Samstag, 20. April 2024

Archiv

Das Verfassungsreferendum und die Kurden
Kein fairer Wahlkampf in Diyarbakir

Ein "Ja" für ein Präsidialsystem in der Türkei würde noch mehr Macht für Recep Tayyip Erdogan bedeuten. Eine Mehrheit der Kurden ist dagegen, aber es gibt auch Erdogan-Anhänger unter ihnen. Doch von einem freien und fairen Wahlkampf kann in den Kurdengebieten im Südosten der Türkei nicht die Rede sein.

Von Gunnar Köhne | 12.04.2017
    Unterstützer der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP schwenken auf einer Demonstration am 2. März 2017 in Istanbul Plakate mit '"No", gegen ein türkisches Präsidialsystem , 6 Wochen vor dem Referendum.
    HDP-Unterstützer auf einer "No"-Demonstration in Istanbul. In Diyarbakir können sich Gegner der Verfassungsänderung nur in geschlossenen Räumen treffen. (AFP/Ozan Kose)
    In einem Hotelkonferenzsaal in der Innenstadt von Diyarbakir. Die örtliche Ingenieurskammer hat zu einer Podiumsveranstaltung eingeladen. Titel: "Die Auswirkungen der neuen Verfassung auf Recht, Gerechtigkeit und Freiheit". Auf dem Podium und im Publikum ist man sich schnell einig: Die Auswirkungen wären gravierend. Schon jetzt könnten sich die Gegner der Verfassungsänderung in Diyarbakir nur in geschlossenen Räumen treffen. Straßenaktionen würden regelmäßig untersagt.
    Fast die gesamte Führung der prokurdischen Partei HDP befindet sich im Gefängnis. Der HDP-Abgeordnete Mithat Sancar kann derzeit noch durch die Kurdenregion fahren und für ein Nein beim Referendum werben. Dabei erlebe er immer wieder Behinderungen durch Polizei oder Armee. Aber die Mehrheit der Kurden, die er getroffen habe, wollte am kommenden Sonntag mit Nein stimmen:
    "Die Angst schreckt die Leute hier überhaupt nicht ab. In den Dörfern ist die Lage natürlich etwas anders. Dort ist die Repression viel direkter und intensiver. Es kann sein, dass die Menschen in den Dörfern daran gehindert werden an die Wahlurnen zu gehen. Das ist eine Gefahr, die wir eindeutig sehen."
    Diyarbakir ist eine Hochburg der HDP. Bei den letzten Parlamentswahlen 2015 erreichte sie hier über 70 Prozent der Stimmen. Die regierende AK-Partei von Präsident Erdogan dagegen hat hier noch nie gewonnen. Doch auf den Straßen sind nur Plakate mit dem Konterfei von Staatspräsident Erdogan oder dem Slogan "Evet", also: "Ja", zu sehen.
    Pro-Erdogan-Werbung
    In einem ehemaligen Laden hat die "Anatolische Plattform für ein Ja" ein Info-Zentrum eingerichtet. Ein paar Besucher sitzen auf Stühlen und blättern in Broschüren, die die vermeintlichen Vorzüge der neuen Verfassung anpreisen: Nicht weniger, sondern mehr Demokratie und Freiheiten würde diese bringen. Die Texte gibt es nur in Türkisch. Dennoch werben hier Kurden für Erdogan, wie der Publizist Ahmet Ay. Er sieht mit der Einführung des Präsidialsystems sogar eine neue Chance für den gescheiterten Friedensprozess zwischen Regierung und Kurden:
    "Der damalige Friedensprozess wurde mit den falschen Gesprächspartnern geführt. Wir haben daraus unsere Lehren gezogen. Der Staatspräsident hat jetzt gesagt: Zunächst müssen die Waffen niedergelegt werden. Wer etwas beizutragen hat zu einer Verbesserung der Situation, der soll zu mir kommen, dann können wir über alles reden."
    Doch von einem Schweigen der Waffen kann in den Kurdengebieten keine Rede sein. Hunderttausende wurden in den vergangenen Monaten durch die Kämpfe zwischen der militanten kurdischen PKK und dem Staat vertrieben. In Diyarbakir war der Stadtteil Sur noch vor einem Jahr Schauplatz heftiger Kämpfe. Jetzt hat die Regierung das Viertel mit Bulldozern dem Erdboden gleichgemacht. Sie verspricht einen Neuaufbau. Doch es ist fraglich, ob die ehemaligen Bewohner wieder dorthin zurückkehren können. Vor dem Pro-Erdogan-Büro steht ein junger Kurde und schaut kopfschüttelnd auf das lebensgroße Porträt des Staatspräsidenten:
    "Es geht ja nicht nur um die Ein-Mann-Herrschaft. Ich will eine Gesellschaft, in der jeder seine Meinung frei äußern kann, die bunt ist und in der Mann und Frau gleichberechtigt sind. Darum sage ich Nein."
    Sorge vor weiterer Eskalation
    Der kurdische Abgeordnete Mithat Sancar, der lange Jahre in Deutschland gelebt hat, glaubt nicht den Gerüchten, nach denen Erdogan wieder auf die Kurden zugehen könnte, wenn er sein Ziel erreicht hat, das Präsidialsystem. Sogar über einen Bundesstaat Türkei mit politischen Zugeständnissen an die Kurden wird in Internetforen spekuliert. Für Sancar ist es dafür jedoch zu spät:
    "Erdogan will die Verfassungsänderung mit einer Koalition mit der rechtsradikalen Partei MHP durchführen. Damit ist der politische Spielraum für Erdogan sehr eng geworden."
    Viele Kurden fürchten stattdessen, dass die politische Gewalt in ihren Gebieten wieder zunehmen wird, sollte die Ja-Seite gewinnen. Denn eines fehlt auf den zahlreichen Werbeplakaten für die neue türkische Verfassung: ein Angebot zum Frieden.