Freitag, 19. April 2024

Archiv

Debatte über Leitkultur
"Der Begriff passt nicht in eine pluralistische Gesellschaft"

Aus früheren Debatten über eine Leitkultur hätte man eigentlich lernen können, dass sie nicht wirklich zielführend seien, sagte der CDU-Politiker Ruprecht Polenz im DLF. Denn wer definiere, was Leitkultur sei? "Wir sollten zum Ausdruck bringen, dass man in aller Verschiedenheit in Deutschland gut zusammenleben kann", sagte Polenz.

Ruprecht Polenz im Gespräch mit Dirk Müller | 02.05.2017
    Das Bild zeigt Ruprecht Polenz, Präsident Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. Er fasst sich vor grauem Hintergrund mit der linken Hand an seine Brille.
    Ruprecht Polenz, Präsident Deutsche Gesellschaft für Osteuropakunde. (dpa / picture alliance / Jörg Carstensen)
    Dirk Müller: Schauen wir noch einmal auf die zehn Thesen des Bundesinnenministers von diesem Wochenende. Vielleicht ist das ja mehr als nur eine kontroverse Wahlkampf-Agenda. Einige Auszüge: "Wir geben uns zur Begrüßung die Hand", schreibt der Minister. "Wir zeigen unser Gesicht, wir sind nicht Burka. Kirchtürme prägen unser Land, unser Land ist christlich geprägt, in unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil der Gesellschaft."
    Nächster Punkt: "Wir fordern Leistung. Leistung und Qualität bringen Wohlstand." Nächstes Beispiel: "Wir sind Erben unserer Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen."
    Thomas de Maizière versteht unter Leitkultur eine Richtschnur des Zusammenlebens in Deutschland, vor allem für diejenigen, die deutsche Staatsbürger sind. Viel Zustimmung dafür aus den eigenen Reihen. Die Opposition ist empört, sie ist entsetzt, und für den Koalitionspartner SPD gehen die zehn Punkte an den echten Problemen des Landes vollkommen vorbei.
    Nicht allzu glücklich mit der Leitkultur des Ministers ist auch ein Weggefährte aus den eigenen Reihen: der CDU-Politiker Ruprecht Polenz, viele Jahre Generalsekretär der CDU. Guten Morgen!
    "Wer definiert, was Leitkultur ist?"
    Ruprecht Polenz: Einen schönen guten Morgen, Herr Müller.
    Müller: Herr Polenz, was ist daran falsch?
    Polenz: Wenn man diese Thesen von Thomas de Maizière liest, kann man ihnen zustimmen. Man mag ihnen auch widersprechen. Die Frage ist, warum soll das die Leitkultur sein. Die erste Frage ist, wer definiert, was Leitkultur ist, denn es soll ja eine Richtschnur sein, an die sich alle halten sollen, damit wir hier gut zusammenleben. Und das, an was sich alle halten sollen, ist normalerweise in Gesetzen geregelt. Wo jenseits der Gesetze besteht ein Bedarf an Verbindlichem und wer legt das fest? Das sind meine beiden Haupteinwände gegen die ganze Leitkultur-Debatte.
    Müller: Aber gehört es nicht zu unserer Leitkultur, wie die auch definiert ist, dass man auch offen darüber sprechen kann?
    "Man kann sicherlich nicht alles gesetzlich regeln"
    Polenz: Man kann über alles offen sprechen, aber dazu brauche ich jetzt keinen Kulturbegriff, sondern da reicht es, dass ich ins Grundgesetz schaue, wo mir die Meinungsfreiheit garantiert ist.
    Müller: Aber offenbar steht ja nicht alles drin, was in der Praxis gebraucht wird, wenn wir Thomas de Maizière richtig verstehen.
    Polenz: Man kann sicherlich nicht alles gesetzlich regeln. Es gibt Gewohnheiten, Traditionen, die bilden sich heraus. Aber solange sie sich innerhalb des Grundgesetzes herausbilden, sind sie legitim und können gelebt werden.
    Müller: Aber das Grundgesetz ist schon alt und die Gesellschaft hat sich in die Moderne entwickelt.
    Polenz: Ja. Aber unsere Verfassung ist ein Rahmen und innerhalb dieses Rahmens entwickelt sich die Gesellschaft. Und im Übrigen wird auch der Rahmen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts immer wieder neu ausgelegt und angepasst.
    Müller: Das heißt, das reicht Ihnen, wenn Thomas de Maizière jetzt so etwas versucht zu formulieren, in zehn Thesen, in zehn Punkten, etwas gerafft zusammengestellt, das Ganze ventiliert über die "Bild" am Sonntag" an diesem Wochenende. Ist das für Sie völlig überflüssig?
    "Das Grundgesetz bildet den Rahmen für die vielen Kulturen"
    Polenz: Ja, es ist auch nicht ganz ungefährlich. Denn wenn man eine Leitkultur behauptet, dann muss man sicher auch die Frage fallen lassen, wie steht das zur kulturellen Vielfalt, die wir faktisch in unserem Land haben. Wir haben doch sehr unterschiedliche Kulturen, im Plural, ohne dass das jetzt ein beliebiger Multikulturalismus wäre, denn darunter versteht man ja auch solche Lebensweisen, die mit dem Grundgesetz nicht vereinbar wären. Das Grundgesetz bildet den Rahmen für die vielen Kulturen, die wir innerhalb dieses Grundgesetzes leben können. Kultur heißt ja so was wie Lebensstil, Gewohnheit, Tradition, und das ist vielfältig. Denken Sie nur an die Bekleidung, denken Sie an die Frage der Musik, die Tischsitten, die Feiern, denken Sie an die Begriffe Jugendkultur, bürgerliche Kultur oder alternative Szene. Das deutet doch alles auf bunte Vielfalt hin und nicht auf Richtschnuren.
    Müller: Aber das hat Thomas de Maizière, wenn ich ihn richtig verstanden habe, ja auch nicht bestritten, was Sie jetzt sagen, Herr Polenz.
    Polenz: Ja warum verwendet er dann den Begriff Leitkultur?
    Müller: Um vielleicht einige Fragen, die kontrovers in der Gesellschaft diskutiert werden, zu klären, auf den Punkt zu bringen. – Gehen wir doch mal auf einen Punkt ein. Ich habe schon einige Zitate genannt. Vielleicht noch einmal: "Wir geben uns zur Begrüßung die Hand, wir zeigen unser Gesicht, wir sind nicht Burka." Das können wir jetzt nicht im Grundgesetz finden?
    Polenz: Nein, das können wir nicht im Grundgesetz finden. Aber es stimmt ja auch nur begrenzt. Ich habe den Eindruck, dass sich die meisten Jugendlichen nicht formalisiert die Hand zur Begrüßung geben. Und was das Gesicht zeigen angeht – manche haben die Kapuze ganz schön tief runtergezogen und da ist das mit dem Gesicht zeigen auch so eine Sache. Und im Übrigen: In den sozialen Medien, in denen ja auch viel kulturelle Interaktion stattfindet, zeigen viele gerade nicht ihren Namen und auch nicht ihr Gesicht.
    Müller: Was ja sehr stark kritisiert wird von denjenigen, die da sagen, wir müssen wenn da offen sein.
    "Eine bestimmte Auffassung des Islam verbietet es Männern, Frauen die Hand zu geben"
    Polenz: Ja, das mag ja sein. Aber es ist zulässig, solange es nicht gesetzlich verboten wird.
    Müller: Vielleicht ist das ja auch die Wunschvorstellung des Ministers. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand, sagen Sie. Da hat der Minister vermutlich eher nicht daran gedacht, Herr Polenz, dass sich vielleicht zwei 15-Jährige nicht die Hand geben, wenn sie sich heute Morgen in der Schule sehen.
    Polenz: Nein, da hat er nicht dran gedacht. Aber ich finde das auch einen legitimen Wunsch. Aber warum wird denn das mit der Hand geben betont? Es wird deshalb betont, weil eine bestimmte Auffassung des Islam es den Männern nahelegt oder sogar verbietet, Frauen nicht die Hand zu geben, und ich finde das auch nicht gut. Aber es schadet, finde ich, nicht und man muss das jetzt nicht durch die Form einer Leitkultur-Debatte problematisieren.
    Müller: Ist das vielleicht aber eine gesellschaftliche Frage, die diskutiert werden sollte, diskutiert werden muss, wenn Männer Frauen den Handschlag verweigern, weil sie da eine religiös andere Definition dessen haben?
    "Das sind soziale Prozesse, da bedarf es keiner staatlichen Debatte"
    Polenz: Natürlich kann man das diskutieren. Und jemand, der das nicht macht, der grenzt sich natürlich auch aus, genauso wie jemand, der nicht grüßt und als Muffel durch die Straßen läuft und seinen Nachbarn nicht guten Tag sagt. Das sind aber soziale Prozesse, die auch einen gewissen sozialen Anpassungsdruck natürlich erzeugen, aber es bedarf darüber, denke ich, keiner staatlichen Debatte. In dem Moment, wo man als Innenminister ja nun auch quasi für den Staat redet, hat das doch eine ganz andere Aussage, als wenn sich ein Kulturwissenschaftler darüber auslässt, was in Deutschland gelebt wird und was davon vielleicht bevorzugt werden sollte, was nützlich ist, was nicht so nützlich ist. Ich kann mich in meiner Jugend daran erinnern, da gab es eine Riesendebatte über die Haarlänge von jungen Männern.
    Müller: Die ist ja auch hinreichend kommentiert worden, auch vom Verteidigungsminister und so weiter. Daran kann ich mich noch erinnern.
    Polenz: Ja, richtig. Aber es gab sozusagen außer bei der Bundeswehr auch nur in den Anfängen, dann durfte man sie dort auch länger haben, keine Richtschnur des Haarschnitts.
    Müller: Es gab keinen Satz. Thomas de Maizière hätte vielleicht dann geschrieben, alle Männer tragen kurze Haare.
    Polenz: Das weiß ich nicht, ob er das geschrieben hätte, weil wir haben ja '68 zusammen in Münster studiert. Ich glaube nicht, dass er das damals geschrieben hätte.
    Müller: Wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, haben Sie ein Problem damit, dass das im Grunde so thesenartig ist. Das erinnert ja fast schon im Luther-Jahr an andere Vorbilder, dass man da irgendwas zu Papier bringt oder irgendwie an die Tür hämmert. Warum macht Thomas de Maizière das? Vielleicht doch, wie einige jetzt behaupten, mit schönen Grüßen an die AfD?
    "Dass die AfD den Begriff mit Inbrunst verwendet, sollte uns nachdenklich machen"
    Polenz: Es ist ja kein Zufall, dass die Leitkultur-Debatte - das ist ja nicht das erste Mal - im Zusammenhang mit Integration geführt wird. Und da ist eben auch die Frage, welche Form von Anpassung erwarten wir an diejenigen, die zu uns kommen, und wo würden wir übers Ziel hinausschießen. Selbstverständlich – und das ist eine begründete, berechtigte und notwendige Erwartung – erwarten wir, dass sich jeder, der hier lebt, an die Gesetze hält, an die Verfassung, die für diese Gesetze den Rahmen gibt. Darüber hinaus kann aber jeder nach seiner Fasson, auch nach seiner kulturellen Lebensweise selig werden, wenn er damit anderen nicht schadet.
    Müller: Bestreitet der Minister ja auch nicht.
    Polenz: Ja! Aber er erweckt den Eindruck. Er hätte ja den Begriff der Leitkultur nicht verwenden brauchen. Er hätte sagen können, so stelle ich mir unser Zusammenleben in Deutschland vor, dafür tritt die CDU ein. Das finde ich auch in Ordnung. Ich halte ja auch inhaltlich das meiste von dem, was er sagt, für richtig und ich würde auch unsere Kinder oder wir haben unsere Kinder auch in diesem Sinne erzogen. Aber ich habe nicht zwingend erwartet, auch nicht mit gewissem normativem Nachdruck, dass sich alle so verhalten, dass alle so denken.
    Müller: AfD, muss ich noch mal fragen, Herr Polenz. AfD, kommt Ihnen das auch so ein bisschen in den Kopf, wenn Sie…
    Polenz: Ja dass die AfD diesen Begriff mit Inbrunst verwendet, sollte uns nachdenklich machen. Das sollte erst recht zur Vorsicht mahnen, diesen Begriff nicht zu gebrauchen, weil er in eine vielfältige, bunte, vor allem pluralistische Gesellschaft, eine freiheitliche Gesellschaft nicht passt.
    Müller: Hat er es deshalb gemacht, Thomas de Maizière, um die AfD zu entschärfen, um zu sagen, wir haben auch diese Positionen in der CDU, weil das keiner mehr weiß?
    "Man hält sich auch an Dinge, die man nicht gesetzlich regeln kann"
    Polenz: Nein, das müssten Sie ihn fragen. Ich glaube das eher nicht, denn ich meine, das erste Mal, dass ich mich jetzt an die Verwendung dieses Begriffs erinnere, gab es die AfD noch gar nicht. Das war Friedrich Merz vor 15 Jahren.
    Müller: Das hat ihm mittelfristig auch nicht gut getan, dem Friedrich Merz.
    Polenz: Man hätte eigentlich aus all diesen Debatten lernen können, dass sie nicht wirklich zielführend sind. Wir sollten für eine Kultur des Zusammenlebens werben. Wir sollten zum Ausdruck bringen, dass man in aller Verschiedenheit in Deutschland gut zusammenleben kann, indem man sich an die Gesetze hält und indem man natürlich sich auch an die Dinge hält, wo Helmut Kohl mal gesagt hat, das tut man nicht, ohne dass man das gesetzlich regeln kann. Ein einfaches Beispiel: Man drängelt sich in einer Schlange nicht vor. Aber das wird dadurch erreicht, dass alle anderen sich dann etwas empört umdrehen, wenn jemand das macht, und dann lässt er es in Zukunft. Dazu brauche ich keinen Innenminister, der das in irgendwelche Thesen schreibt.
    Müller: Ruprecht Polenz, CDU-Politiker, bei uns heute Morgen live im Deutschlandfunk. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben.
    Polenz: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.