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Delphine de Vigan: "Loyalitäten"
Fest im Griff familiärer Zwänge

Verwahrloste Schüler, verwahrloste Eltern - die französische Autorin Delphine de Vigan, bekannt für ihre schonungslosen Sozialstudien, widmet sich in ihren neuen Roman den oft falsch verstandenen „Loyalitäten“ zwischen Ehepaaren, Eltern und Kindern. Eins der finstersten Bücher dieses Herbstes.

Von Dirk Fuhrig | 28.09.2018
    Delphine de Vigan: "Loyalitäten" und ein trinkender Jugendlicher
    Aus "Loyalität" will niemand wahrhaben, dass der Schüler Théo trinkt (Buchcover: DuMont / Hintergrund: picture alliance / dpa / Jens Büttner)
    "Loyalitäten" ist eines der finstersten Bücher dieses Herbstes. Womöglich gar das deprimierendste. Ein Roman aus den Untiefen von elterlicher Vernachlässigung, Beziehungshölle und Gewalt.
    "Ich dachte, der Kleine sei misshandelt worden, (…) Es war etwas in seiner Art, sich zu halten, sich dem Blick zu entziehen, das kenne ich, das kenne ich nur zu gut. (…) Schläge habe ich als Kind selbst bekommen, und die Spuren habe ich bis zum Schluss verborgen."
    Gleich in den ersten Sätzen gibt Delphine de Vigan den Ton vor: Hier geht es um Traumata aus der Kindheit, unter denen auch die nachfolgende Generation leidet. Hélène ist Lehrerin. Ihr Schüler Théo fällt ihr auf, weil er sich im Unterricht nicht konzentrieren kann. Die Intuition scheint ihr recht zu geben. Théo wird zwar nicht geschlagen, trinkt aber, ist süchtig:
    "Er ist zwölfenhalb, und wollte er auf die Fragen, die ihm die Erwachsenen stellen, ehrlich antworten, würde er sagen: ,Ich liebe es, den Alkohol in meinem Körper zu spüren.' Erst im Mund, dieser Augenblick, wenn die Kehle die Flüssigkeit aufnimmt, und dann diese wenigen Zehntelsekunden, in denen die Wärme in seinen Magen hinuntergleitet. (…) Nach einigen Minuten explodiert etwas in seinem Hirn. (…) Einen Augenblick lang ist er der Cowboy in Reitstiefeln, der durch das Halbdunkel auf die Theke zugeht (…). Als er den Ellbogen auf den Tresen stützt und seinen Whisky bestellt, hat er das Gefühl, alles sei aufgehoben, die Angst und die Erinnerungen."
    "Loyalität" gegenüber dem depressiven Vater
    Théo ist ein Scheidungskind. Eine Woche lebt er bei seiner Mutter, die nächste bei seinem Vater, der seit dem Verlust seiner Arbeit in eine Depression gerutscht ist. Seine Wohnung ist die eines Messis, ein verdrecktes Chaos, in das sein Sohn notdürftig Ordnung bringt. Doch Théo darf den Zustand, in dem sich sein Erzeuger befindet, der Mutter nicht verraten. Eine der "Loyalitäten", auf die der Buchtitel anspielt.
    "Anfangs stellte ihm seine Mutter noch Fragen, wenn er von seinem Vater zurückkam. Sie tat völlig unschuldig, als wäre er nicht imstande, ihre Winkelzüge zu erkennen, und versuchte durch Umwege und Umschreibungen, deren Ziele ihm völlig klar waren, Informationen aus ihm herauszulocken. (…) In jener Zeit fing seine Mutter oft einfach so, ohne Vorankündigung, an zu weinen, weil sie den Deckel des Marmeladenglases nicht aufbekam, weil der Fernseher nicht mehr funktionierte, weil sie müde war."
    Théos bester Freund Mathis trinkt zwar manchmal mit, hat vordergründig aber keine Probleme. Er weiß nicht, dass sein Vater, ein gebildeter Mittelschichtler, im Internet wüste Hassbotschaften postet - ein Wutbürger, ein Rechter. Bis Mathis’ Mutter zufällig Spuren davon im Internet entdeckt:
    "Ich brauchte einige Minuten, bis mir klar wurde, dass ich einen Blog vor mir hatte. (…) Anfangs war es mir mehrere Tage lang unmöglich, irgendetwas auszusprechen, denn manche Wörter konnte ich einfach nicht über die Lippen bringen. Ja, ich konnte mir nicht vorstellen, dass Ausdrücke wie ,Kinderficker', ,Hurenschlampe', ,Kanake' (…) von meinem Mann - also dem Mann, mit dem ich seit zwanzig Jahren zusammenlebte - verwendet worden waren, und zwar in Texten, deren rassistische, antisemitische, homophobe und frauenfeindliche Tendenzen sich nicht leugnen ließen."
    Die familiären Zwänge haben die Figuren im Griff
    Dass die Ehefrau ihren Mann nicht zur Rede stellt, sondern ängstlich schweigt, fällt auch unter die "Loyalität", um die es der Autorin geht. Delphine de Vigan dringt tief ein in das, was in den zwischenmenschlichen Beziehungen oft unausgesprochen bleibt. Die familiären Zwänge haben ihre Figuren im Griff. Das könnte packend sein. Leider aber konstruiert die Autorin die Schnipsel aus dem Leben dieser traurigen Großstadtbewohner in reichlich klischeehafter Weise: Auf der einen Seite Frauen, die ihrer Intuition folgen, aber hilflos bleiben. Und auf der anderen Männer, die durchdrehen und versagen: der Depressive, der Hate-Poster, aber etwa auch der Schuldirektor, der die Befürchtungen Hélènes im Fall Théo nicht ernst nimmt.
    "Ich folgte Monsieur Nemours in sein Büro. Ruhig und mit etwas theatralisch wirkender Strenge schilderte er mir die Lage. Théo Lubins Mutter habe angerufen, um sich zu beschweren. Nicht nur hätte ich sie grundlos einbestellt, jetzt würde ich auch noch im Umkreis ihrer Wohnung herumlungern. (…) Das sei ein Fehler gewesen. Ein schwerer Fehler. Mein Verhalten behindere das reibungslose Funktionieren des öffentlichen Erziehungswesens und schade seinem Ruf."
    Die sozio-politische Ebene fehlt
    Das Buch fügt sich in eine Reihe von französischen Büchern der vergangenen Jahre, die sich um häusliche Gewalt drehen. Yasmina Rezas Beziehungsdramen etwa. Oder der erfolgreiche Roman "Dann schlaf auch du" von Leïla Slimani, der von der Ermordung zweier Kinder durch deren Kindermädchen handelt. Slimani stellt das Desinteresse am Schicksal prekärer Angestellter als Ausdruck sozialer Ungerechtigkeit dar und formuliert damit einen politischen Anspruch. In Delphine de Vigans Buch fehlt dieses sozio-politische Ebene fast ganz. Die Eltern sind unfähig, weil sie psychisch kaputt sind. Die Schüler versagen und werden auffällig, weil die Eltern sie vernachlässigen. Die Gesellschaft taucht in "Loyalitäten" nur als Dekoration auf. Das individuelle Versagen wird in grellen Farben und emotional bis an die Grenze zur Weinerlichkeit geschildert - die "soziale Frage" bleibt seltsamerweise weitgehend ausgeblendet.
    Dadurch wirkt dieses neue Buch der Erfolgsautorin eher etwas banal und schematisch, trotz der ernsten Thematik. Denn auch literarisch-sprachlich hat es wenig zu bieten. Die knappen, hämmernden Hauptsätze de Vigans behaupten Intensität, wirken aber wie dem Baukasten eines Krimi-Schreibers entnommen. Man fühlt sich an das Drehbuch für eine "Tatort"-Episode mit sozialem Touch erinnert. Dazu passt auch das Ende mit seinem Appell an die Mutterliebe, diese unzerstörbarste aller "Loyalitäten".
    Delphine de Vigan: "Loyalitäten"
    Aus dem Französischen von Doris Heinemann
    Dumont Verlag, Köln. 174 Seiten, 20 Euro.