Freitag, 19. April 2024

Archiv


Debatte um den "Kulturinfarkt"

Seit Tagen wird über das Buch "Der Kulturinfarkt" gestritten. Birgit Mandel, Professorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, begrüßt, dass nun laut darüber nachgedacht wird, was mit der öffentlichen Kulturförderung eigentlich erreicht werden soll. Denn nur etwa fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung würden diese Angebote wahrnehmen.

Birgit Mandel im Gespräch mit Karin Fischer | 20.03.2012
    Karin Fischer: Heute erschien das Buch "Der Kulturinfarkt", über das schon seit acht Tagen heftig debattiert wird, seit die vier Autoren des Buches nämlich im "Spiegel" die polemische Frage aufwarfen, was denn wäre, wenn die Hälfte aller Theater und Museen in Deutschland geschlossen würden. Der Aufschrei, der darauf folgte, war erwartbar, den Autoren wurde Unkenntnis des Kulturbetriebs vorgeworfen, ihre Argumentation kulturfeindlich, sogar "unpatriotisch" genannt. Damit wird aber eine vielleicht doch notwendige Debatte begraben, bevor sie begonnen hat.

    Birgit Mandel, Professorin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, ist Kulturnutzungsforscherin. Das heißt, sie untersucht seit Jahren, wer die Kulturangebote in Deutschland tatsächlich nutzt und wie. Und sie findet, eine Diskussion über die Ziele öffentlicher Kulturförderung ist überfällig. Vor der Sendung habe ich sie gefragt: warum?

    Birgit Mandel: Ja. Wir haben ja tatsächlich die Situation – das ist den meisten in der Bevölkerung in Deutschland gar nicht bewusst -, dass wir weltweit in absoluten Zahlen mitunter neun Milliarden Euro am meisten öffentliche Gelder für Kunst und Kultur ausgeben. Wenn wir uns dann aber dementsprechend den Output angucken, dass etwa ungefähr fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung überhaupt nur zu den regelmäßigen Nutzern dieser öffentlich finanzierten Angebote gehören, dann muss man sich ja doch fragen, ob wir mit dem Geld, was wir investieren, nicht möglicherweise, wenn wir es anders verteilen würden, noch mehr erreichen könnten. Und das finde ich persönlich eher spannend an der jetzt ausgelösten Debatte, dass überhaupt mal darüber laut nachgedacht wird, was wollen wir eigentlich erreichen mit unserer öffentlichen Kulturförderung.

    Fischer: Das heißt, auch wenn viele Argumente der Autoren des "Kulturinfarkts" nicht haltbar sind und wenn schon zum Beispiel die Abkanzelung des Begriffs "Kultur für alle" einer Analyse nicht wirklich Stand hält, der Ausgangspunkt stimmt ja vermutlich: Wir haben immer mehr Kultur für künftig immer weniger Leute, von denen in 30 Jahren voraussichtlich dann auch noch ein Drittel Migrationshintergrund haben wird. Das ist einerseits nicht schlimm, denn die älteren Kulturnutzer sind dann in der Mehrzahl, also das System wird noch eine Weile so funktionieren. Aber wie muss die Zukunft dieses Systems bedacht werden?

    Mandel: Das Problem an dem jetzigen System ist ja tatsächlich, dass es an einer relativ kleinen Gruppe von Kulturnutzern ausgerichtet ist und im Grunde genommen auch an deren Kulturbegriff, und dass, wie Sie ja auch sagen, sich die Bevölkerung ändert, dass sich Kulturbegriffe ändern, und ich glaube, in der Zukunft müssen eigentlich zwei problematische Dimensionen der Kulturförderpolitik in Deutschland neu betrachtet werden: zum einen ein normativer enger Kulturbegriff, der bei uns vorherrscht, der muss hinterfragt werden, der muss auch geweitet werden. Es ist ja problematisch, dass sozusagen durch öffentliche Kulturförderpolitik vorgegeben wird, welche Kultur gut ist, welche Kultur wertvoll ist und welche Kultur förderungswürdig ist.

    Fischer: Aber, Frau Mandel, stimmt das denn wirklich? Ich meine, das Problem in der Diskussion ist doch auch, dass es tatsächlich Alles gibt in Deutschland. Es gibt die "Kultur für alle", es gibt die Unterstützung der Kreativen, die öffentliche Förderung, es gibt die etablierten Soziokulturellen Zentren, die vor 30 Jahren so etwas wie "Gegen"-Kultur waren. Das gibt es doch alles.

    Mandel: Ja.

    Fischer: Was fehlt Ihnen?

    Mandel: Sie haben recht, dass wir auch in dem Bereich sehr, sehr viel unterschiedliche Einrichtungen haben, aber Sie müssen sich natürlich den Prozentsatz angucken. Wenn 80 Prozent der öffentlichen Mittel vor allem in sogenannte Hochkultur-Institutionen gehen und diese fest gebunden sind, dann bleibt einfach sehr wenig übrig für neue Kultureinrichtungen. Selbst die soziokulturellen Zentren, die enorm wenig Gelder nur insgesamt bekommen, sind natürlich etwas, was sich vorwiegend in den 70er-, 80er-Jahren entwickelt hat.

    Fischer: Damals neu! – Welche neuen Kultureinrichtungen brauchen wir heute?

    Mandel: Ich denke, das könnte ich gar nicht pauschal sagen, weil ich bin ja auch nur eine von vielen. Wenn Sie mich ganz persönlich fragen, dann würde ich sagen, notwendig, absolut notwendig ist, dass wir den Bereich kulturelle Bildung jenseits eines benoteten Bereichs fest in jede Schule in Deutschland integrieren. Das wäre mein ganz persönlicher Vorschlag. Aber ich bin mir sicher, dass es viele neue Kulturakteure gibt, darunter wahrscheinlich auch viele mit sogenanntem Migrationshintergrund, die wiederum eigene Ideen und Vorstellungen davon haben, was sie wichtig finden würden an Kultureinrichtungen, welche neuen Formate sie gerne hätten. Und es geht jetzt, glaube ich, darum, dass man einfach den Kulturbegriff etwas weitet und dass man mehr unterschiedlichen Akteuren quasi im Sinne eines "cultural governance"-Modells dazu verhilft, überhaupt reinzukommen in das System, denn im Moment ist das ja ein absoluter "closed job". Wer einmal drin war in der Institutionalisierung, bleibt dabei, und wer neu hinzukommt, muss sich eben irgendwie auf dem freien Markt behaupten.

    Fischer: Birgit Mandel, Kulturnutzungsforscherin am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, zur Debatte um die Kulturförderung in Deutschland.

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.