geht. Es ist schon halb zehn, in einer Stunde wird geschlossen. Schließlich lässt er sich dann doch erweichen. "Und wie viele Leute seid ihr? Nur zwei? O.K! Tschüss."

    Kees macht sich auf den Weg, um die beiden abzuholen, allerdings nicht ohne vorher zu fragen, ob er jemanden mit zurück an Bord nehmen kann. Doch Jerry will noch etwas im Internet surfen. Und auch die beiden Russen am Billardtisch kommen gerade erst in Schwung.

    Sie kommen aus St. Petersburg und waren schon oft in Rotterdam. Ihr Schiff, ein großer Chemietanker, musste zur Reparatur in die Werft. Fast hätten sie Rotterdam nicht mehr erreicht. Es gab Probleme mit dem Motor, erklärt der 22 Jahre alte Maschinist.

    Ein niederländischer Seemann trifft ein und sucht zwei Kollegen: Die beiden Matrosen hätten längst zurück an Bord sein müssen. Rijn kontrolliert, ob sie sich noch unter den Anwesenden befinden. Nein. Dann fragt er über Funk bei Kees nach. Doch der ist bereits auf dem Rückweg und weiß von nichts.

    Gegen zehn trifft Kees wieder auf der Heijplaat ein, im Schlepptau die beiden deutschen Matrosen Hendrik und Björn.

    "Wir kommen von der Hamburg Süd. Wir sind direkt rüber gekommen aus Brasilien. Das ist jetzt der erste Hafen hier in Europa."

    Fast eineinhalb Wochen nonstop hat die Überfahrt gedauert. Das Bier heute Abend an der Bar wollten sich die beiden keinesfalls entgehen lassen.

    "Abstand nehmen vom Schiff, das braucht man einfach. Mal an nichts denken. Gemütlich zusammen sein. An Bord gibt es immer das Problem: Man kann nicht weglaufen. Dann haste 270 Meter Schiff, und dann ist Feierabend. Dann kannste wieder zurück dackeln."

    Durch die Automatisierung habe sich das Seemannsleben drastisch geändert: Immer mehr Technik, immer weniger Leute. Aber leichter geworden sei es auch, und ganz ohne Menschenkraft gehe es immer noch nicht:

    "Ein Filter kann sich nicht von alleine ausbauen, sauber machen und wieder einbauen. Das geht nicht. Oder das Deck waschen. Oder malen. Diese Servicearbeiten, Wartungsarbeiten, da sind wir zuständig, und mehr machste im Prinzip ja auch nicht."

    Ein anderes Leben können sich die beiden nicht vorstellen. Nicht nur, weil man die ganze Welt kennen lernen kann und die verschiedensten Menschen. Das Seemannsleben sei die letzte große Freiheit:

    "Auf jeden Fall! Auf jeden Fall. Also, allein, was man auf See teilweise erlebt, das ist unbeschreiblich. Das können sich die Menschen an Land nicht vorstellen. Wenn man gutes Wetter hat, keinen Seegang, da kommen die Wale hoch. Man sieht Wale."

    "Man steht dann ja manchmal vorne auf der Bak, Sonnenuntergang, dann die Delphine und so. Das ist schon so ein Moment, den hat man für sich im Kopf, und das kann man nicht im Video oder über Fotos kann man das den anderen nicht zeigen. Die können sich natürlich was vorstellen. Aber dieses Gefühl dabei, das ist etwas ganz anderes. Das ist herrlich!"

    Literatur:
    Wolfgang Koeppen, Zum ersten Mal in Rotterdam, aus: Gesammelte Werke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1986