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"Das Wissen des Nichtwissens". Das Geburtstags-Interview

Hans-Georg Gadamer, am 11. Februar 1900 geboren, ist vielleicht der bedeutendste lebende Philosoph in Deutschland. Sein wichtigstes Buch "Wahrheit und Methode", das 1960 erschien, gehört zu den Meilensteinen der Philosophie im 20. Jahrhundert. Sein zentrales Thema ist das Verstehen in der Kunst, in der Geschichte und in der Sprache im Allgemeinen: die Hermeneutik. Sein Hauptinteresse galt der antiken Philosophie und hier vor allem Platon. Er setzte sich aber auch intensiv mit Hegel, Husserl und Heidegger auseinander, aber auch hochaktuell mit Habermas und Derrida.

Hans-Martin Schönherr-Mann | 11.02.2000
    Gadamer wurde in Marburg geboren und verbrachte seine Kindheit in Breslau. Seine Mutter starb sehr früh, da war er gerade vier Jahre alt. Als Gadamer erst in Breslau und dann ab 1919 in Marburg Philosophie studierte, schockierte das seinen Vater, der als Chemiker ein anerkannter Naturwissenschaftler war. Für den Vater ging der Sohn zu den "Schwatzprofessoren". Gadamer war zunächst Schüler von Nikolai Hartmann und von Paul Natorp, einem bekannten Neukantianer und promovierte mit 22 Jahren. Danach erkrankte er an Kinderlähmung, was ihn sein Leben lang zeichnete. Zwischen 1923 und 1928 diente er Martin Heideggers in Marburg als Assistent. Bereits 1929 habilitierte er sich und war zunächst Privatdozent in Marburg und in Kiel. Während der Nazizeit hielt sich Gadamer mit politischen Äußerungen zurück. Weder engagierte er sich wie sein Lehrer Heidegger für das Nazi-Regime, noch lebte er in einer inneren Emigration wie Carl Jaspers. Vielmehr erhielt er 1939 einen Ruf nach Leipzig. 1946/7 wurde er Rektor der Leipziger Universität, wechselte jedoch bereits 1947 nach Frankfurt. 1949 erhielt er einen Ruf nach Heidelberg als Nachfolger von arl Jaspers, wo er bis zu seiner Emeritierung 1968 lehrte. Mit Hans Georg Gadamer sprach Hans-Martin Schönherr-Mann.

    Schönherr-Mann: Herr Gadamer, Sie waren Assistent bei Heidegger in Marburg zwischen 1922-und 1928. Und Sie hatten vorher praktisch in dem Horizont des Neukantianismus studiert und Heidegger ist nun der Schüler von Husserl gewesen. Ihre Habilitationsschrift hatte den Untertitel 'Phänomenologische Interpretationen zu Platons Philebos'. Wie sind sie eigentlich von der Phänomenologie , wie haben sie den Übergang von dort zur Hermeneutik gesehen?

    Gadamer: Schauen Sie erstens, der Neukantianismus befand sich in der Auflösung, als ich nach Marburg kam. Cohen war nach Berlin gegangen und war als ich nach Marburg kam schon tot. Die Tatsache war, daß Cohen ja wirklich eine starke Persönlichkeit war, die die Szene ganz markierte. Seit Cohen weg war, brach in Natorp die erste Veränderung aus. Er war nicht mehr der Neukantianer.

    Schönherr-Mann: Was hat Sie denn an der Hermeneutik eigentlich besonders gereizt?

    Gadamer: Das ist noch nicht die Hermeneutik. Also da würde ich ganz schlicht sagen: Ich habe viel Plato gelesen. Können Sie mir sagen, ob es einen Begriff gibt, der so genau auf die platonischen Dialoge zutrifft, wie das Wort Hermeneutik? Können Sie mir irgend etwas in der Weltliteratur nennen, das dem am nächsten kommt? Ich kenne nichts anderes. Das Wissen des Nichtwissens. Ist das nicht eine einfache Erklärung? Ich fand das bei Heidegger auftretend. Ich fand das bei den Theologen auftretend. Ich war auch mit Bultmann sehr befreundet, der auch mit Hermeneutik deswegen sofort etwas anfangen konnte, natürlich als Theologe. Na, und dann sagte ich mir, aber imgrunde ist doch, wenn man einem so durchschlagend begabten Mann wie Heidegger begegnet, dann sucht man nach den schwachen Stellen und die fand ich in seinem Verständnis von Platon. Er hat Platon mit aristotelischen Augen gesehen und nicht mit hermeneutischen Augen. Sie kennen die berühmte Geschichte, wie sein Lehrer, der spätere Kardinal, ihn erwischt, wie er unter dem Tisch während seines Unterrichts ein Buch liest. Kennen Sie sie (Nein). Dann nehmen Sie ein Gutes aus dem Gespräch mit mir heute mit nach Hause. Die Geschichte erzähle ich Ihnen jetzt. Er hat ihn erwischt. Und was las er? Die Kritik der reinen Vernunft. Und da sah der spätere Kardinal, wen er da vor sich hatte. Sein ganzer Unterricht war zu langweilig für den. Und dann hat er ihn weiter gefördert.

    Schönherr-Mann: Wenn man bedenkt, daß die Hermeneutik zunächst einmal eine Tradition der Bibelauslegung, dann der Schriftauslegung, dann in der Literaturinterpretation sich verbreitet hat. Da würde ich sagen ist das eine ganz frappierende Antwort, zu sagen: Platon war's!

    Gadamer: Nicht Schleiermacher

    Schönherr-Mann: Nicht Schleiermacher, genau.

    Gadamer: Nun gut, es war auch Schleiermacher, natürlich. Aber imgrunde würde ich sagen, ich habe natürlich auch eine wirkliche Antwort versucht. Das die etwas verblüffend war, kann ich mir vorstellen.

    Schönherr-Mann: Man kann ja landauf landab die Leute reden hören. Alle schimpfen über Platon. Man kann in der Tat feststellen, daß die Platon-Interpretation, wie sie bei Popper auf den Weg gebracht wurde, in "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", diese Feinde, so hört man, seien von Platon her munitioniert und auf den Weg gebracht worden einer geschlossenen, quasi diktatorischen Welt.

    Gadamer. Das ist Unsinn. Das ist ja alles reiner Unsinn. Glauben Sie wirklich im Ernst, daß es einen Menschen geben kann, der ein Ideal einer Stadt darstellt und nachher die Frage stellt: Glauben Sie auch, daß das verwirklicht werden kann? Antwort: Och, das ist nicht so schwer. Man muß nur alle Menschen, die älter als 10 Jahre sind, aus der Stadt vertreiben. Also bitte, was sagen Sie dazu. Steht da! Sollte da nicht sagen: Bitte denk nach, ich habe natürlich nicht gemeint, das so etwas wirklich sein kann. Bitte was sagen Sie? Also das die Väter und Mütter ihre Kinder nicht kennen sollen. Das sind natürlich kritische Worte gegen eine Demokratie, die inzwischen, wie der siebente Brief zeigt, tatsächlich hoffnungslos verkommen ist. Die Demokratie, in der Zeit, in der Platon die Politeia schreibt, glaubt nicht mehr an Athen, sondern an Syrakus. Dadurch kommt er auf diese Idee, die Mütter dürfen ihre Kinder nicht kennen, damit endlich diese Übermacht der großen Familien in der Demokratie. Ist doch klar, daß er das gemeint hat. Wir lesen das alles viel zu direkt. Man wird nicht so schnell durch Philosophie in der Gegenwart etwas lernen. Da muß man erst sehr lange an allem zweifeln.

    Schönherr-Mann: Wie ist dann die Politeia zu interpretieren, wenn wir sie nicht mehr so lesen dürfen, wie sie traditionellerweise auch in der politischen Theorie, wo sie normalerweise immer als Gegenmodell zu Aristoteles gelesen wird: Platon hat sein Vorbild an Sparta, ist so die allgemeine Rede und das Modell Sparta stellt er der Demokratie Athens entgegen und so ist es ganz klar, daß es nicht jenes demokratische Verständnis ist es sich dann bei Aristoteles präsentiert als Polis der Athener Bürger?

    Gadamer: Ich meine, man muß auch die Komödie im Auge haben, was man mit Göttern machen kann. In diesen Zusammenhang gehört doch die Politeia. Ich verstehe das nicht, daß es immer noch Menschen gibt, die das nicht wahrhaben wollen. Ich meine, die Bedeutung der Ironie und der Verkleidung ist überall, wo Macht ist. Was machen Sie denn mit ihrer Politologie, wenn sie nicht die Rolle der griechischen Kömödie verstehen. Da wird Sokrates verurteilt wegen Gottlosigkeit und was hat die griechische Komödie gemacht. Was sind da für Götterbeleidigungen in Haufen in jedem Stück? Das konnte man machen in Athen.

    Schönherr-Mann: Sie schreiben in Aufsätzen aus den sechziger Jahren, daß es einen Bewußtseinswandel der Menschen gegeben hätte vom Pessimismus der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts zu einem gewissen Optimismus, so daß die Menschen keine Angst mehr vor schicksalhaften Katastrophen hätten und daß ein gewisser Glaube an die Organisationsfähigkeit internationaler Konflikte und eine Funktionalität im Gesellschaftlichen und auch die Rationalität des Gesellschaftlichen, daß ein Glaube daran sich doch verbreitet hätte, verglichen zu dem Pessimismus. Wenn Sie das jetzt auf das Ende des Jahrhunderts übertragen angesichts von Milleniumsängsten, sind die Leute heute weniger optimistisch?

    Gadamer: Für diese Frage müßte man über das Wort "die Leute" nachdenken. Wenn Sie die Jugend meinen, würde ich sagen: Nein, ganz gewiß nicht. Die sind heute viel pessimistischer als sie je waren. Dagegen muß ich zugeben, daß es eine Art technischer Rausch ist, der heute langsam von Amerika her die Szene überschwemmt.

    Schönherr-Mann: Sie sehen in diesem technischen Rausch eher eine negative Entwicklung?

    Gadamer: Was heißt negativ? Eine verändernde Entwicklung. Ja, ich weiß doch nicht, wie die Kultur von morgen aussehen wird, wenn die Maschinen reden.

    Schönherr-Mann: Das kann in der Tat sein, daß die Maschinen bald reden.

    Gadamer: Ja eben.

    Schönherr-Mann: Und die Menschen nicht mehr reden müssen. Gianni Vattimo ist da ja sehr optimistisch. Der hat mir mal gesagt, daß er eine Stelle aus Heideggers Identitäts-Aufsatz, wo Heidegger vom Aufblitzen des Ereignisses im Gestell spricht, darin sieht er eine positive Bewertung Heideggers in Richtung technischer Möglichkeiten.

    Gadamer: Ach du lieber Gott!

    Schönherr-Mann: Und er hätte Sie gefragt, Sie wären dabei gewesen, 1956 bei dem Vortrag, ob das Heidegger geahnt hätte, was er da gesagt hätte, und da hätten Sie gesagt, er hätte es geahnt, soweit Sie sich erinnern könnten.

    Gadamer: Also, daß Heidegger es geahnt hat, ist ganz richtig, nämlich ich glaube, daß sein ganzer Fehler darauf beruhte. Er meinte gar nicht Hitler. Er meinte die Technik. Das ist meine feste Überzeugung. Und er hoffte durch diesen Appell an die Jugend, das ist natürlich seine rührende Unschuld, mit der er sich tatsächlich unglaublich an der Wirklichkeit vorbei gedacht hat. Er hat wirklich geglaubt, diese Jugend könnte den Stillstand bringen, durch ein Aufstehen gegen diese technische Verunstaltung der Welt. Das ist der Sinn gewesen. Aber diese Formel hat damit wenig zu tun. Und das wundert mich, daß Sie dieses dafür zitieren. (Vattimo).

    Schönherr-Mann: Vattimo sieht darin eine Chance, daß sich bei Heidegger ein Denken eröffnet, daß die Wege in die mediale Welt und die Informationswelt, die Vattimo ja sehr positiv sieht, daß sich da schon bei Heidegger etwas eröffnet.

    Gadamer: Vattimo ist ein Kind, Keine Ahnung von der Zukunft. Ich meine ich schätze ihn sehr, ein Mann mit Fantasie. Aber das ist auch wieder eine Fantasie. Ganz falsch. Total falsch. Die Technik war für Heidegger sozusagen die eigentliche Herausforderung. Nein, da können Sie keine Unterstützung für Vattimo bei diesem Zitat erwarten. Genau das Gegenteil ist gemeint. Was kann den ein heutiger, mit Amerika denkender Mensch von der Zukunft erwarten. Er kann doch nur erwarten, daß wir alle in einem regulierten Staate leben, in dem niemand eine Möglichkeit hat, etwas falsch zu machen. Man kann auf keinen falschen Knopf drücken, ohne daß die Welt untergeht. Ich gebe ja zu, daß das eine Lösung ist, indem man eine gewisse innere Logik nicht abstreiten kann. Wie will man die Zerstörung des Lebens auf dieser Erde verhindern, seit die Menschen so absolut lebenszerstörende Waffen entwickelt haben. Wie will man das machen. Das ist doch die Frage. Eine Antwort ist die amerikanische. Wenn wir alles so durchorganisiert haben, daß niemand einen Augenblick einen falschen Knopf drücken kann. Ja sowas soll man glauben.

    Schönherr-Mann: Das zwanzigste Jahrhundert neigt sich nun. Ich bin nun der Auffassung, wir wissen nicht genau, wann es angefangen hat. Man könnte ja sagen, es hat mit dem ersten Weltkrieg angefangen und vielleicht hat es `89 geendet. Also wann es zuende geht, das ist auch noch eine interpretative Frage. Es könnte sich ja auch noch eine Weile hinziehen. Was erwarten Sie von den Entwicklungen in Gesellschaft, Politik, Technik, Philosophie in der nächsten Zeit?

    Gadamer: Also das Bild des Propheten steht dem Philosophen von jeher nicht

    Schönherr-Mann: Ja, ich weiß. Hegel hat auch ganz recht. Man sollte nicht über die Zukunft reden. Aber reden wir halt nicht als Philosoph

    Gadamer: Aber Sie haben ja schon erraten, was ich sagen muß. Ich muß es natürlich sagen. Es gibt die Möglichkeit, daß wir einsehen, daß wir die große Handlungskraft, die in den großen Weltreligionen steckt, miteinander versöhnen können. Das ist etwas.