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Delta der neun Drachen

Per Boot zu den schwimmenden Märkten und Reisblätter-Manufakturen, mit dem Fahhrad durch Bambuswälder entlang des Flussufers: Im Mekong-Delta gibt es viel zu entdecken und zu erfahren über die Geschichte des kriegsgeprägten Landes und den Alltag der einfachen Vietnamesen.

Von Lottemi Doormann | 10.07.2011
    Kapitän Nguyen Quoc Thang singt den Mekong-Blues. Es ist schwarze Nacht draußen auf dem Fluss. An Bord der traditionellen Reisbarke Le Cochinchine sitzen die Gäste nach dem Abendessen beisammen. Das Tuckern vorbeifahrender Boote ist zu hören, während der Kapitän zur Gitarre seine melancholischen Gesänge anstimmt. Die Musik heiße Ca Vong Co - wörtlich "mit dem Hals gesungen" - und sei typisch für das Mekong-Delta, sagt unser vietnamesischer Begleiter Vu Minh Anh:

    Sehr schwierig zu singen. So was wie chinesische Oper ist das. Also eine genuine Kunstform hier aus dieser Region. Das drückt das Lebensgefühl der Mekong-Menschen aus.

    Nguyen Quoc Thang fährt seit zehn Jahren als Kapitän durch das Mekong-Delta und seit einem Jahr auf diesem umgebauten Kutter, ausgestattet mit 15 Gäste-Kabinen. Er ist 32 Jahre alt, verheiratet, sein erstes Kind ist einen Monat alt.

    "In der Hauptsaison bin ich ständig unterwegs, aber ich versuche, ab und zu bei meiner Familie in My Tho zu sein. Meine Frau ist Händlerin. Sie hat in einem Kaffeeladen gearbeitet, bevor sie das Kind bekommen hat. Mein Vater ist auch Händler. Er verkauft angebrütete Enteneier. Auch früher hatten wir immer schon kleine Boote, um uns in den Flussläufen hin und her zu bewegen."

    Unzählige Nebenflüsse und Kanäle verbinden die acht großen Mündungsarme des Mekong, bevor sie sich ins Südchinesische Meer ergießen. Ein Labyrinth aus fast 10.000 Kilometern Wasserstraße. Am Morgen kündigt ein feuerroter Farbenrausch am Himmel den Sonnenaufgang an, spiegelt sich im Mekong wie glühende Lava. Früh beginnt das Leben auf dem Fluss. Mehrstöckige Hausboote tuckern vorbei und schmale, flache Boote, über und über mit Sand und Säcken beladen. Die größeren Kutter, den Bauch voller Früchte, Blumen und Pflanzen, schippern zum Schwimmenden Markt von Cai Be. Sie tragen am Bug aufgemalte Augen, um sich vor bösen Geistern zu schützen. Immer mehr Schiffe sammeln sich vor den Stelzenhäusern am Ufer, bieten Reis, Gemüse, Fische und Kleidung an. Wir steigen in Ruderboote und steuern mitten durch das bunte Treiben. Einer der Händler hat große Mengen Zuckerrüben geladen.

    "Ich heiße Lam Nham Em und bin Obsthändler. Ich lebe an der kambodschanischen Grenze, wo ich das Obst auf Plantagen kaufe. Wir fahren immer mit zwei Booten und brauchen zwei bis drei Tage, um hierher zu kommen. Wir sind Verwandte und leben auf den Booten, bis wir alles verkauft haben. Das dauert zwei bis sechs Tage. Meistens verkaufen wir an Kleinhändler, so zehn bis 20 Kilo, die es dann in ihren Geschäften weiterverkaufen. Früher habe ich auch mit Fisch gehandelt, aber das lohnt sich nicht mehr."

    Lam Nham Em ist ein schlanker Mann von 63 Jahren mit einem glatten, sonnengebräunten Gesicht. Er trägt ein helles kariertes Hemd, seine vollen kurz geschnittenen Haare sind grau. Er habe sechs Kinder, erzählt er, das älteste sei 40, das jüngste 18.

    "Ich habe meine Kindheit in Kambodscha verbracht. Früher haben wir Handel bis nach Phnom Penh getrieben, weil wir kein Land besitzen. Das ist jetzt verboten. Als ethnische Vietnamesen mussten wir vor den Roten Khmer aus Kambodscha fliehen, meine Eltern, vier Schwestern und ich. Wir haben Glück gehabt, dass wir Pol Pot nicht begegnet sind. Hier können wir leben, wie andere auch. Wir waren zu spät, um Land zu bekommen. Es ist ein hartes Leben, aber wir müssen auch nichts stehlen."

    Wir lassen den schwimmenden Markt von Cai Be hinter uns und gleiten durch ein Labyrinth von palmenbeschatteten Kanälen. Es ist eine amphibische Welt, in die wir eintauchen. Kaum zu glauben, dass in den Dörfern und Städten entlang der Flussarme 18 Millionen Menschen leben. Das fruchtbare Mekong-Delta ist die Reiskammer Vietnams, hier wachsen 60 Prozent des nationalen Bedarfs. Die gesamte Nahrung Saigons - Fleisch, Gemüse, Obst - wird im Delta produziert.

    In einer kleinen Manufaktur dicht am Ufer stellt Truong Thi Noi mit ihrer jungen Tochter Reisblätter her. Sie gart den hauchdünnen Teig auf einem Tuch über einem dampfenden Kessel, es ist extrem heiß.

    "Hier machen sie Reisblätter. Es gibt unterschiedliche Zubereitungsarten. Das sind Durianblätter, das ist eher süß, das hier hat man mit Sesam oder oft auch Erdnüssen oder Kokosnussraspeln. Das kann man auf Holzkohle aufbacken. Das ist Reismehl mit Wasser und etwas Salz. Und je nachdem, ob man es süß haben möchte, mit Kokosnuss-Saft oder mit Sesam, wird es zugefügt. Das wird dann mit aufgespanntem Tuch gedämpft, und auf Kokosnussrastern in der Sonne getrocknet. Das ist sehr mühsame Arbeit. Und wenn sie getrocknet sind, verkauft man sie als ganze Blätter, jeweils zehn, 20 Stück, oder man schneidet sie zu Nudeln."

    Die übrig gebliebenen Hülsen der Reiskörner dienen als Brennstoff; sie werden auf Reisbarken zu Ziegeleien transportiert. Alles wird verwertet, erklärt Minh Anh:

    "Und aus der Asche macht man wieder Dünger für die Reisfelder, oder man macht auch Kohle daraus. "

    Ein Stückchen weiter in der Halle stehen zwei Frauen an einem hüfthohen Bottich und verrühren den Reisbrei mit einer Melasse-Mischung aus Zuckerguss, Kokosnussraspeln und Ingwer. Eine Arbeit, die von den Frauen enorme körperliche Kraft verlangt. Daneben schüttet ein Arbeiter ungeschälte Reiskörner in eine riesige Metallschale auf erhitzten Sand, um Puffreis herzustellen. Viele dieser Reisprodukte werden exportiert, besonders nach China, Japan und Korea.

    In der dicht besiedelten Gegend von Ben Tre nähern wir uns dem Leben im Delta per Fahrrad. Wir radeln auf schmalen Pfaden, gesäumt von hoch gewachsenen Bambus- und Bananenstauden, überqueren immer wieder Kanäle auf kleinen Rundbrücken, die früher nur aus Baumstämmen bestanden. Manchmal landen wir an einem breiten Flussarm und besteigen eine lokale Fähre, auf die gerade unsere Räder und eine Handvoll Menschen passen. Unter den Passagieren ist Hung, 33 Jahre alt, er spricht ein wenig Englisch:

    "Der Fährmann bringt die Dorfbewohner jeden Tag auf die andere Seite, von
    morgens um sechs bis abends um sechs. Von hier sind es 55 Kilometer bis
    zur Mündung und 170 Kilometer bis zur Grenze zwischen Vietnam und Kambodscha. Drüben ist eine Kokosnussfabrik. Dieser Ort ist bekannt für seine vielen Kokospalmen."

    40 Millionen Kokosnüsse, ergänzt Minh Anh, werden jährlich exportiert.

    Es ist Mittagszeit und glutheiß. Die Sonne brennt senkrecht vom Himmel, beim Radeln fühlt sich der Fahrtwind wie ein heißer Föhn an. Oft ist die Straße so schmal, dass kaum Mopeds an uns vorbeikommen. Wir passieren Bambushäuser mit Veranden, vor denen die Bewohner Reis zum Trocknen ausgelegt oder Fischernetze aufgespannt haben. Frauen mit Spitzhüten aus Palmblättern schieben schwere Verkaufskarren. Mädchen in Schuluniform - ein weißes traditionelles Ao-Dai-Gewand - gondeln vorbei und schauen aus wie Prinzessinnen. In einem verwilderten Obstgarten sitzt eine Frau mittleren Alters auf einem winzigen Plastikhocker vor ihrem Haus. Sie trägt einen Sarong und Gummisandalen.

    "Ich heiße Yin und habe zwei Kinder. Mein Mann ist vor Kurzem verstorben. Ich habe 1000 Quadratmeter Land, aber das Obst, das ich anbaue, reicht nicht für meinen Lebensunterhalt. Deshalb arbeite ich als Tagelöhnerin auf fremden Feldern. Hauptsächlich zupfe ich in Obstgärten Unkraut aus, manchmal arbeite ich auch auf Reisfeldern. Ich finde höchstens an 15 Tagen im Monat Arbeit und verdiene am Tag etwa 50.000 Dong - das sind umgerechnet knapp 2 Euro. Ich bin jetzt 43 Jahre alt, meine Tochter ist 22 und mein Sohn 17. "

    Ihre großen Kinder, die sind ihre ganze Hoffnung für die Zukunft.

    Etwas später trinken wir, völlig verschwitzt, an einer Imbissbude Ananas- und Zuckerrohrsaft. Und stoßen hinter der Bude auf ein Kriegerdenkmal, das an eine siegreiche Schlacht während des Vietnamkrieges im April 1974 erinnert. Die üppigen Kokosnusshaine und Bananenpflanzen täuschen darüber hinweg, dass das von den Amerikanern versprühte Giftgas Agent Orange den Regenwald zerstörte, den Boden mit Dioxin verseuchte und furchtbares Leid über die Delta-Bewohner brachte. Ein Leid, das bis heute schlimmste genetische Folgen für die Nachkommen hat. Immer noch werden grauenhaft verkrüppelte Kinder geboren.

    Minh Anh, unser Begleiter, ist 1975 kurz vor Kriegsende nahe Saigon auf die Welt gekommen. 1986, als er 11 Jahre alt war, ist er auf der Cap Anamur nach Deutschland geflüchtet.

    "Die Lebenssituation nach '75, nach der Wiedervereinigung des Landes, war sehr schwierig. Menschen, die für das alte Regime gearbeitet haben - zum Beispiel mein Vater beim Militär -, die litten unter Repressalien. Meine Eltern sind Katholiken, die aus dem Norden in den Süden geflüchtet sind. Die Lebenssituation der Katholiken war allgemein schwierig. Es kam zu einer Fluchtbewegung."

    Minh Anh, seine Eltern und seine vier Geschwister sind nach gescheiterten Fluchtversuchen mehrmals im Gefängnis gewesen. Die Kinder blieben bei ihren Müttern und kamen nach sechs Monaten wieder nach Hause.

    "Für uns als Kinder, für mich war das fast wie Routine, diese Fluchtversuche immer wieder. Was mich mehr geprägt hat, war eher die Flucht. Bei meiner letzten Flucht 1986, die ging direkt von Saigon in kleinen Booten in Nacht- und Nebel-Aktion zu dem Mutterschiff und nach drei Tagen und drei Nächten vom Cap Anamur-Schiff gerettet, die damals im Südchinesischen Meer Bootsflüchtlinge aufgenommen haben. Das ist sehr stark in der Erinnerung geblieben. Das Verhalten der Menschen, wenn sie immer Hunger haben. Selbst auf der Cap Anamur, wo es sehr wenig zu essen gab, wo man rationieren musste, wie die Menschen sich verhalten, sich ändern auch. Wir sind ja ohne Eltern nach Deutschland gekommen. Meine Schwester war ein Jahr jünger als ich, und wir wurden beide von einem kinderlosen Ehepaar als Pflegekinder aufgenommen. Wir sind zusammen geblieben, bis zur Familienzusammenführung."

    Minh Anh und seine Schwester hatten Glück mit ihrer Pflegefamilie. Sie wurden sehr gefördert, machten beide Abitur. Minh Anh studierte in Marburg und wollte damals Diplomat werden. Als Vietnam sich öffnete, entschied er sich 2004, in seine ursprüngliche Heimat zurückzukehren. Heute leitet er eine erfolgreiche Tourismus-Agentur in Saigon.

    "Durch meine Erziehung, das Aufwachsen in Deutschland bei den Pflegeeltern fühle ich mich in der deutschen Kultur, der deutschen Sprache mehr zu Hause. Und fühle mich gleichzeitig Vietnam sehr zugehörig. Dem Land sehr nahe."

    Um dem Leben im Delta ganz nahe zu sein, ist es am schönsten, zu Fuß an den Kanälen entlang zu spazieren. Kleine Häuser säumen den Pfad im Dorf Chibe. Ein Gartentor ist mit knallbunten Girlanden und roten Herzen für eine Hochzeit verziert. Eine alte Frau geht anmutig einen Steg zum Ufer hinunter, um Wasser zu schöpfen. Ein Schwein liegt angebunden am Wegesrand, Hähne krähen, Grillen zirpen, und nach einer Weile stehen wir vor Mr. Kiet's Historical House, einem prachtvollen traditionellen Anwesen. 1838 habe es der Urgroßvater ihres Mannes gekauft, erzählt Lechi Chinh, 45 Jahre alt.

    Es war eine recht wohlhabende Familie, die vor 173 Jahren das alte Haus erworben und ausgebaut hat. Jetzt lebt die vierte Generation hier. Wir sind fünf Personen, meine 90-jährige Schwiegermutter, mein Mann, meine beiden Kinder und ich. 2002 ist das Haus von einer japanischen Entwicklungshilfe-Organisation gründlich restauriert worden, seit 2004 ist es als Unesco-Weltkulturerbe anerkannt.

    Und Lechi Chinh fügt noch hinzu, dass man in ihrem Haus für 25 Dollar pro Person übernachten könne, inklusive Abendessen und Frühstück.

    Für uns aber ist es nun Zeit, vom Mekong-Delta Abschied zu nehmen und nach Saigon zurückzufahren. Auf der neuen vierspurigen Autobahn, die in den letzten Jahren mitten durch die Reisfelder des Deltas gebaut wurde, dauert die Fahrt von Ben Tre nach Saigon jetzt nur noch eineinhalb Stunden. Ein größerer Kontrast zwischen der Welt der Kleinbauern, Händler, Bootsfahrer, die wir in den letzten Tagen kennen gelernt haben, und der boomenden Acht-Millionen-Metropole mit ihren Hochhaustürmen, dem Zentrum des vietnamesischen Wirtschaftswunders, ist kaum denkbar. Noch ist der Fortschritt in der Lebensweise der Delta-Menschen nicht angekommen. Wer sich die Zeit nimmt, zu Fuß oder per Fahrrad in den kleinen Orten dieser faszinierenden Flusslandschaft unterwegs zu sein, der erlebt noch ein bilderbuchschönes Asien.