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Debüt von Anna Prizkau
"Kein neues Leben im alten"

Die Journalistin Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren und lebt seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland. Jetzt hat sie ihr erstes Buch geschrieben. Darin verbindet sie Erfahrungen zum Porträt einer russischen Einwanderin und offenbart Parallelen zu ihrer eigenen Geschichte.

Von Shirin Sojitrawalla | 22.09.2020
Anna Prizkau: „Fast ein neues Leben“
Anna Prizkau: „Fast ein neues Leben“ (Matthes & Seitz Verlag, Portrait Copyright Julia von Vietinghoff)
In zwölf Erzählungen umkreist dieses Buch ein namenloses Ich und sieht ihm beim Erwachsenwerden zu – das geschieht nicht chronologisch, sondern ungeordnet. In der ersten Geschichte ist die Ich-Erzählerin 22 Jahre alt und befindet sich mit ihrem Vater in einem Club-Urlaub auf Kuba. Am Rande erfährt man, dass die Mutter psychisch krank ist und versucht hat, sich das Leben zu nehmen. Wie nebenbei fallen auch Bemerkungen über den Migrationshintergrund der Familie.
Von einem alten Land und einem neuen ist in der Folge des Buches häufig die Rede. Ohne die Erzählerin mit der Autorin in eins setzen zu wollen, erkennt man im alten Land Russland und im neuen Deutschland. Der Bruch zwischen beiden, dem alten und dem neuen Leben, grundiert alle Geschichten. Und wie das so ist: Was im alten Land galt, muss im neuen nichts mehr gelten:
"Anna und Angelina hatten dunkle Augen, dunkle Haare und einen Frisörsalon in einem Dorf, obwohl beide Wirtschaftsdiplome hatten, aber sie waren aus dem alten Land, im neuen zählten sie nichts mehr. Viktoria war blond. Vor zehn Jahren hatte sie Ärztin werden wollen. Jetzt arbeitete sie im Rewe."
Von alten und neuen Konventionen
Es sind Verlusterfahrungen wie diese, von denen Anna Prizkau spricht. Erfahrungen, wie man sie von Migranten in Deutschland kennt. Die Autorin tut gut daran, sie nicht explizit einer bestimmten Einwanderergruppe zuzuordnen, schließlich handelt es sich um exemplarische Erfahrungen, die auch syrische Geflüchtete oder wiedervereinigte Ostdeutsche gemacht haben dürften. Vom Fremdsein erzählen alle Geschichten des Bandes.
Ein Thema, das strenggenommen keiner weiteren literarischen Bearbeitung bedürfte, so oft wurde ähnliches, wenn auch aus verschiedenen Kulturkreisen, in den vergangenen Jahrzehnten geschrieben. Bei näherer Betrachtung ist dieser Einwand Quatsch, denn Fremdheitserfahrungen gehören nun einmal, wie Liebe und Tod, zu den großen Topoi der Literatur.
Zwölf Erzählungen verdichten sich zum Roman
Dabei reicht es natürlich nicht mehr, diesen Gefühlen literarisch einfach freien Lauf zu lassen. Vielmehr gilt es, eine Form zu finden, diese Gefühle auszudrücken. Anna Prizkau gelingt das auf zweierlei Art. Zum einen verdichtet sie ihre 12 Erzählungen zu einem Episodenroman, der schon formal von einem zersprengten Leben zeugt. Prizkau erzählt nicht von A nach C, sondern so wie Erinnerungen einen zuweilen überfallen, Alters- und Ländergrenzen überschreitend. Zum anderen schlägt Prizkau einen Ton an, der von weiter Ferne auf die Figuren schaut. Gleich zweimal stolpert man über den Satz "Ich fühle nichts". Nüchtern, beinahe gefühlskalt berichtet die Erzählerin in trockenen Sätzen von ihren, mitunter krassen Erfahrungen im neuen Land:
"Es waren drei Männer. Sie schrien, dass sie mich nicht sehen wollen in ihrem Land. Dass ich hier nichts verloren hatte. Dass man hier ihre Sprache spricht und keine andere. Der erste Tritt traf mein Gesicht, er traf die Lippe. Das Reißverschlussgeräusch. Sie traten ihre Füße in meinen Körper. Als ob sie etwas, das tief in mir versteckt war, zertreten und zerstören wollten. Ich spürte keinen Schmerz."
Ihren eher sachlichen Stil kontert die Autorin manchmal mit einem Hang zum Märchenhaften, das auch den Kindheitserinnerungen geschuldet ist. Zuweilen kommt sich die Erzählerin vor wie in einem Wunderland mit sonderbaren Benimmregeln, Scheinriesen und sonstigen Unwägbarkeiten. Schlaglichtartig erzählt Anna Prizkau von einer Einwanderin, deren Leben deutliche Anklänge an ihre eigene Biografie aufweist.
Migrantische Coming-of-Age-Geschichte
Die Erinnerungen ihrer Ich-Erzählerin, vom ersten Schultag bis zu ersten Berufserfahrungen fügen sich zu einer migrantischen Coming-of-Age-Geschichte. Dabei beweist sie nicht nur ein gutes Gespür für die naive Perspektive Heranwachsender, sondern auch für die feinen Differenzen bezüglich Herkunft und Status. Mit wenigen Strichen umreißt sie unterschiedliche Milieus. Das Anderssein manifestiert sich nicht nur in mangelnden Deutschkenntnissen, sondern auch in Kleiderordnungen und gesellschaftlichen Konventionen:
"Zu Hause roch es damals immer nach Rinderbrühe, Zwiebeln, Zigaretten. Denn seit dem Umzug in das neue Land hatte meine Mutter jeden Tag Gerichte aus dem alten Land gekocht. Das machte sie am Morgen. Danach telefonierte sie zwei Stunden lang mit ihrer Schwester und rauchte dazu eine Packung Vogue."
Anna Prizkau erzählt von der Scham, aus anderen Verhältnissen zu kommen und von kulturellen Schocks aller Art. Das macht sie knapp, und oft verbirgt sie das Wesentliche im Unausgesprochenen, was schön ist. Das Unglück der Mutter etwa spukt eher über die Seiten, als dass es auserzählt würde.
Nicht schön ist, dass Prizkau ihren Geschichten zu viel zumutet, wenn sie ganz gegen ihren Stil plötzlich überdeutlich wird, obwohl schon alles gesagt ist. Manch ein Ende beschwert sie auf diese Weise vollkommen unnötig. Denn das Vage und Schwebende steht ihren eigenwilligen Familien- und Adoleszensdramen viel besser.
Anna Prizkau: "Fast ein neues Leben".
Friedenauer Presse Berlin, 111 Seiten, 18 Euro.