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Debatte über Theaterstück "Atlas"
Respektloses Verhalten gegenüber der Kraft der Kunst

Thomas Köck hat für "Atlas" den renommierten Mülheimer Dramatiker-Preis gewonnen. Das Stück erzählt die Geschichte von Vietnamesinnen in Deutschland. Nun wird Köck kulturelle Aneignung vorgeworfen. DLF-Theaterkritiker Michael Laages erstaunt die Kritik und das nun erwachte "politisch korrekte Gewissen".

Von Michael Laages | 10.06.2019
Szene aus dem Stück atlas (UA) des Schauspiel Leipzig. Auf dem Bild: Sophie Hottinger, Denis Petković, Marie Rathscheck.
Szene aus dem Stück atlas (UA) des Schauspiel Leipzig. Auf dem Bild: Sophie Hottinger, Denis Petković, Marie Rathscheck. (Rolf Arnold)
Zur Erinnerung: uraufgeführt wurde das neue Stück von Thomas Köck am 19. Januar. Und in Gesprächen am Rande dieser Premiere war damals sehr wohl auch davon die Rede, welche Optionen im Vorfeld bestanden hätten, um die Gemeinde von Vietnamesinnen und Vietnamesen in Leipzig einzubinden in den Prozess der Produktion. Wenn die Erinnerung weiter nicht täuscht, dann wiesen die verantwortlichen Theatermenschen damals darauf hin, dass die Gruppe derer, die Jahre des eigenen Lebens als vietnamesische Vertragsarbeiter und Vertragsarbeiterinnen in der DDR verbracht hatten, extrem scheu und zurückhaltend auf alle theaterüblichen Versuche zur Einbeziehung reagiert hätte; schon dass es überhaupt einzelne Betroffene gegeben habe, die dem Autor Köck mit biografischem Material behilflich gewesen seien bei der Recherche, galt am Premierenabend eher als Überraschung. Im Publikum selbst wurde ein mit Sicherheit vietnamesisch-stämmiges Paar gesichtet. Und nach der Leipziger Uraufführung waren von niemandem und von nirgends her Vorwürfe und Forderungen zu hören, wie sie jetzt über die sehr besondere Aufführung schwappen.
Politisch korrektes Gewissen aus Tiefschlaf erwacht
Erst jetzt, nach dem Theaterpreis in Mülheim und dem Gastspiel der Produktion bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin, ist das politisch korrekte Gewissen erwacht; zuvor lag es offenbar im Tiefschlaf.
Vielleicht ärgert sich dieses Gewissen ja sogar ein bisschen darüber, dass es den Anlass der Erregung so offensichtlich verpennt hat – und passt darum im Übereifer nicht so richtig auf bei den Forderungen jetzt, zum Beispiel diesen: "Wir sind mehr als eure Inspiration. Würdigt uns. Engagiert uns. Bezahlt uns."
Bestenfalls dem ersten Satz lässt sich umstandslos folgen; niemand, schon gar nicht der engagierte Aktivist Thomas Köck, würde ihm widersprechen. Genau darum hat er ja die schmerzhafte, von machtpolitischen Zwängen geprägte Geschichte der vietnamesischen Gemeinde im deutschen Umbruch so eindrucksvoll erzählt – ohne auch nur einen Augenblick dokumentarisch agieren zu wollen in einem Text aus lauter Kunst. Im Gegenteil - Erfahrungen von Fremdheit und Feindseligkeit bedrohten bald nach der deutschen Wende ja speziell die asiatische Mitbevölkerung im abgewickelten Land mit Hass-Attacken gegen "Fidschis" und neofaschistische Brandschläge in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda; und diesen latent-deutschen Schrecken übertragen in der Aufführung zwei Figuren auf die eigenen Komplikationen in der Annäherung an diese schwierige Heimat. Zum einen Ellen Hellwig als vietnamesische Großmutter – die gebürtige Norwegerin kam Mitte der 60er-Jahre als Studentin nach Leipzig. Und Denis Petkovic stammt zwar aus Herford, ist aber hier der südosteuropäische Zuwanderer, der erst Betreuer, dann Geliebter der vietnamesischen Mutter wird.
Respektvoller und sensibler Umgang
Ob nun das Schauspiel Leipzig ein komplett vietnamesisch-stämmiges Frauen-Ensemble hätte engagieren können? Vermutlich eher nicht, wohl auch nicht mit der gleichen künstlerischen Wirkung. Und hätten tatsächlich drei Vietnamesinnen um den deutschen Mann herum diesen durchaus komplizierten Text gespielt – wer hätte da denn nicht sofort von Betroffenheits- und Dokumentartheater gesprochen und geschrieben?
"Eine Frage des Respekts" sei es, die kleine, geschundene, im deutschen Wende-Herbst oft mit dem Tod bedrohte Gemeinde "angemessen" zu präsentieren? Klar! Nichts richtiger als das – und nie und nirgends bisher ist respektvoller, sensibler und ohne jeden Übergriff umgegangen worden im Theater mit dieser Gemeinde und ihren dramatischen Geschichten. Respektlos vor der Kraft der Künste argumentieren demgegenüber die aktivistischen Schlaumeier. Und ganz besonders respektlos agiert ein Mülheimer Juror, der jetzt plötzlich die "Bauchschmerzen" mit Köcks Stück entdeckt, die er nicht mal in der öffentlichen Jury-Debatte nachvollziehbar formulieren konnte.
Es zählt die Kunst - sonst nichts
Übrigens: Das Musiktheater agiert in diesen Fragen deutlich entspannter. "Kulturelle Aneignung" ist da keine Frage. Dort eignen sich umgekehrt nämlich viele Asiatinnen und Asiaten ganz selbstverständlich jede Rolle der Operngeschichte an – weil sie halt brillant ausgebildete Künstlerinnen und Künstler sind. Das zählt, sonst nichts. Und das gilt auch für den Autor Thomas Köck, der als Künstler eine Geschichte über Fremdheit, Flucht und die Brüche zwischen den Kulturen erzählt.