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Das Wahre, Schöne, Gute. Geist und Kultur im 3. Jahrtausend

Eine Fülle neuerer Studien im weiten Feld zwischen Natur- und Humanwissenschaften unternimmt den Versuch, sich der Faszination der Technik, der modernen Technologien und der von ihr ausgehenden Bilderflut zu widersetzen. Ist dieser, wie man auch gesagt hat, Bilderwahn nur eine Ersatzform für verlorengegangene Religiosität? In diesem Sinn hat man sogar "Cyberspace" (also die Gesamtheit der digitalen Revolution) als die "technische Form Gottes" bezeichnet. Gehen auf dieser Ebene Technologie und Religiosität unbemerkt neue Liaisonen ein?

Hans-Jürgen Heinrichs | 18.01.2000
    Ist sogar eine Versöhnung zwischen Technologie und Naturwissenschaft einerseits und Religiosität und Spiritualität andererseits möglich? Dieser Frage widmeten sich in den letzten Jahren eine Reihe von Publikationen: an erster Stelle die von Hans-Peter Dürr und Walther Zimmerli herausgegebene Anthologie "Geist und Natur", der Band "Naturwissenschaft und Glaube", herausgegeben von Helmut A. Müller, der Band "Der Mensch im Cyberspace" Constantin von Barloewen und schließlich die Studie "Naturwissenschschaft und Religion" des 1947 geborenen, in Colorado lebenden Physikers und Philosophen Ken Wilber.

    Wilbers Arbeit kann als ein Meilenstein in dem Wunsch nach Versöhnung der beiden feindlichen Brüder gelten. Wilber spricht sogar von einem "philosophischen Kalten Krieg globalen Ausmaßes", einem "Titanenkampf' zwischen den Verteidigern der Fakten, der Objektivität und Wahrheit auf der einen und dem Sinn, den Werten und der Weisheit auf der anderen Seite. Die Versöhnung, so Wilber, könne nur gelingen, wenn die Argumente beider Seiten als in sich stimmig und akzeptabel dargestellt würden und die Einigung auf der "Grundlage der freien Einwilligung beider Partner" geschehe. Dies habe aber zur Voraussetzung, daß beide ihren Alleinvertretungsanspruch aufgeben, einander mit Neugierde begegneten und die Naturwissenschaftler bereit seien, sich mit "Staunen" dem "verblüffenden Geheimnis der Existenz der Welt" zu öffnen. Beide, Wissenschaft und Religion, seien - so Wilbers mit viel Emphase vorgetragene Botschaft - "mitten im Herzen des Kosmos beheimatet" und würden bei der Versöhnung "willkommen" geheißen.

    Wilbers Optimismus für eine solche Annäherung gründet auf der Tatsache, daß die Naturwissenschaft das elementare menschliche Bedürfnis nach Sinn und Werten von ihrer Struktur her nicht erfüllen könne, und daß die Religion gerade in diesem "Wahrheitsgerippe" und "sinnfreien Skelett" ihre Antworten ausbreite. Der "schwerwiegende Riß in den inneren Organen der heutigen Weltkultur" könne nur geschlossen werden, wenn beide Seiten ihre Vorgehensweisen komplementär miteinander in Verbindung brächten. Die Naturwissenschaft müsse dabei anerkennen, daß sie in ihrem Materialismus das ursprüngliche, reiche Gewebe der ineinandergreifenden Ebenen von Materie, Körperlichkeit, Geist, Seele und universalem Geist sträflich verkürzt habe. Dagegen sei allen Religionen der Glaube an die "Große Kette des Seins" eigen. In der Moderne trete an die Stelle dieser Verschachtelung und dieses geistigen Raums eine Art "Flachland"-Auffassung von der Welt, die die Materie zum Götzen macht.

    Ken Wilber, den man auch den "Einstein des 21. Jahrhunderts" oder den "Einstein der Bewußtseinsbildung" genannt und auch oft in einem Atemzug mit Hegel, Nietzsche und, in anderer Tradition, mit Aurobindo genannt hat, verfügt nicht nur über ein ungewöhnlich ausgeprägtes analytisches Denken, er seziert also nicht nur die großen Themen der Moderne, er macht sich stets auch auf die Suche nach der Integration und Synthese des Wissens, nach einer "Weltphilosophie". Ja, kein Gedanke wird nur um seiner selbst willen wie in einem engen konventionell-wissenschaftlichen Rahmen durchexerziert; er wird immer auf das hin betrachtet, was er an "Lebenswissen" enthält, ob und wie er für eine humanere Gesellschaft zu gebrauchen ist.

    Wilber kämpft in seinem gesamten, sehr umfangreichen Werk - begonnen mit der 1984 erschienenen Studie "Halbzeit der Evolution und Das Spektrum des Bewußtseins" (von 1987) über die Autobiographie "Mut und Gnade" (1992) bis zu "Eros, Kosmos, Logos" (1996) und "Naturwissenschaft und Religion" (1998) und schließlich zu dem gerade herausgekommenen, wiederum etwas monströs wirkenden Opus "Das Wahre, Schöne, Gute" - für eine Wissenschaft, die sich als Erfahrungswissenschaft begreift. Erkenntnis und Wissen müssen an Erfahrung und, auf der höchsten Stufe, an Weisheit gebunden sein. Was ist schließlich eine Wahrheit wert, die sich nicht für die Menschen auswirkt! - Wissenschaft sei das "Äußere" des Geistes, seine objektive Form, gleichsam sein "Es" und müsse an die inneren Ausprägungen gebunden bleiben. "Das Gute, das Wahre und das Schöne" sind für Wilber verschiedene "Antlitze des Geistes" und damit auch des "eigenen Selbst". Man müsse alle Anstrengung darauf verwenden, diese verschiedenen Wege des Erfahrens und Erkennens wieder miteinander zu verbinden, denn sie gehörten ursprünglich zusammen, bildeten ein Holon, eine Ganzheit. Die Integration - der integrale Weg macht aus dem jeweiligen Ansatz nicht weniger, sondern bringt ihn allererst zur Entfaltung.

    Dreh- und Angelpunkt von Wilbers Philosophie ist die Frage nach dem Ort des Geistes, der Geistigkeit. Mit viel Pathos erläutert er seine Überzeugung, daß alle unsere Wahrnehmungen und Vorstellungen, Gedanken, Wünsche, Ängste und Begierden unablässig gegeben sind, einfach da sind und wir uns ihrer in jedem Augenblick - in einer "tatsächlichen Erfahrung" und in einem "inneren Bewußtsein" - gewahr werden können, daß die Totalität, die Nondualität von Außen und Innen, von Wahrnehmendem und Wahrgenommenem das Primäre ist. Es gehe nur darum, sich dieser Tatsache zuzuwenden und sie zu ergreifen. Subjektive und objektive Welt seien in Wahrheit eins. Alles sei genau so, wie es ist, eine "vollkommene Manifestation des Geistes". Hier erweist sich Wilbers Denken als das einer zugespitzten Erfahrungswissenschaft, die angewiesen ist auf den Nachvollzug der Gedanken, Spekulationen und in der eigenen Erfahrung als der letztgültigen Instanz. Löst man Aussagen wie "... es gibt keinen Ort, an dem weniger, und keinen Ort, an dem mehr GEIST wäre. Es gibt nur Geist", von dieser inneren Erfahrungsebene ab und bezieht sie etwa auf extreme Orte der Destruktivität und Abwesenheit oder Zerstörung von Geist, wie z.B. die Konzentrationslager, Hiroshima oder den Kosovo, dann sind sie nicht mehr aufrechtzuerhalten. Und dennoch: in einer Welt, die sich von der Inneren Erfahrung technologisch zu emanzipieren glaubte und sie doch wieder auf viele unbemerkte und undurchschaute Weisen in das Leben und Erleben hereinholt, ist es von großer Bedeutung, eine umfassende und fundierte Auffassung vom Wirken dieser inneren Erfahrung zu erlangen. Und dafür ist Wilber eine gute Schule. Eine Schule für das, was im Zen auch der "Eine Geschmack" oder die "torlose Schranke" genannt wird oder einfach nur: "Das ist es."

    Wilbers Werke sind - ebenso wie die eingangs genannten Arbeiten anderer, verwandter Autoren, zu denen man auch vor allem noch Stanislav Grof und Ervin Laszlo zählen muß - geprägt von dem Wunsch, die "Große Kette des Seins" (die Behauptung von Ganzheit, Harmonie und Göttlichkeit) nicht zugunsten von Materialismus und Technokratie aufzugeben, sondern festzuhalten an der Universalität des Geistes, des Sinns und der Bedeutung, der Werte, des Ethos und der Würde des Menschen und des Menschseins. Als Gegner einer solchen Haltung erscheinen die Dogmatiker verschiedenster Couleur und die breite Phalanx der Theoretiker und Verfechter der Postmoderne als einer Oberflächen- und "Flachland"- Auffassung von Welt. Dagegen steht der Wunsch nach einer, wie es bei Wilber (oft etwas klischeehaft und schon abgenutzt) heißt, "tiefen Wissenschaft" und einer "echten Religion oder Spiritualität". Beiden könnte jetzt, so seine Überzeugung, die Rolle als "Vorhut der Evolution", als "Wachstumsspitze des universellen Organismus" zufallen.

    Bei aller Anstrengung des Begriffs versteht doch Wilber gerade seine letzten Bücher als eine "heitere Parabel unseres Seins und Werdens", als eine "Chronik dessen, was wir getan und gesehen haben - und als einen Ausblick auf das, was wir alle noch werden können." Angesichts des inflationären Gebrauchs von Begriffen und Konzepten, die sich als holistisch (ganzheitlich) verstehen, ist es erfreulich, daß Wilber diesem Trend nicht blind folgt, sondern - bei aller Liebe zum Visionären und Synthetischen, zur Integration des Wissens, zum interdisziplinären, ja zum "transdisziplinären" Denken - deutlich macht, daß der Wunsch, alles zu holistisieren, nur lauter Teile und Bruchstücke hervorbringt.

    Und noch eines unterscheidet Wilber von den meisten Denkern des sogenannten New Age: er ist ein Forscher, einer der sich an den Gegenständen und Themen abarbeitet, ein von Fragen und Lösungsversuchen besessener Gelehrter, der Brücken zu schlagen versucht: zwischen den verschiedenen Wissenschaften, zwischen Theorie und Praxis oder Empirie und auch zwischen den Kulturen, vor allem den westlichen und östlichen. Die Wahrheit, die ihn dabei interessiert, ist immer an das und Lebenswissen gebunden, eine Wahrheit, die nicht überzeitlich dern an das Augenblicksbewußtsein geknöpft werden soll.

    Die integrale Sichtweise und die integrale Vision, die er anstrebt, operieren mit einem Zauberwort, das lautet: "OrientierungsVerallgemeinerung". Damit sind Verallgemeinerungen gemeint, auf die Wilber die ihm relevant erscheinenden Theorien reduziert und die er einbaut in ein System der Orientierung, der inter- und überdisziplinären Wahrheitsfindung. So soll alles menschliche Wissen in seinen Grundstrukturen zugänglich gemacht und miteinander verkettet und vernetzt werden. Eine solche Integrations-Forschung (die den Begriff der Integration doch arg strapziert) geht davon aus, daß jede Wissenschaft nur unvollständige Wahrheiten anzubieten hat, die sich aber ergänzen und vervollständigen, wenn man sie im Sinne der "Orientierungsverallgemeinerungen zusammenbringt.

    Es versteht sich von selbst, daß auch eine solche Synthese wieder lückenhaft bleiben muß und daß auch sie nicht frei ist von undurchschauten Bedingungen, Implikationen und Ideologien, von Schatten, die der Autor selbst nicht wahrnimmt. Aber überzeugend bleibt doch die Suche nach einer integralen Vision, die sich gerade nicht mit Vermutungen und Wünschen zufriedengibt, sondern sich als Forschung strukturiert. Auch wer viele von Wilbers Setzungen nicht mitmachen will, weil er wissenschaftlich oder weltanschaulich woanders steht, kann sich doch kaum dem Engagement verschließen, mit dem hier ein einzelner dahergeht, all die feindlichen Brüder und Gegensetzungen, die sich im Verlauf der Geschichte herausgebildet und etabliert haben, miteinander zu versöhnen.

    Die nun vorliegenden beiden ersten Bände seiner Kosmos-Trilogie ("Eros, Kosmos, Logos" und "Das Wahre, Schöne, Gute") versuchen die Überschneidungen von Denken, Wissen, Intuition und Mystik zu beschreiben, stets auf der Suche nach tieferen, elementaren Ordnungen. Unter denjenigen, die sich der Suche nach solchen verborgenen Ganzheiten und einer "neuen Vernunft" verschrieben haben, scheint Ken Wilber der kreativste und fundierteste zu sein. Etwas merkwürdig ist sein Anmerkungswahn, mit dem er selbst den stupidesten Akademiker übertrifft - oft haben einzelne Anmerkungen den Charakter von Essays und Studien. Der ausgebildete Physiker und Biochemiker Ken Wilber möchte offensichtlich auf keinen Fall den Eindruck erwecken, als sei seine Vision des nächsten Jahrtausends nicht fundiert. Diese penible wissenschaftliche Darstellungsform steht in einem Spannungsverhältnis zur essayistischen und zuweilen geradezu literarischen Form seiner Bücher. Er selbst spricht davon, daß er die "Perlen des Wissens" zu eine Halskette aufzureihen versucht habe. Neben der wissenschaftlichen Ambition und dem Wunsch zur Integration des Wissens, der Stärkung des Bewußtseins und einer neuen Vernunft, der Transzendenz des Gegenwärtigen auf einen anderen Welt- und Lebensentwurf und der auch literarischen Beschreibung der Wirklichkeit (oder richtiger: der Wirklichkeiten), ist es vor allem noch die existentielle und bekenntishafte Dimension, von der seine Bücher geprägt sind.

    Bei einem solchen Anspruch können naturgemäß nicht alle Ebenen gleich weit durchgearbeitet und in sich stimmig sein, und jeder Leser wird sich an anderen Stellen imitiert fühlen. Jedenfalls hat sich Wilber zum Ziel gesetzt, der "frisch-fröhlichen Seichtheit", die die Stärke des Visionären bedroht, nicht zu erliegen. Aber auch die von ihm beschworene "Tiefe" ist nicht frei von Ideologie und bloßem Schein, von Oberfläche und Schattenhaftigkeit.