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De Chirico in Ferrara
Eine Welt ohne Sinn als Reaktion auf den Krieg

In der Biografie von Giorgio de Chirico markieren die Jahre, die der italienische Maler vor einhundert Jahren während des Ersten Weltkriegs in Ferrara verbrachte, einen tiefen Einschnitt. Hier fand er zu einer neuen Bildsprache, die sein ganzes Leben prägen sollte. Eine repräsentative Auswahl von Arbeiten der Zeit ist jetzt in einer Ausstellung zu sehen.

Von Henning Klüver | 25.11.2015
    Der italienische Maler und Grafiker Giorgio de Chirico auf dem Balkon seiner Wohnung in Rom in der Nähe der Spanischen Treppe. De Chirico, der vom Surrealismus beeinflußt war, gründete 1917 zusammen mit C. Carra die "Metaphysische Schule".
    Der italienische Maler und Grafiker Giorgio de Chirico auf dem Balkon seiner Wohnung in Rom. (picture-alliance / dpa )
    Auf dem Gemälde mit dem Titel "Metaphysisches Interieur mit großer Fabrik" von Giorgio de Chirico aus dem Jahr 1916 sieht man einen Innenraum voller Stangen, angewinkelter Leisten und schräg zugeschnittener Holzplatten. Im Vordergrund hängt an einer der Stangen ein Bild im Bild. Es zeigt unter blauem Himmel eine in Ferrara bekannte Fabrikanlage in freier Landschaft. Was ist an diesem Ensemble, das in der Ausstellung im Palazzo dei Diamanti einen prominenten Platz einnimmt, eigentlich "metaphysisch"?

    "Also de Chirico arbeitet auch als Künstler sehr oft so, dass er Dinge, die hinreichend bekannt sind, auf den Kopf stellt. Und jeder versteht unter Metaphysik - Aristoteles - den Blick hinter die physischen Dinge, während für ihn die Metaphysik umgekehrt genau das ist, was in den Dingen steckt. Also die Seele, das Auge, der Dämon, der in den Dingen steckt und den der Künstler entdecken muss."

    Der deutsche Kunsthistoriker Gerd Roos hat zusammen mit seinem italienischen Kollegen Paolo Baldacci die Ausstellung "De Chirico in Ferrara" eingerichtet. Giorgio de Chirico und sein Bruder Alberto Savinio waren 27 beziehungsweise 24 Jahre alt, als Italien 1915 in den Ersten Weltkrieg eintrat und sie zum Militärdienst nach Ferrara, einer verschlafenen Provinzstadt südlich des Po-Deltas, berufen wurden. Die beiden hatten bereits ein bewegtes Leben hinter sich. Lehrjahre in München, wo Giorgio de Chirico an der Kunstakademie studiert hatte. Die Brüder hielten sich anschließend in Florenz, Mailand und schließlich in Paris auf. Wechsel, die Giorgio in seiner Kunst verarbeitete.

    "Als er dann nach Ferrara kommt, nach einigen Monaten Orientierung, macht er etwas Neues. Die Kunst, die wir hier sehen, ist weit weniger autobiografisch grundiert, als die Kunst, die wir in Paris und vorher von ihm kannten. Und das macht den neuen Schritt. Jetzt geht es eigentlich um ästhetische Probleme, um eine Objektivierung von Erfahrung und um einen weitgehenden Verzicht, sofern man das bei de Chirico überhaupt sagen kann, auf diese autobiografische personale Dimension."

    Der Ausstellung, die chronologisch aufgebaut ist, gelingt es, de Chiricos Entwicklung in Ferrara nachvollziehbar darzustellen. Der Maler, der nur nach Dienstschluss oder am Wochenende arbeiten konnte, stellte vor allem Innenräume dar. Er benutzte ganz reale Dinge, die er zu irrealen Szenarien drapierte. Mit Darstellungen von Schneiderpuppen – von denen im Palazzo dei Diamanti eine überwältigende Auswahl zu sehen ist - kreierte er Figuren, die wie stumme Poeten agieren. Zugleich verweist er mit seinen anscheinend willkürlich zusammen gestellten Ensembles auf eine Welt, in der Nonsens regiert. Es ist eine Welt ohne Sinn, die auf ihre Art einen Reflex auf das sinnlose Abschlachten an der kaum 100 Kilometer entfernten Front bildete.

    Durch direkten Kontakt etwa mit Carlo Carrà, der sich im Sommer 1917 in Ferrara aufhielt, strahlte der Einfluss dieser Arbeiten auch auf die Umgebung von de Chirico aus. Von diesen Bildern fühlte sich ebenso ein Giorgio Morandi in Bologna angezogen. Und über Veröffentlichungen in Zeitschriften schlug die "metaphysische Malerei" aus Ferrara europaweit bei Dadaisten, Surrealisten und Künstlern der Neuen Sachlichkeit Funken, erläutert Kurator Gerd Roos:

    "Alles begann mit der Zeitschrift 'Valori plastici', die 1918 von Mario Broglio in Rom gegründet wurde. Das erste Heft erschien im November 1918 und zeigte den Großen Metaphysiker von de Chirico, ein Bild von Carrà und andere Dinge. Diese Zeitschrift gelangte dann im Herbst 1919 nach Deutschland in die berühmte Buchhandlung Goltz in München und bei einer Durchreise fiel sie Max Ernst in die Hände. Er sah diese wenigen Bilder, sie waren für ihn eine Offenbarung und er änderte seine Malerei."

    Magritte erzählte einmal, dass er fast in Tränen ausgebrochen sei, als er das Gemälde "Canto d’amore" von Giorgio de Chirico zum ersten Mal gesehen habe. Diesen Einfluss auf die verschiedenen Strömungen der europäischen Avantgarde belegt die sehenswerte und klug aufgebaute Ausstellung mit Arbeiten unter anderem von George Grosz, Max Ernst oder eben René Magritte.