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Debütroman von Jasmin Schreiber
Tod und Twitter

Jasmin Schreiber hat einerseits eine digitale Fangemeinde bei Twitter und Instagram, und andererseits mit "Marianengraben" ein haptisches Debüt im Kölner Eichborn-Verlag. Eine exemplarische Betrachtung über das literarische Schreiben und die Vermarktung von Literatur in Zeiten der Followerschaft.

Von Jan Drees | 21.02.2020
Jasmin Schreiber: „Marianengraben“ und im Hintergrund der Marianengraben im Pazifik
An Jasmin Schreibers Debütroman zeigt sich, wie Instagram, Facebook oder Twitter das literarische Feld beeinflussen - jenseits der etablierten Literaturkritik. (Buchcover Eicborn Verlag / Hintergrund: picture alliance / dpa / Thom Hoffman)
Paula ist depressiv und sinnbildlich hinabgesunken zum Grund des Marianengrabens, elftausend Meter unter der Meeresoberfläche. Tiefer geht es nicht.
"An meinem Kühlschrank hängt ein kleiner Graph, ein Ausdruck vom 23.09.2016, auf dem man sieht, wie mein Herz von vierundsiebzig Schlägen pro Minute auf einhundertsechsundfünfzig Schläge beschleunigte, wie die Herzrate dann noch auf einhundertzweiundsiebzig kletterte und sich dort eine Weile stabilisierte und nicht mehr sank, minutenlang (...) als Mama mich aus eurem Urlaub auf Mallorca angerufen hat (...). Ich dachte, dass das wieder einer ihrer berüchtigten versehentlichen Hosentaschenanrufe sei und dann sagte sie: ‚Der Tim ist tot’. An meinem Kühlschrank hängt bis heute ein Graph, auf dem man sieht, wie ein menschliches Herz zerbricht."
So sieht der Einbruch der Traurigkeit in Zeiten von Smartwatches und jenen Fitness-Apps aus, die unsere Körperfunktionen in Echtzeit überwachen. Die 1988 geborene Jasmin Schreiber berichtet in ihrem Debütroman "Marianengraben" plot- und dialoggetrieben vom langsamen Auftauchen aus der Niedergeschlagenheit, von zunächst vergeblich wirkenden Therapiesitzungen und vom steinigen Weg aus der Dunkelheit zurück ans Licht.
Vor Erscheinen ist die erste Auflage verkauft
Das klingt deprimierend, ist aber bereits vorm offiziellen Erscheinungstermin erfolgreich. Dominique Pleimling, Programmleiter des zum Kölner Lübbe-Konzerns gehörenden Eichborn-Verlags sagt im Deutschlandfunk-Gespräch:
"Bei ‚Marianengraben’ ist es so, dass wir zwei Wochen vor Erscheinen die zweite Auflage in Auftrag gegeben haben. Wir hatten bei der ersten Auflage mutig 10.000 Exemplare durchgedruckt, und die sind jetzt alle reslos vorgemerkt. Und wir hatten außerdem eine Auftaktveranstaltung mit Jasmin in Berlin, und da waren auch innerhalb kürzester Zeit alle 270 Tickets verkauft. Das übertrifft alle unsere Erwartungen bis jetzt."
Wer nach einer Begründung für den wahrscheinlichen Erfolg sucht, der muss sich ins Internet begeben – und wird ebendort sehen, dass "Marianengraben" beispielhaft stehen kann für eine spezifische Art, öffentlich über Bücher zu sprechen. Auf der Verlagshomepage und in zahlreichen Social-Reading-Portalen stehen seit Wochen erste Rezensionen einer sogenannten Leserjury. "Marianengraben" ist im Gespräch, bevor irgendeine Feuilletonkritik geschrieben, oder das erste Exemplar beim Endkunden gelandet ist – unter anderem deshalb, weil Jasmin Schreiber einen Internetfankreis hat, der gezielt angesprochen wird. Pleimling:
"Natürlich spielt es bei der Vermarktung eine große Rolle. Man merkt das jetzt sehr stark bei der Veranstaltung und mit den ersten Resonanzen, dass sie da wirklich sehr gut vernetzt ist, dass viele treue Fans hat, die auf das Buch warten..."
Rezensionen vor der Sperrfrist
Ein Buch, wohlgemerkt, das von einer Debütautorin geschrieben wurde. Auf einen neuen Roman wartende Fans vermutete man noch vor zehn Jahren bei Stephen King oder Margaret Atwood. Die Sperrfrist für Rezensionen endet bei "Mariannengraben" am 28. Februar. Doch bereits jetzt posten Jasmin Schreiber und ihre Anhängerinnen Fotos, Videoschnipsel, Kurzrezensionen und quadratische Kacheln mit Buchzitaten, sogenannte Share Memes.
"Ich habe lange nicht mehr eine so berührende Mischung aus Freude, Humor und Trauer gelesen", schreibt Instagram-Nutzerin "julemaus94" am 10. Februar dieses Jahres. "Sehr beeindruckt, wie viel Trauer, Sehnsucht, Verlust und Leben doch in ein Buch passen kann", wundert sich wiederum "miss_mandrake" auf dem gleichen Portal. Sie hat ihre Besprechung bereits mit dem Hinweis "Werbung / Rezensionsexemplar" versehen. An anderer Stelle wird vom Lektüreabbruch berichtet – weil es einer Leserin nicht gelang, Distanz zur Geschichte zu finden.
"Jasmin Schreiber hat sich auch dadurch eine starke Präsenz im Netz erarbeitet, dass sie vielfältige Themen bespielt. Sie ist studierte Biologin, schreibt über Natur, Tiere, lebt auch in einer crazy Wohnung mit sehr vielen Tieren. Sie schreibt über Depressionen, über Angststörungen, ADHS – Themen, mit denen sie auch konfrontiert ist, natürlich persönlich." Das sagt Eichborn-Verleger Dominique Pleimling.
Mit tatkräftiger Unterstützung des Lübbe-Konzerns
Jasmin Schreibers Debüt, vom Verlag ab 16 Jahren empfohlen, kommt ohne Feuilletonkritik aus, ohne Zeitschriftartikel, ohne klassisches Marketing. Interessant ist, in welcher Weise eine Followerschaft in Graswurzelmanier die Kommunikation über ein ästhetisches Produkt beeinflusst; mit tatkräftiger Unterstützung des Verlags. Denn die vorhin genannte Lesejury ist ein Social-Reading-Portal des Lübbe-Konzerns, und damit ein Äquivalent zu Vorablesen.de, verantwortet von der Firma "Reader’s First", einer hundertprozentigen Tochter des Berliner Ullstein-Verlags, ebenso vergleichbar mit lovelybooks.de, das zum Holtzbrinck-Konzern gehört, wie beispielsweise die Verlage Rowohlt, S. Fischer und DroemerKnaur. Wer sich in den Portalen anmeldet, bekommt – wie Literaturkritikerinnen auch – die Bücher vor Erscheinen zugeschickt; und es ist gestattet, vor Ablauf der Sperrfrist Bewertungen abzugeben.
Somit entsteht, Gott sei’s geklagt, eine neue Herausforderung für die klassische Literaturkritik, die ihre Reichweite mehr und mehr teilen muss mit anderen Akteuren. Das ebenso wie Eichborn zu Lübbe gehörende Imprint Lyx verzichtet bereits komplett auf Pressearbeit. Interessant wird zu beobachten sein, wie es weitergeht mit "Marianengraben" und der Kritik. In einer Woche erscheinen – möglicherweise –, die ersten Rezensionen. Bei der Zielgruppe ist das Buch Anfang Februar gelandet. Dort kümmert man sich am 28. Februar vermutlich längst um jene Romane, die nach der Leipziger Frühjahrsbuchmesse erscheinen werden. Da staunt der Laie – und der Fachmann wundert sich.
Jasmin Schreiber: "Marianengraben"
Eichborn, Köln, 250 Seiten, 20 Euro