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Demokratie
Die Angst vor Freiheit und Verantwortung überwinden

Die westlichen Demokratien, die liberalen Gesellschaften sind in Gefahr, so sieht es Carlo Strenger in seinem Buch "Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten". Er will sie verteidigen, indem er die Freiheit wiederentdecken lässt. Freiheit mache vielen Menschen Angst - sie zu nutzen und Verantwortung zu übernehmen, müsse neu gelernt und gelehrt werden.

Von Tamara Tischendorf | 10.04.2017
    Besucher gehen am 23.03.2017 über eine Treppe mit den Schriftzug "Für das Wort und die Freiheit" auf der Buchmesse in Leipzig.
    Freiheit ist eine existenzielle Aufgabe des Menschen, die seit Jahrhunderten gegenüber der Obrigkeit eingefordert wird (dpa / Jan Woitas)
    Uns geht es zu gut. Das ist schlecht - diagnostiziert Carlo Strenger in seiner jüngsten Werbeschrift für die westliche Freiheit. Viele Bürger westlich-liberaler Gesellschaften seien kaum mehr in der Lage, für ihre Grundwerte einzutreten. So bringt der Psychologe die "Malaise des Westens" auf den Punkt. Das Hauptproblem: Freiheit und andere zentrale Errungenschaften der Moderne gelten vielen schlicht als selbstverständlich:
    "Diese Verwöhn- und Konsummentalität ist das Resultat einer höchst unwahrscheinlichen historischen Periode. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs genoss der Westen Jahrzehnte des wirtschaftlichen Wachstums und des technologischen Fortschritts, wie es sie in der menschlichen Geschichte nie zuvor gegeben hatte. In dieser Zeit sind drei Generationen herangewachsen, deren Angehörige die freiheitliche Ordnung als gegeben voraussetzen. Glück halten sie für etwas, auf das jeder Einzelne ein Anrecht hat, und wem es verwehrt wird, der wendet sich mit der Forderung nach einem besseren Leben an die Eltern oder 'die Gesellschaft.'"
    Schon im Vorwort des in zwei Kapitel unterteilten Essays deutet sich die existenzial-psychologische Perspektive an, die Strenger in seinem Buch konsequent durchhält. Im ersten Kapitel analysiert der Philosoph und Psychologe die Schwächen des Westens. Anders als pessimistische Kulturkritiker - wie zum Beispiel die Schriftsteller Michel Houellebecq oder David Foster Wallace - liefert er eine Tiefendiagnose zum Unbehagen an der westlichen Kultur. Zudem hält er die moderne, offene Gesellschaft für unbedingt verteidigenswert.
    Freiheit ist eine existenzielle Aufgabe des Menschen
    Und so dreht sich das zweite Kapitel um "moderne Tragiker" von Baudelaire bis Scorsese. Deren Werke könnten dabei behilflich sein, sich mit der Freiheit anzufreunden, meint Carlo Strenger. Das sei auch dringend nötig, denn Freiheit sei eine äußerst ambivalente Angelegenheit:
    "Wir sind eine Generation, die ein enormes Geschenk bekommen hat. Wir sind in eine Ordnung hineingeboren, in der uns niemand zwingt, an etwas zu glauben, in der wir sein können, wer wir wollen, unsere sexuelle Orientierung, unsere politischen Überzeugungen, unsere religiösen Überzeugungen sind unsere Privatsache. Das ist nicht nur ein Geschenk, das ist auch eine enorme Verantwortung und viele Menschen kommen mit dieser Verantwortung nicht so leicht zurecht."
    Freiheit als permanente, existenzielle Aufgabe: Für Lebenssinn muss jeder selber sorgen - der Preis der Moderne sei die "existenzielle Unbehaustheit." Keine neuen Gedanken, aber Strenger macht sie fruchtbar für die Gegenwart.
    "Wie die großen existenzialistischen Denker der Vergangenheit bin ich der Ansicht, dass die menschliche Existenz grundsätzlich tragisch ist. Wir sind das unmögliche Tier, ein leibliches, verletzliches Wesen, das altert und irgendwann stirbt. Im Gegensatz zu allen anderen Tieren sind wir zum Bewusstsein unserer Freiheit und Endlichkeit verdammt, können mit diesem Bewusstsein aber nicht wirklich leben."
    Wer Angst vor Freiheit hat, ist anfällig für Populismus und Extremismus
    Auch Anfang des 21. Jahrhunderts, argumentiert Strenger, bräuchte es deshalb existenzielle Anstrengungen jenseits von Sport und Diät. Die Tragik der menschlichen Existenz zu leugnen, schwäche die westliche Kultur, besagt eine seiner Grund-Thesen. Wer daran scheitert, die Möglichkeiten des freien Lebens aktiv auszufüllen und sich mit den Grenzen des Möglichen abzufinden, sei anfällig für autoritäre Strukturen und geschlossene Weltbilder. Carlo Strenger:
    "Die Menschen fragen sich: Wie können wir wieder in einer sichereren Welt leben und erwarten von irgendjemandem magische Antworten. Und leider Gottes ist es nun so, dass vor allem die Rechtspopulisten dazu tendieren, magische Antworten zu geben für komplexe Probleme, die einfach keine einfachen Lösungen haben. Und deswegen befürchte ich sehr, dass unsere freiheitliche Ordnung, die sehr komplex ist, leider in Gefahr ist."
    Nicht nur von Seiten der Rechtspopulisten, auch von Seiten islamistischer Fundamentalisten sind die westlich-liberalen Gesellschaften bedroht - aus ähnlichen Gründen, schreibt Strenger:
    "Was viele Menschen zu Terroristen macht, ist weder Armut noch Verzweiflung, sondern ein tiefes Bedürfnis nach einem absoluten Lebenssinn. [...] Wir müssen uns [...] darüber im Klaren sein, dass die tiefste Motivation für unmenschliche Handlungen die Furcht vor der Freiheit ist."
    Freiheitserziehung ist ein Muss
    Dem überfrachteten Einzelnen und der offenen Gesellschaft bietet er sogar einen Wegweiser, wie umzugehen wäre mit dem "Schmerz der Freiheit":
    "Freiheitliche Erziehung ist kein Luxus, sondern die Bedingung dafür, dass unsere Freiheit die zahlreichen Stresstests der Gegenwart bestehen kann."
    Schulen und Universitäten sieht er in der Pflicht, gefestigte Staatsbürger heranzubilden. Das Ziel einer umfassenden Bildung: Die Tragik des menschlichen Daseins ästhetisch, philosophisch und psychologisch auszuloten - ganz ohne religiöse Vorzeichen. Die beste Vorlage in Sachen Freiheitsgymnastik hat Carlo Strenger mit seinem anregenden neuen Buch selbst geliefert.
    Carlo Strenger: "Abenteuer Freiheit. Ein Wegweiser für unsichere Zeiten"
    Suhrkamp Verlag, 122 Seiten, 14,00 Euro.