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Das Wunder von Quedlinburg
Vom Insolvenzfall zum Vorzeigeunternehmen

Es klingt fast wie ein Märchen: 2012 geht die Firma mit dem etwas sperrigen Namen Quedlinburger Bowdenzugmanufaktur insolvent – und wird von einer ostdeutschen arbeitslosen Frau gekauft. Es ist die Ingenieurin Katrin Simstedt, die damit die einzige Manufaktur für Seilzüge rettet und als Chefin auch den Schwachen in der Gesellschaft eine Chance gibt.

Von Christoph Richter | 17.10.2014
    Karin Pickert aus Frankfurt/Main fährt am 05.07.2014 in Suhl (Thüringen) zur Jubiläumsfeier "50 Jahre Simson-Schwalbe". Etwa 1000 Fahrer aus Deutschland, Österreich und Ungarn feiern hier das Jubiläum des legendären DDR-Kultmopeds mit zahlreichen Veransta
    Die Bowdenseilzugmanufaktur fertigt auch für das legendäre DDR-Moped "Simson-Schwalbe". (picture alliance / dpa / Michael Reichel)
    "Wenn Sie solche kleinen Anbauteile für den Bowdenzug brauchen, googeln Sie mal Nippel. Da kommt kein so ein kleines Anbauteil, da kommt alles andere."
    Katrin Simstedt grinst. Sie ist sowas wie eine Vorzeige-Unternehmerin des Ostens. Ihr Credo: nicht jammern, sondern machen. Und: Sie ist Retterin der Quedlinburger Bowdenzugmanufaktur, ein Traditionsunternehmen, das es bereits seit 1958 gibt.
    "Frau Weisel nippelt den ganzen Tag"
    2012 war aber Schluss, das Unternehmen war insolvent, sodass sich die frühere Mitarbeiterin entschloss, das Geschäft mit den Seilen und Nippeln – das sind kleine Anbauteile, sowas wie Plomben, die an kleine Seilzüge gelötet, gepresst oder angeschraubt werden – selbst in die Hand zu nehmen:
    "Frau Weisel nippelt den ganzen Tag. Sie steckt den Nippel aufs Seil. Dann wird das vorne drauf gepresst. Und dann wird's mit der Zange nach unten gedrückt, noch ein bisschen, und dann ist der Bowdenzug fertig."
    "Also es gibt niemanden, der Bowdenzüge herstellt, wie wir. Und wenn man nur mal an den Oldtimerbereich denkt. Das ist eine absolute Nischengeschichte. Ja, ich weiß nicht, wenn das weggebrochen wäre, wo die Leute ihre Bowdenzüge herbekommen. Es gibt ganz viel Industrie, die ganz viel Prototypen brauchen, die irgendwelche Entwicklungen machen. Ein Bowdenzug ist kein alter Hut."
    Jeder Bowdenzug wird in Handarbeit hergestellt, das passiert in einer – wie aus der Welt gefallenen - DDR-grauen Fabrikhalle. In einer kleinen Seitenstraße in Quedlinburg, am Rande des Harz:
    "Was wirklich Maschinen machen, ist Seil schneiden und Hülle schneiden. Und verpressen. Da sitzt ja auch einer, der legt jedes einzelne Teil unter die Presse. Alles andere ist Handarbeit. Deswegen sind wir auch eine Manufaktur. Ich glaube, das ist schon berechtigt."
    Rettung statt Insolvenz
    Und es klingt fast wie ein Märchen: Eine ostdeutsche arbeitslose Frau rettet ihr eigenes Unternehmen. Nachdem fast alles verloren schien. Doch statt den Kopf in den Sand zu stecken, hat die Quedlinburger Ingenieurin Katrin Simstedt den insolventen Betrieb 2012 einfach gekauft und damit die einzige Manufaktur für Seilzüge gerettet.
    Heute gehören nicht nur die Fahrer alter DDR-Motorräder zu ihren Kunden. Besonders stolz ist die Sachsen-Anhalterin Katrin Simstedt, dass auch in der U-Bahn von Sao Paulo ihre Seilzüge zu finden sind. Selbst der frühere Champions League Sieger FC Chelsea von der Stamford Bridge aus dem Westen Londons bestellt seine Bowdenzüge bei Katrin Simstedt:
    "Da werden mit den Bowdenzügen Gasdruckfedern ausgelöst, die die Bande 30 Zentimeter hochziehen, damit die Zuschauer auf den Fußballplatz fliehen können, wenn irgendwie Panik oder Feuer ausbricht."
    "Ja, wenn Sie eine Badewanne haben, wo man oben dreht, damit unten der Stöpsel runter kommt oder so eine Küchenspüle, da kann ein Bowdenzug dahinter sein. Also es gibt unheimlich viele Möglichkeiten. Wir sind selber immer wider überrascht, wo es so Bowdenzüge gibt."
    Die Bowdenzugfamilie
    Die 48-jährige Katrin Simstedt – Mutter einer 18-jährigen Tochter, die mal das Geschäft übernehmen soll – ist sowas wie die große Mama, die die Bowdenzug-Familie zusammenhält. Ein Pflichttermin für die neun Mitarbeiter sind die täglichen gemeinsamen Mittagessen:
    "Wir knuddeln auch. Also wenn ich früh komme, wird jeder gedrückt. Und wenn wir gehen, dann auch. Doch das ist schon Familie."
    Gearbeitet wird auf alten robusten, ölverschmierten Maschinen aus DDR-Zeiten, von sechs bis fünfzehn Uhr.
    "... und Freitag bis halb eins. Also wie im Sozialismus."
    Das Geschäft brummt. Jahresumsatz: 280.000 Euro:
    "Ich musste jetzt im September einen neuen Mitarbeiter einstellen. Wir hatten im Sommer Lieferzeiten zwischen sechs und acht Wochen. Was total unmöglich ist für die Kunden, die sofort ihre Maschinen wieder brauchen. Nee, also an Auftragsmangel kann man nicht klagen."
    Zustande kommen konnte das alles nur durch die Hilfe ihres Vaters. Er hat, nachdem seine Tochter die Firma 2012 übernommen hatte, eine Marketing-Aktion der besonderen Art gestartet und 20.000 handgeschriebene Postkarten an potenzielle Kunden verschickt.
    "Das ist eine schon richtig irre Zahl. Das hat uns eine ganze Menge Kunden gebracht."
    Die Kreditanstalt für Wiederaufbau dagegen hat nicht an die ostdeutsche Unternehmerin Katrin Simstedt geglaubt. Anders die Investitionsbank Sachsen-Anhalt. Dort gab man ihr einen Kredit von 95.000 Euro. War der Preis, damit die arbeitslose Ingenieurin ihr Unternehmen, in dem sie einst gearbeitet hatte, aus der Insolvenzmasse raus kaufen zu können. 32.000 Euro davon musste sie selbst zahlen. Das machte sie mit der Unterstützung von Freunden, Verwandten und gar einer Mitarbeiterin, die ihr auch Geld lieh:
    "Ich bin froh, dass es läuft. Und dass man zeigen kann, dass es wirklich am vorhergehenden Inhaber lag. Und nicht an den Leuten oder so. Klar ist man stolz."
    Erfolg auf ganzer Linie
    Katrin Simstedt ist eine Anpackerin, eine Träumerin, die ihre Sehnsucht nach einem selbstbestimmten Leben lebt. Sie hat die Chance mit den Händen gegriffen, was ihr so in der DDR nicht möglich gewesen wäre. Und sie ist eine starke Frau, die auch den Schwachen in der Gesellschaft eine Chance gibt, weshalb sie einen schwer kranken Mitarbeiter und ein älteres Ehepaar in ihrem Unternehmen angestellt hat. Weil sie eben weiß, wie es ist, wenn man arbeitslos ist. Weil sie weiß, wie es ist, wenn man nicht gebraucht wird.
    Nachdem man Katrin Simstedt letztes Jahr bereits als Newcomerin des Jahres, die Bowdenzugmanufaktur als bestes Unternehmen unter weiblicher Führung gefeiert hat, wurde ihr dieses Jahr auch noch von der Bundesforschungsministerin Johanna Wanka der Gründerpreis verliehen.
    "Ich find das schon toll. Ich würd es wieder machen."