Dienstag, 19. März 2024

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Demokratie-Sprechstunde
"Mehr im Kleinen tun, als besorgt auf das Große zu achten"

Die Gründe, warum Menschen nicht wählen, sind vielfältig. Einer ist, dass sie das Gefühl haben, mit ihrer Entscheidung sowieso nichts verändern können. Autor Richard Fuchs sprach mit Bürgern auf dem Bochumer Theaterplatz darüber, ob Demokratie eigentlich ein Geschenk ist.

Von Richard Fuchs | 14.09.2017
    Richard Fuchs mit seiner Demokratie-Sprechstunde in Bochum
    Richard Fuchs wollte während der Demokratie-Sprechstunde vor dem Schauspielhaus in Bochum wissen, wie es um die Demokratie bestellt ist (Richard Fuchs)
    Ich habe Begriffe wie Krisen, Hass und Hetze im Kopf, als ich den großen Schirmständer auf den Theatervorplatz rolle - und im Anschluss den orangefarbenen Gartenschirm darin positioniere. Ich denke an Menschen, die mich bei anderen Gelegenheiten als Vertreter der Lügenpresse beschimpft haben, während ich unter dem Schirm meinen Holztisch aufklappe und zurechtrücke. Davor kommen noch zwei mannsgroße Schilder mit dem Titel "Demokratie-Sprechstunde". Fertig ist der Aufbau!
    Wenige Minuten später sitzt mir eine ältere Frau gegenüber, eine Rentnerin, die gerne anonym bleiben möchte. Ich frage Sie: wie geht es der Demokratie derzeit?
    "Ich finde, dass es ihr nicht sehr gut geht. Also ich sehe das zum Beispiel daran, dass ich bereit bin, ihnen meine Meinung zu dem Thema zu äußern, weil ich wohl das Gefühl habe, ich werde nicht oft genug gefragt - oder Meinungen zählen wenig."
    Bundestag sei nicht die Stimme des Volkes
    Der Redebedarf ist groß, sehr groß. Auch so genannte Reichsbürger, die das Grundgesetz ablehnen, sitzen mir gegenüber, darunter ein Mann mittleren Alters, mit natürlicher Glatze und Jeanskleidung trotz Hitze.
    "Wie wichtig ist ihnen das Grundgesetz?" "Das Grundgesetz ist keine Verfassung." "Gehen Sie im September wählen?" "Seien Sie mir bitte nicht böse mit dem Zynismus: Wenn Wahlen dazu dienen würden, etwas zu verändern, dann wären sie bereits verboten!"
    Ich bin erschöpft - vom Zuhören! Und einige Stimmen dieses Tages hallen in meinem Kopf nach, während ich zusammenräume.
    "So wie der Bundestag arbeitet zum Beispiel und entscheidet, denke ich, dass das nicht wirklich demokratisch ist. Es ist nicht die Stimme des Volkes, die vertreten wird, sondern es sind Lobbyisten, die sehr viel ihre Interessen vertreten. Und die Abgeordneten nicken zum Teil ab."
    "Ich gehe davon aus, dass die breite Masse das gleiche Gefühl hat wie ich: Es ist egal, was ich wähle. Wähle ich SPD, bekomme ich die Agenda 2010. Wähle ich die CDU, wird die Agenda 2010 verteidigt. Wähle ich die Grünen hoffe ich auf was Besseres, aber die werden genau das machen, was ihr großer Koalitionspartner macht. Und von der FDP brauchen wir nicht anzufangen. Von daher gehe ich davon aus, dass viele Leute einfach sagen "es ist egal was ich wähle. Am Ende wird sowieso immer das Gleiche gemacht."
    Ärzte mit knappem Budget
    "Es wird völlig unterschiedlich gesehen: Einige nehmen die Demokratie wahr und andere nehmen sie nicht so wahr und glauben wohl auch nicht richtig dran."
    Eine ältere Frau humpelt mit einer Krücke an mir vorbei. Ihr Gesicht wirkt schmerzverzerrt - ihre kurze Locken-Frisur: zerzaust. Ihr Blick fällt auf mein Schild und ihr Frust entlädt sich - wie ein Gewitter. Über das Gesundheitssystem, über die Politik und über die Flüchtlinge, die an den knappen Arztbudgets schuld seien.
    "Ich bin am Samstag aus dem Krankenhaus gekommen nach einer Knieoperation, neues Kniegelenk. Ich brauche Krankengymnastik. Er kann mir keine mehr aufschreiben. Jetzt laufe ich rum, ohne Krankengymnastik. Das ist unsere Demokratie heute. Also, dass sich mein Mann schon umgedreht hat, versteh ich jetzt." "Was heißt rumgedreht?" "Der war SPD und heute steht er zu den anderen." "Also zu den anderen heißt zur AfD." "Ja genau."
    Lehramtsstudent Mohamed-Ali Saidi
    Lehramtsstudent Mohamed-Ali Saidi sagt, dass Demokratie mit Abstand das höchste Gut in einer Gesellschaft sei (Richard Fuchs)
    Ich denke über populistische Parteien nach. Ihre einfachen politischen Antworten für eine immer komplexere Welt. Weniger Flüchtlinge, gleich weniger Engpässe im Gesundheitssystem, könnte ein solcher Slogan lauten. Eingängig, prägnant und doch in dieser Form: nicht mit Fakten zu belegen. Dann radelt Mohamed-Ali Saidi am Theatervorplatz vorbei, hält an und setzt sich für ein paar Minuten zu mir. Der 27-Jährige ist Lehramtsstudent für Geschichte und Geografie. Ein junger Mann, blaue Basketball-Mütze, gut gepflegter 20-Tage-Bart, weißes Hemd und braune Shorts. Er ist deutscher mit arabischen Wurzeln. Sein Plädoyer für die demokratischen Werte in diesem Land: leidenschaftlich.
    Demokratie beginnt bei uns
    "Mit dem Blick auf heute gelenkt, würde ich für mich feststellen, dass wir eine Demokratie leben und erleben dürfen, die es tatsächlich so auch noch nicht gegeben hat. Und ich finde, dass das mit Abstand das höchste Gut in einer Gesellschaft ist, nicht dafür belangt zu werden, für das was man denkt oder sagt, sondern, dass man die Möglichkeit bekommt, mit dem, wofür mein einsteht, mit dem auch in der Gesellschaft etwas darzustellen."
    Eine Woche Demokratie-Sprechstunde. Rund 80 Gespräche, zwischen fünf Minuten und zwei Stunden. Und was gilt es jetzt zu tun - mit der Demokratie - mit uns? Vorschläge habe ich einige gesammelt. Die allermeisten dieser Vorschläge beginnen nicht irgendwo: sondern bei uns. Ein Bochumer, Mitte 50 vielleicht, erklärt mir dazu:
    "Ich denke mir, dass es mehr hilft, entspannter mit extremen Gedanken umzugehen, als verängstigt." "Was würden Sie mir denn raten?" "Mehr Grundzuversicht, würde ich Ihnen raten. Und mehr jedenfalls im Kleinen tun, als besorgt auf das Große zu achten."