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"Dein Wort durchläuft den ganzen Raum"

Malende Schriftsteller galten bislang allenfalls als begabte Hobbymaler und schreibende Maler als literarische Talente. Die mexikanische Malerin Frida Kahlo ist aber eine Dichterin aus eigenem Recht. Briefe waren ihr erstes Medium, noch längst vor ihrer bildenden Kunst, die sie berühmt machte.

Von Peter von Becker | 12.09.2010
    Die Kleine ist sechs Jahre alt, als eine Kinderlähmung sie neun Monate lang aufs Bett wirft und zur Tagträumerin macht. Erst träumt sie von Mädchen, später von Jungen, beide wird sie sehr früh schon lieben. Das rechte Bein, das sie auf Fotos hinter dem linken versteckt, bleibt geschrumpft, doch die kleine Frida wird tanzen, wild tanzen, bis man das böse Bein in ihrem vorletzten Lebensjahr noch amputiert. Dann tanzt sie mit einer Prothese. Viel früher aber, am 17. September 1925, da gerät die gerade Achtzehnjährige in einen Verkehrsunfall, und die eiserne Haltestange in einer Straßenbahn in Mexico City spießt sich in ihren Körper, verletzt ihr Rückgrat, zertrümmert ihr Becken, tritt durch die Vagina wieder aus. Frida überlebt, beginnt nach Operationen und Torturen in Gips- und Streckverbänden im Liegen zu malen, steht auf, wird die Geliebte, dann die Frau des Revolutionsmalers Diego Rivera, den sie nach einer Scheidung ein zweites Mal heiratet. Wird von ihm immerzu betrogen, hat selber Liebhaberinnen und Liebhaber, einer ist Lenins ehemaliger Gefährte und Stalins Todfeind Leo Trotzki. Frida, die zeitlebens Schmerzensreiche, raucht und säuft, einen Liter Brandy am Tag, sie malt, schreibt, malt bisher nie Gemaltes in ihrer durch keinen Alkohol, keine Liebe, kein Morphium zu betäubenden Pein, sie erzählt schweinische Witze, ist eine Vollblutfrau und die Frau voller Blut: Krüppel und Diva, Märtyrerin und Mythos.

    Leiden und Leidenschaft, Politik und Revolte, glühender Kitsch und große Kunst paaren sich bei Frida Kahlo wie bei keiner Zweiten im 20. Jahrhundert. Längst ist die mexikanische Künstlerin zu einer Ikone nicht nur der internationalen Frauenbewegung geworden. Und ihr Ruhm wächst beständig. Merkwürdig ist nur: Trotz aller Literatur und Filme über Person, Werk und Leben, trotz zahlreicher Ausgaben ihrer Schriften, Briefe und ihres Tagebuchs steht die sonst so kultisch verehrte Frida bisher nicht im Ruf einer Schriftstellerin. Dabei ist ihr poetisches Talent, ist ihre Nähe zur Poesie unverkennbar.

    Man kann dies noch auf ihrem überhaupt letzten überlieferten Blatt erkennen. Es ist eine erst kürzlich entdeckte und nunmehr in Berlin und Wien erstmals ausgestellte Zeichnung aus Frida Kahlos Todesjahr 1954: Ein Selbstporträt, das ihren Kopf neben je einer untergegangenen Sonnen- und Mondkugel zeigt, und obenauf nistet eine Taube in Fridas Haar. Dieses Motiv spielt unverkennbar an auf drei Seiten am Ende ihres mit Zeichnungen, Notaten und Versen versehenen Tagebuchs, auf denen sich die schon Sterbenskranke und Amputierte wie eine geköpfte, todesengelhafte Vogelfrau darstellt und eines ihrer Lieblingsgedichte frei aus dem Kopf zitiert, Rafael Albertis "Die Taube hat sich geirrt".

    "Die Taube hat sich geirrt. / Sie irrte sich. / Um nach Norden zu gelangen, flog sie nach Süden. / Sie glaubte, der Weizen sei das Wasser. / Sie irrte sich. / Sie glaubte, das Meer sei der Himmel / und der Abend der Morgen. / Sie irrte sich."

    Manchmal irrt sich auch die Kunst- und Literaturgeschichte, wenn sie die Schriften eines Künstlers so gar nicht ebenbürtig gegenüber seinem bildnerischen Werk begreift. Eine Ausnahme mag dabei das allgemein anerkannte Universalgenie von Leonardo da Vinci sein oder die Wertschätzung Goethes, des Dichters und Ministers, Naturwissenschaftlers und Zeichners. Doch ausgerechnet Goethe hat in seinen Gesammelten Gedichten dem Kapitel mit der Überschrift "Kunst" diesen legendären Zweizeiler vorangestellt:

    "Bilde, Künstler, rede nicht! / Nur ein Hauch sei dein Gedicht!"

    Goethe selber hat sich als immer wieder reflektierender, redender und schreibender Künstler natürlich nie an sein eigenes Motto gehalten. Doch jener unfassbare "Hauch", der die Essenz eines Gedichts oder Bildnisses ausmacht, ist für den Klassiker die prometheische Inspiration, die göttliche und musische Beseelung. Daraus ließ sich indes auch die Tradition eines Künstler-Kults ableiten, der das Naive und oftmals Unpolitische zur angeblich zweiten Natur des bildenden Künstlers und ähnlich zur Eigenart etwa des Musikers oder Schauspielers zählt.

    Im sonderbar unscharfen Begriff des Malerpoeten klingt ein Unterton des lyrisch Spirituellen an, der zum Beispiel auf schreibende Künstler wie Chagall oder Cocteau zutreffen mag. Dagegen gilt selbst Vincent van Gogh bis heute nicht wirklich als literarischer Autor: trotz seiner auch in Sprachfarben glühenden Briefe.

    Ein Schriftsteller wie Henry Miller erscheint im Licht der Kunstgeschichte vergleichsweise nur als hochbegabter Hobbymaler, wie auch sein Kollege Friedrich Dürrenmatt. Als produktive artistische Grenzfälle gelten dagegen der Theatervisionär Antonin Artaud oder der philosophische Schriftsteller Pierre Klossowski mit ihren von feurigem Wahn oder von kältester erotischer Obsession bestimmten Bildern.

    Andererseits: Die Notate und Tagebücher von Paul Klee oder Max Beckmann sind zweifellos Literatur, Picasso hat auch Theaterstücke geschrieben – und die Malerin Frida Kahlo war gleichfalls eine Dichterin, Erzählerin und Sprachspielerin.

    Ihr Weltruhm gründet in den knapp 150 überlieferten Gemälden. Und ihre leibhaftige Legende wird illuminiert durch die biografische Leidensgeschichte, durch die zwischen Katastrophe und Komik schwirrende Liebeslebensverbindung mit Diego Rivera, durch Fridas Affären, Attraktionen und pittoresken Auftritte. Doch Kahlos schriftliche Äußerungen, ihre Gedichte für Freunde und Liebhaber, ihre Briefe und das bildreiche Diario, ihr 171-seitiges Tage-Malbuch, in dem Künstlerin und Autorin Hand in Hand gehen – all das firmiert die längste Zeit nur als ein Leben und Werk bekräftigendes Dokument, nicht aber als wirklich eigenständige Kunst.

    Selbst Kahlos mexikanischer Landsmann, der Schriftsteller Carlos Fuentes, hat das Literarisch-Poetische nicht ausdrücklich erkannt, obwohl er vor 15 Jahren die Einleitung zur ersten spanischen Ausgabe von Fridas Tagebuch schrieb. Mit Blick auf das Diario und auf andere Äußerungen bemerkte Fuentes gleichwohl, dass Frida Kahlo

    "die Wörter buchstäblich streichelte; in ihrem zärtlich erotischen Umgang mit der Sprache hat sie sozusagen die Klitoris der Lust in jedem Wort entdeckt"."

    Seit Hayden Herreras erster großer Lebens- und Wirkungs-Geschichte mit dem kurzen Signaltitel Frida, die 1983 in New York erschien und in die meisten Weltsprachen übersetzt wurde, haben sich zwar Biografen und vor allem Biografinnen immer wieder der mexikanischen Künstlerin als außergewöhnliche Erscheinung angenommen. Doch tritt bei all diesen Facetten fast nie die Dichterin hervor – nicht die Person, die man frei nach Virginia Woolfs berühmter Wunsch-Formel "a poet in a room of her own" nennen könnte.

    Raquel Tibol, die späte Freundin und Vertraute in Frida Kahlos letztem Lebensjahr, der als Herausgeberin die umfänglichste Sammlung von Kahlo-Texten zu verdanken ist, merkt einmal an:

    ""In Fridas Bildern mischt sich die Ölfarbe mit dem Blut ihres inneren Monologs."

    Das ist eine schöne Metapher. Jener große, lebenslange Monolog aber hat auch die Farbe der Tinte, des Stifts und des Schreibmaschinenbands auf dem Papier. Und er sucht in Fridas Schriften nicht nur das Echo der eigenen Stimme.

    Das beginnt schon mit den erstaunlich wortgewandt formulierten Briefen des jungen Mädchens an den Schulfreund und ersten Geliebten Alejandro Gómez Arias ab dem Jahr 1923. Bis zu jenem verhängnisvollen Unfall im September 1925, als eine Eisenstange den Unterleib Fridas durchbohrt, äußern die Briefe einen lebensfrohen, koketten Optimismus.



    Mit der Wirbelsäule ist diese Zukunftszuversicht gebrochen. Doch nicht zerbrochen. Den Flirt mit dem eigenen Missgeschick beherrscht das Mädchen bereits vor dem Unfall, wenn sie den oft indolenten oder wankelmütigen Freund auffordert, ihr lieber ein leeres Blatt als gar keine Antwort zu schicken. Denn selbst dieser Einfall der Einfallslosigkeit zeige ihr dann, "dass Du wenigstens an mich denkst".

    Ein Brief der Sechzehnjährigen schließt mit der zärtlich ironischen Wendung:

    "Nun, mein Herz, ich schreibe Dir. Es wird wohl sein, weil ich Dich überhaupt nicht liebe ..."

    Solcherlei spielerische Dialektik nimmt schon das Worttheater vorweg, mit dem Frida später immerzu um Mitteilungen und Gefühlsbeweise ihres ewig untreuen, wie ein großes Kind zerstreuten Mannes Diego oder auch um ihren ungarisch-amerikanischen Geliebten Nickolas Muray werben wird.

    Briefe sind ihr erstes Medium, noch längst vor der Malerei, die anfangs nur ein Ersatz ist für das geplante, doch infolge ihrer Verletzungen aufgegebene Medizinstudium. Frida muss immer wieder Wochen und manchmal Monate im Krankenbett verbringen, in fürchterlichen Streckverbänden, kopfüber aufgehängt wie ein Stück gemetzgertes Vieh, gefangen in metallenen oder ledernen Korsetts. Private Telefone gibt es noch kaum, oft ist Frida allein. Und es bleibt ihr, wenn die Schmerzen nicht übermächtig sind, nichts als zu lesen, Briefe zu schreiben – und irgendwann das Zeichnen und Malen.

    Zurückgeworfen auf sich selbst, erträumt sie die Außenwelt und hat als einziges lebendes Modell zunächst ihr Abbild in einem Spiegel, den man über ihrem Bett anbringt, mitsamt einer besonders konstruierten Staffelei, die das Malen (oder Schreiben) im Liegen ermöglicht.

    Ihr Spiegelbild hat gewiss ihren Narzissmus gefördert. Doch ist sie sich nicht nur bei den Zwei Fridas, ihrem berühmten Doppel-Autoporträt von 1939, und in weiteren Aufspaltungen der spielerischen Rolle bewusst, die immer viel mehr (und etwas anderes) darstellt als das simple Spiegelbild.

    Sie sucht, findet, formuliert in jeder Selbstvervielfältigung mindestens einen Doppelsinn: eine geheimnisvolle Untiefe schon an der Oberfläche ihrer durch blutige Nabelschnüre oder unsichtbare Spinnennetze verbundenen Symbole von Schmerz und Eros, Natur und Unglück, Gebären und Sterben.

    Noch in den letzten Tagebuch-Illustrationen und nach der Amputation ihres lebenslang schmerzenden, wundbrandigen rechten Beins stellt sie ihren Körper mit Flügeln und Wundmalen als versehrten Engel, als Torso und Taube dar, auch in Anspielungen auf die anatomischen Modelle Leonardos; und in den begleitenden Notaten beschwört sie die "Irrende Taube", das bereits zitierte Poem des vom Bürgerkrieg ins argentinische Exil getriebenen spanischen Dichters Rafael Alberti.

    Trotz Schmerzen, Drogen, Alkohol und der bereits geahnten, von ihr selbst beschworenen Todesnähe sind dies hochbewusste Gesten. Beispielsweise ist das mit dem Kohlestift ausgestrichene, amputierte Bein auf allen Blättern nie das tatsächlich rechte, sondern – wie im Spiegelbild – ihr linkes Bein.

    Frida Kahlo setzt so ein Zeichen der Selbst-Reflexion: Die symbolisch aufgeladene Spiegelung lässt sich auch als Verwandlung und Umschöpfung der eigenen Natur, als ein Stück künstlerischer Utopie oder Transzendenz lesen.

    Berühmt ist ihr häufig abgewandelter Satz:

    "Ich habe niemals Träume gemalt. Ich habe meine Realität gemalt."
    Er meint Fridas instinktive Weigerung, von den französisch-europäischen Surrealisten gleichsam kolonial vereinnahmt zu werden. Frida Kahlo behauptete, erst André Breton, der sie 1939 zu einer Mexiko-Ausstellung nach Paris eingeladen hatte und ihr eine hymnische Hommage widmete, erst Breton als Obersurrealist habe auch sie zur Surrealistin erhoben.

    In ihrem 1944 mit 37 Jahren begonnenen Diario schreibt die Malerpoetin über die "farsa de la palabra", ein Gedicht über die "Farce des Wortes", das ein kosmisches System der Zeichen, Wörter, Begriffe und Farben entwirft und mit einem Gedankensprung auch ihr eigenes tieferes Empfinden benennt:

    "Zahlen, die Ökonomie,
    die Farce des Wortes,
    die Nerven sind blau.
    Ich weiß nicht warum – auch rot,
    aber voller Farbe.
    Aus den runden Zahlen
    und den bunten Nerven
    sind die Sterne gemacht
    und die Welten sind Klang.

    Ich würde nicht
    die geringste Hoffnung hegen wollen,
    alles bewegt sich im Takt
    dessen, was der Bauch einschließt."

    Diese beiden ersten Strophen sind auch beispielhaft für Fridas im Tagebuch häufig verwendete Aufzählung und Reihung, es ist eine hochpersönliche Sammlung von Worten, Gedanken und (Bild-)Motiven. Aber das Aleatorische wirkt zugleich komponiert, spielt bewusst-unbewusst mit literarischen und bildnerischen Techniken der Moderne – zudem mit mexikanischen Mythen oder indigenen Symbolen –, die alle schon jenseits des surrealistischen Repertoires existieren. Sie färbt Begriffe ein, wie es der junge Rimbaud in seinen Gedichten tat oder der Expressionist Georg Trakl. Dieses assoziative, kombinatorische und zugleich selbstreflexive Spiel steigert Frida dann sechs Tagebuchseiten später in einer der Hymnen, die ursprünglich den Geliebten Nickolas Muray und seine grünen Augen meinte und die sie mit der später eingefügten Anfangs-Adresse camouflierend Diego Rivera gewidmet hat:

    "Mein Diego: / Spiegel der Nacht. / Deine Augen grüne Schwerter in / meinem Fleisch, wellen zwischen unseren / Händen. / Dein ganzes Du im klangerfüllten / Raum – im Schatten und im / Licht. Du wirst AUCHO- / CHROM heißen der die Farbe empfängt. Ich / CHROMOPHOR – die die Farbe gibt. / Du bist alle Kombinationen / der Zahlen, das Leben. / Mein Wunsch ist es, die Linien zu begreifen / die Form den Schatten die Bewe / gung. Du füllst an und ich empfange. / Dein Wort durchläuft den ganzen / Raum und kommt in meinen Zellen an / die meine Sterne sind und geht in / deine, die mein Licht sind."

    Frida Kahlo sagt an anderer Stelle:

    "Ich werde dir mit meinen Augen schreiben."

    Sie legt ihr poetisches, ja im Wortsinne synästhetisches Programm einmal in dieses schöne, scheinbare Paradoxon:

    "Ein Vergessen der Wörter wird die / richtige Sprache bilden, um / die Blicke unserer geschlossenen Augen zu verstehen."

    Aus solch innerer Kontemplation heraus treibt die malende, schreibende Autorin ihr Spiel oft noch weiter: gleichsam in eine emphatische écriture-peinture automatique. Deren Spuren und kulturelle Echoräume reichen vom Surrealismus über die Abstraktion in Jackson Pollocks Drip-paintings wieder zurück ins Figurative, etwa bei den kalkuliert-spontanen Leinwandattacken eines Francis Bacon. Auf Seite 47 ihres Diario notiert sich Frida Kahlo:

    "Wer würde sagen, dass Kleckse / leben und helfen zu leben? / Tinte, Blut, Geruch, / ich weiß nicht, welche Tinte ich nähme, / die ihre Spur in dieser Form / hinterlassen will. Ich respektiere ihre / Inständigkeit und werde tun / was ich kann um aus meiner / Welt zu fliehen. / tintenbefleckte Welten – Erde / frei und mein eigen, ferne Sonnen / die mich rufen weil / ich zu ihrem Kern gehöre. / Dummheiten. Was täte ich / ohne das Absurde und Flüchtige?"

    Unter all das, was jedem sozialistischen Realismus Hohn spricht, setzt Frida später mit einem anderen Stift, in weniger schwungvoller, krankheitsgezeichneter Schrift und in offener Klammer den Hinweis:

    "1953 begreife ich schon nach vielen Jahren / die materialistische Dialektik."

    Das zeigt die Idealsozialistin, die wie auch Diego Rivera ihren in der Nachtbarschaft, am Rand von Mexiko Stadt, ermordeten Freund Leo Trotzki zunächst gegen den Stalinismus und seine Handlanger verteidigt hat und sich nun mit todesnaher Verzweiflung zur Religion des real existierenden Sozialismus bekennt. Zuvor aber hatte Frida voller Überlebenssehnsucht und auch mit selbstironischem Sarkasmus jene nun doppelt wahrhaftigen Zeilen geschrieben:

    "Dummheiten. Was täte ich / ohne das Absurde und Flüchtige?"

    Naiv, obschon ihre letzten politischen Äußerungen so wirken könnten, naiv war Frida Kahlo nie. Von Anbeginn liebte sie nicht nur Menschen, Männer und Frauen. Sie ist zudem eine Liebhaberin der Bücher. Die Bilder, auch die des Kinos, folgen erst nach. Frida ist ohne Systematik und ohne Universitätsstudium durchaus gebildet. Sie ist zudem eine Autodidaktin, wie übrigens auch jener andere Maler der verletzten, zerfetzten Körper des 20. Jahrhunderts – Francis Bacon.

    Nie bloß schwärmerisch, eher nüchtern und mit sachlichem Enthusiasmus nennt sie häufig in ihren Briefen die eigenen Lektüren. Oscar Wildes Bildnis des Dorian Gray, ausgerechnet diesem Roman über das erotische und am Ende tödliche Verhältnis von Leben und Kunst, gilt die früheste Erwähnung der gerade Sechzehnjährigen. Viele Schriftsteller folgen, von Anatole France bis zum komplizierten "Don Ramón Ziegenbart" alias Valle-Inclán; sie liest offenbar früh schon Flauberts schwül-exotischen Orient-Roman Salambó, studiert merkwürdigerweise mehrfach Ibsens Drama vom herrenmenschlichen Unternehmer und Bankrotteur John Gabriel Borkman, dessen illusionären Weg seine vernichteten, verzichtenden Frauen säumen. Sie schreibt von Tolstoi, nennt im Tagebuch Petrarca und zitiert dort auf Deutsch mit einem charmanten Schreibfehler auch Brecht und den Mackie-Messer-Song aus der Dreigroschenoper: für sie das Lied vom "Haifisch".

    Filme wie Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin werden als starke Eindrücke erwähnt oder auch Fritz Langs M – Eine Stadt sucht einen Mörder – und dazu so geliebte Maler wie der "tolle" Piero della Francesca, wie Hieronymus Bosch oder Pieter Brueghel. Schon als junge Frau unterzeichnet oder figuriert Frida wiederholt als "Botticelli". Und selbst dieser Gestus wirkt nicht nur harmlos kokett, verraten doch Botticellis Frauenbildnisse immer auch das melancholisch träumerische, wenn nicht tragisch gefährdete Antlitz der Schönheit.

    In Frida Kahlos Geburts- und Sterbehaus, der "Casa Azul", dem Blauen Haus im einst am Rand von Mexico City gelegenen Stadtteil Coyoacán, findet sich im Atelier im ersten Stock ein angefangenes Stalin-Porträt neben einer Skizze der New Yorker Freiheitsstatue. Die Welt der Widersprüche. Doch außer den Bildern, den persönlichen Devotionalien bis hin zum roten Prothesenstiefelchen nahe dem Totenbett und dem präkolumbianischen Tongefäß mit Fridas Asche, beeindruckt die Besucher vor allem die Bibliothek. Sie ist von Fridas geliebten Kriminalromanen über den Goetheschen Faust bis zu Marx und Lenin oder aktuellen Geschichtsbüchern, etwa über die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse, ein Zeugnis der hispanischen, britisch-amerikanischen, französischen, deutschen und russischen Literatur: Belletristik, Kunstgeschichte, Zeitgeschichte, moderne und alte Klassiker.

    Zwei Jahre nach Kahlos fatalem Schicksalsjahr erscheint 1927 in Paris posthum der letzte Band von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, und angesichts von Fridas künftigem Leben, Schreiben, Malen muss man naturgemäß auch an Proust denken: den von Jugend an Kranken, den asthmatisch Bettlägrigen, den in der Kissengruft Schreibenden, mit aller Welt Korrespondierenden. Immer wieder ist Prousts schriftstellerisches, autobiografisch gefärbtes Werk dabei von Motiven der Maladie und der Medizin inspiriert. Brillengläser gleichen da einem Kehlkopfspiegel, ein Aufzug gleitet wie ein beweglicher Brustkorb die Wirbelsäule entlang. Und so verwundert es nicht: Prousts Suche nach der verlorenen Zeit steht Band für Band in französischen und englischen Ausgaben im Atelier in der "Casa Azul".

    Der andere, mit lebenslanger Krankheit geschlagene Jahrhundert-Schriftsteller, der einem bei Frida Kahlo in den Sinn kommt, ist natürlich Franz Kafka: nicht nur der identischen Initialen wegen. Raquel Tibol zitiert in ihrer Kahlo-Biografie einmal Kafka aus seinen Tagebüchern:

    "Ich schreibe das ganz bestimmt aus Verzweiflung über meinen Körper und über die Zukunft mit diesem Körper."

    Der Satz benennt auch Fridas Thema. Kafkas Parabel In der Strafkolonie erzählt, wie den Verurteilten das Gesetz mit einer Egge in den eigenen Leib geschrieben und getrieben wird, bis zum tödlichen Ende – zu diesem Einfall verhält sich Fridas Leben und Sterben, verhalten sich ihre Bilder und Schriften wie eine zweite, blutig poetische Parabel der Wirklichkeit.

    Wir wissen freilich nicht, ob Frida Kahlo jemals von Franz Kafka gehört oder etwas von ihm gelesen hat. In ihrer Bibliothek ist er nicht vertreten. Doch immerhin gibt es ab 1930, sechs Jahre nach Kafkas Tod, die ersten Übersetzungen von Kafka ins Englische, vom Schloss, vom Prozess und der Erzählung Die Verwandlung. Und im Spanischen erscheint in der von Ortega y Gasset herausgegebenen Zeitschrift Revista de Occidente bereits 1925 Die Verwandlung, gefolgt von weiteren Erzählungen in zuerst anonymen, später irrtümlich dem argentinischen Weltpoeten Jorge Luis Borges zugeschriebenen Übertragungen.

    Bereits 1939 wurde in Buenos Aires dann eine spanische Übersetzung des Prozess' publiziert. Überhaupt werben spanischsprachige Schriftsteller aus Lateinamerika früh für Kafkas Erzählungen und Romane im westeuropäischen und iberoamerikanischen Raum: so etwa der Kubaner Alejo Carpentier Anfang der 1930er-Jahre in Paris und neben Borges in Südamerika auch sein argentinischer Landsmann Ernesto Sabato. Trotzdem heißt es in dem von Hartmut Binder herausgegebenen Standardwerk über die weltweite Kafka-Rezeption:

    "Erst zwischen 1950 und 1960 wird Kafka in Mexiko bekannt."

    Dieser Befund mag etwas überraschend wirken, zumal angesichts der zahlreichen deutschen oder deutschkundigen Emigranten in Mexiko – zu denen bereits vor der Jahrhundertwende auch Fridas Vater, der österreichisch-ungarische Fotograf Wilhelm alias Guillermo Kahlo zählte. Tatsächlich aber setzten Kafkas Weltruhm und das im Lager des Sozialistischen Realismus sogleich folgende Verdikt gegen Kafkas "Absurdität" und "bürgerliche Dekadenz" erst in den 1950er-Jahren ein. Vielleicht hatte Frida Kahlo also Franz Kafka gekannt, ohne ihn gekannt zu haben.

    Im Tagebuch sagt Frida einmal, mit Unterstreichungen und philosophisch verblüffend modern:

    "Die Tragödie ist das / Lächerlichste, was 'der Mensch' besitzt."

    Zugleich zeigen ihre Schriften mit dem Humor der Verzweiflung, dem Pathos der Passion und dem Überlebenswitz der Leidenden und Liebenden eine äußerst formbewusste Autorin. Ohne Floskeln, ohne unbedachte, für Laien übliche Wortwiederholungen. Vielmehr kreiert Frida Kahlo in ihren Briefen voller Spontaneität, Herzlichkeit und Geistesgegenwart eine persönliche Rhetorik. Eine Rhetorik, die der literarisch formulierten wörtlichen Rede ähnelt, im Duktus der theatralischen, dramolettartigen, monologischen Überredung.

    Frida spricht die Briefadressaten in ihrer imaginären Präsenz ganz lebendig, geradezu gestisch an. Und nimmt, wenn sie jemandem ihre Erlebnisse schildert, die Vorstellungen des Lesenden ebenso wie die erwünschten oder befürchteten Reaktionen bereits vorweg, stellt reflexive Fragen, um sie (in ihrem Sinne) gleich zu beantworten. Mit ihrer schönen Kunst der zärtlichen Schlüsse, der tausend Gruß-, Kuss- und Koseformen, fügt Frida dann nach dem eigenen oder eigens poetisierten Namen häufig noch insistierende Nachworte, Wiederholungen an: als rhetorische Bekräftigungen und Steigerungen – wie Telefonierende, die vor dem 'Einhängen' mehrere Tschüss-Ciao-Adieu-Schlüsse sprechen. Oder besser noch: Wie dramatische Sänger, die sich zum Abschied, beim Sterben oder in der Liebesohnmacht noch mehrmals aufrichten und weitersingen, um das Ende hinauszuzögern, um der vergehenden Zeit noch einen letzten ewigen Augenblick abzuringen.

    Das erinnert in der poetischen Technik, die beim Erzählen die leibhaftige Rede simuliert und den dramatischen Monolog kultiviert, an die Prosa von Thomas Bernhard. Ausgerechnet Bernhard, also wieder einer, der gegen das körperliche Leid sein vielstimmig-solistisches Werk gesetzt hat. Und vergleichbar mit Bernhard läuft Frida immer zur Hochform in der Verwünschungs-Suada auf, wenn sie etwa über die tumben Reichen im "Gringoland" spottet oder gegen dünkelhafte französische Intellektuelle und eitle Großkünstler so witzig wie wütend polemisieren kann. Als Breton und seine von ihr sogenannten "Surrealistenärsche" im Vorkriegs-Paris 1939 für Frida einen schlampig vorbereiteten, nur durch Marcel Duchamps Eingreifen in letzter Minute geretteten Auftritt in der Ausstellung Mexique arrangieren, schreibt sie kurz vor der Eröffnung an den amerikanischen Fotografen Nickolas Muray:

    " ... ich bin die ganze Sache so leid, dass ich beschlossen habe, alles sausenzulassen und aus diesem beschissenen Paris abzuhauen, bevor ich durchdrehe. Du kannst Dir nicht vorstellen, was diese Leute für Kanaillen sind. Ich könnte kotzen ... Lieber hocke ich mich auf den Markt von Toluca und verkaufe Tortillas, als etwas mit diesen schäbigen Pariser 'Künstlern' zu tun zu haben. Sie sitzen stundenlang in den 'Cafés', wärmen ihre feinen Ärsche und quatschen ununterbrochen über 'Kultur', 'Kunst', 'Revolution' und so fort. Sie halten sich für Gott, fantasieren den aberwitzigsten Unsinn zusammen und verpesten die Luft mit immer neuen Theorien, die nie Wirklichkeit werden. ... So eine Scheiße! Es war sinnlos hierherzukommen, nur um zu sehen, warum Europa vor die Hunde geht und wie diese ganzen Taugenichtse den Hitlers und Mussolinis Tür und Tor öffnen."

    Das schreibt sie Mitte Februar 1939, sechseinhalb Monate vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs.

    Wir kennen also ihre Stimme und kennen sie doch nicht. Überraschenderweise existiert neben den zahlreichen Fotos und einigen wenigen Filmaufnahmen von Frida Kahlo bisher kein einziges Tondokument. Darum spricht die von sich und der Welt redende, malende Poetin, die dichtende Künstlerin allein durch ihre Bilder, Gedanken, Empfindungen auf Leinwand und Papier.

    Am Ende steht 1954 das Tagebuch. Und nachdem sie auf der letzten Textseite auf hellbuntem, aquarellierten Grund ihren Ärzten, den Krankenschwestern und selbst den Putzfrauen gedankt hat, schreibt sie:

    ""Espero alegre / la salida – y espero no volver jamás – FRIDA”"

    Freudig erwartet sie, indem sie den jüngsten, letzten Krankenhausaufenthalt meint, ihre Entlassung, und sie sagt "ich hoffe / niemals zurückzukehren". Doch "salida", der "Ausgang", kann hier das Wort Exit wie Exitus bedeuten. Diese Zeilen sind in Frida Kahlos lakonisch radikaler Hellsicht auch ihr Abschied. Der Weggang für immer.