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Das TV-Format "Love Island"
Wurstbrät in Präservativen

Warum "Love Island" auf RTL II genauso gut ist wie Goethes "Wahlverwandtschaften": Arno Orzessek hat ferngesehen - und rät in seiner Glosse allen geschätzten Kultur-Snobs, auch mal anderen Sendern als Arte eine Chance zu geben.

Von Arno Orzessek | 23.01.2019
    Ein Bild aus der Dating-Show "Love-Island"
    "Love Island" auf RTL II, wo es laut Pressetext des Senders "beim Spiel 'Hoppe Hoppe Reiter' zum Zickenkrieg kommt und die nächste Paarungszeremonie ansteht". (RTL II)
    Vielleicht geht es Ihnen ja so wie uns. Vielleicht haben auch Sie im letzten und vorletzten Sommer "Love Island" verpasst: die Dating-Reality-Show rund um das Triebleben junger Menschen mit Luxus-Körpern auf einem Luxus-Anwesen auf Mallorca. Das Paar, das dort die große Liebe am ehrlichsten sucht und findet, darf am längsten bleiben und erhält Liebeslohn in fünfstelliger Höhe. Wir hatten, wie gesagt, keinen blassen Schimmer von diesen Dingen. Bis wir jüngst im Online-Medienmgazin DWDL die Überschrift lasen: "Vier Wochen lang: RTL II weitet 'Love Island' deutlich aus."
    In der Meldung ging's darum, dass der RTL II-Vermarkter mit dem charmanten Namen El Cartel Media glaubt, in vier Wochen sei mehr Kohle mit Werbung zu machen als bislang in drei. Was wohl hinhauen wird. Immerhin bindet die Kuppel-Show ihre Fans per Youtube-Kanal, Podcast und Whatsapp-Newsletter fest ins intime Insel-Leben ein. Aber das ist nur die schnöde Business-Seite. Was uns fasziniert, seit wir im Netz endlich das reichhaltige Material zu "Love Island" studiert haben, ist die Show selbst.
    Seien Sie mal nicht so etepetete!
    Keine Sorge, niemand hat hier die Absicht, ein Trash-Format schönzureden! Schon gar nicht eines, das Trash-Junkies zufolge viele Gene mit "Big Brother", "Bachelor" und "Adam sucht Eva" teilt. Wenn die Kandidaten auf Mallorca um die Wette Wurstbrät in Präservative spritzen, wenn die Männer den Frauen eimerweise Brühwürste kalt unter die Bikinis quetschen – dann befinden wir uns quasi am Toten Meer des Fernsehens. Tiefer hinab geht’s nimmer.
    Andererseits, liebe Liebhaber der Hochkultur, seien Sie mal nicht so etepetete! Denn nimmt man alles in allem, kreist "Love Island" trotz Kondom-Würstchen um das gleiche Thema wie Goethes Wahlverwandtschaften. Hören wir da etwa Schnappatmung? Dann vergleichen Sie doch mal!
    Diese sinnstiftende Botschaft kapiert jeder
    Goethe entfesselt in seinem Roman auf einem abgeschiedenen Landgut die disparaten Gefühle von vier Menschen. Gleiches tut "Love Island" mit größerem Personal in der abgeschiedenen Villa auf Mallorca. Hier wie dort dreht sich's darum, wer wen warum am stärksten anmacht. Und ums Kuddelmuddel, das aus der Anmache resultiert. In Goethes Libido-Laboratorium fliegt Eduard als Erster raus, darf aber später zurückkehren. Dafür wählt sich Ottilie, die seelisch labilste Kandidatin, per Hungertod für immer selbst ab.
    In "Love Island" übernehmen die Zuschauer den auktorialen Part. Wen sie verdächtigen, die Große-Liebe-Suche nur zu faken, der fliegt nach Hause. Denn merke: Mit romantischen Gefühlen wird nicht gespaßt! Und diese sinnstiftende Botschaft kapiert jeder, während Goethes etwas umständlichen Roman damals kaum jemand kapiert hat.
    Echte Bildung ist immer auch Herzensbildung
    Die Wahlverwandtschaften floppten komplett, "Love Island" jedoch erreichte laut Quotenmeter.de letztes Jahr in der Spitze eine Million Zuschauer. Und wie tief berührt die sind! Wie sie mitfiebern und sogar nachfiebern! Im Netz wurden in Sachen Liebesinsel über 20 Millionen Videoviews registriert. Nicht zu vergessen die innigen Kommentare. Luna S. zum Beispiel schrieb bei Youtube unter eine tränenreiche Abwahl-Szene: "Das war der schönste Moment im deutschen Fernsehen jemals." Viele Fans gaben ihr "isso" dazu, was bei Jüngeren für "so ist es" oder "auf jeden Fall" steht.
    Und erst das Bekenntnis von einer Userin namens mallory anlässlich eines anderen Insel-Filmchens: "Ich glaube, ich bin die unromantischste Frau unter der Sonne, aber dieses Video habe ich mir gefühlte 1 Million Mal angesehen und ich werde es sicher nochmal 1 Millionen Mal anschauen."
    Hey, Leute, echte Bildung ist immer auch Herzensbildung. Und bei "Love Island" findet sie erkennbar statt. Also, wir freuen uns auf die vier Wochen im Sommer. Schade nur, dass die sonnige Show nicht dort läuft, wo sie inhaltlich hingehört, sondern auf RTL II. Denn, geschätzte Kultur-Snobs, geben Sie es ruhig zu: Auf Arte würden auch Sie "Love Island" schauen! So aber müssen Sie wohl noch mal an die Wahlverwandtschaften ran.