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Demokratiekritik
Zwischen Politikverdrossenheit und Konsultativräten

Von vielen Seiten wird derzeit eine Krise der Demokratie konstatiert. Für die einen ist das parlamentarische System schon am Ende und nicht mehr zu retten, andere suchen nach Möglichkeiten es weiterzuentwickeln. Genau diese beiden Pole spiegeln sich auch in zwei Büchern, die gerade erschienen sind.

Von Stefan Maas | 18.04.2016
    Claus Leggewie / Patrizia Nanz: "Die Konsultative. Mehr Demokratie durch Bürgerbeteiligung." Wagenbach, 112 Seiten, 9,90 Euro
    Wolfgang Koschnick: "Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr. Abschied von einer Illusion." Westend Verlag, 256 Seiten, 17,99 Euro
    Eines haben die beiden Bücher gemeinsam: den Anlass.
    Die Autoren diagnostizieren einen Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in das System der repräsentativen Demokratie. Die praktische Forschungsarbeit zeige, sagt Politikwissenschaftler Claus Leggewie, "dass in der Gesellschaft zum einen diese Postdemokratiehaltung da ist, im Grunde genommen geht gar nichts mehr in dieser Demokratie. Man ist eingeklemmt zwischen der Alternativlosigkeit bestimmter Vorgaben wie die Finanzkrise und auf der anderen Seite der populistische Zerstörungsanstoß, der eben kommt, das ganze System irgendwie verrotten zu lassen."
    Doch wählen die Autoren sehr unterschiedliche Ansätze für Ihre Bücher. Wolfgang Koschnick, Journalist und früher unter anderem Leiter der Auslandsabteilung im Institut für Demoskopie Allensbach entscheidet sich dafür, in seinem Buch "Eine Demokratie haben wir schon lange nicht mehr" weitestgehend auf der Stelle zu treten. Der Autor selbst nennt das eine "genaue Analyse" der Situation. Seine Kernthesen, die auf früheren Artikeln basieren und auch ein wesentlich schmaleres Bändchen gerechtfertigt hätten, breitet er auf rund 290 Seiten aus. Koschnick hat die Ursache für diesen Vertrauensverlust schnell ausgemacht. Da ist zum einen die, wie er schreibt, "Kaste" der Politiker. Abgehoben, intellektuell und auch sonst bestenfalls medioker, grundsätzlich unfähig in einen ordentlichen Beruf zu arbeiten, echte Leistung zu bringen, wie Koschnick schreibt, und damit perfekt geeignet für die Ochsentour, die einem eine politische Laufbahn abverlangt.
    Parteien als Klotz am Bein der Demokratie
    "Wer ein politisches Amt anstrebt, braucht einen sehr langen Atem und möglichst auch ein gerüttelt Maß an Immobilität ..." Sonst kann man ja nichts werden im heimischen Ortsverein. Allerdings, schließt der Autor: "Hohe Mobilität gilt im Berufsleben als Qualifikationsindiz. Das bedeutet auch umgekehrt: Wer schon in jungen Jahren sesshaft an einem Ort festhängt, ist auch sonst wohl ziemlich träge. (…) Der Grundstein für eine Parteikarriere wird mit dem Arsch gelegt, wie viel besser wäre es doch um das Ansehen der Politiker gestellt, wenn man sagen könnte, der Kopf spiele dabei die entscheidende Rolle."
    Fast die einzige Fähigkeit, die Koschnick Politikern zugesteht, ist das Manipulieren, um sich selbst und ihren Parteien – übrigens laut Koschnick – der "größte Klotz am Bein der Demokratie" und "die letzten Dinosaurier" - einen Vorteil zu beschaffen. Haben es die Mittelmäßigen also irgendwann geschafft, sich nach oben zu netzwerken und sind vielleicht sogar im Bundestag gelandet, nutzen sie die jahrelang trainierte Fähigkeit, um sich und ihren Parteien die Taschen mit Steuergeld vollzumachen. Das heißt, wenn sie nicht gerade damit beschäftigt sind, ohne die geringste Ahnung und ohne jedes Interesse am Thema, einfach abzunicken, was die Regierung ihnen vorlegt. Warum, fragt der Autor, braucht der Bundestag dafür überhaupt so viele Mitarbeiter?
    Holzschnittartig jedes Klischee bedient
    "Um Regierungsbeschlüsse abzunicken, bräuchte man ja nichts mehr als ein paar Marionetten mit gut geschmierten Nickgelenken als Halswirbel." Da kommt es schon fast einer kleinen Begnadigung gleich, dass Koschnick feststellt, eigentlich könnten die Politiker gar nicht anders. Sie sind ja nur Helfershelfer. Schuld an allem ist – so der Autor - eigentlich das aktuelle System selbst. "Ihren Zenit haben die entwickelten repräsentativen Demokratien auf jeden Fall längst überschritten."
    Leider macht sich der Journalist nicht die Mühe groß auszuführen, welches System er denn für eine erfolgversprechende Alternative hält – oder wie sich das aktuelle verbessern ließe. Der direkten Demokratie widmet er immerhin ein paar wenige Seiten zum Schluss. Allzu viel Raum gibt er diesem Aspekt aber nicht, geht es ihm ja nach eigenen Aussagen ohnehin eher um eine "genaue Analyse" des Problems. Dieser widmet sich Koschnick mit so unverhohlener Politik- und Politikerverachtung und bedient holzschnittartig jedes Klischee, dass dabei leicht untergeht, wenn der Autor durchaus auch einige bedenkenswerte Punkte anspricht – vor allem in der zweiten Hälfte des Buches: Die oft schwierige Abgrenzung von Politik und Wirtschaft etwa, Subventionen oder Wahlversprechen auf Kosten zukünftiger Generationen. Leser, die zum Thema Zukunft der Demokratie einen nach vorne gewandten, konstruktiven Ansatz suchen, statt einen zu Papier und Druckerschwärze erstarrten Pegida-Marsch, werden eher bei Patrizia Nanz und Claus Leggewie fündig werden. Die beiden Politikwissenschaftler wollen, anders als es bei Koschnick anklingt, nicht am System der repräsentativen Demokratie rütteln, sie wollen es vielmehr ergänzen. Denn, so Leggewie, der Wunsch vieler Bürger, sich politisch zu engagieren, sei deutlich spürbar.
    "Konsultative" als vierte Gewalt
    "Vielleicht nicht mehr in politischen Parteien, vielleicht nicht mehr in politischen Institutionen, sondern in neuen Einrichtungen." Eine solche, schreiben die beiden, könnte sein, was sie "die Konsultative" nennen. Diese wollen sie als "vierte Gewalt" Legislative, Exekutive und Judikative zur Seite stellen. "Dazu soll eine breite und tief gehende Konsultation der Bürgerschaft dem Gesetzgebungs- und Entscheidungsverfahren vorangestellt und nachgeordnet werden. Diese Konsultative ist keine neue Außerparlamentarische Opposition (…) und per se keine Beschränkung der etablierten Gewalten. Vielmehr soll sie die Parlamente stärken, die gerade mächtig unter Druck stehen und an Glaubwürdigkeit und Ansehen verlieren. Und sie soll den staatlichen Bürokratien zeigen, dass ihre sozialen, ökonomischen und kulturellen Projekte nur mit, nicht ohne oder gar gegen die informierten Bürger gelingen können."
    Anders als bei vielen lokalen Bürgerinitiativen, die sich anlässlich eines bestimmten Projekts gründen, meistens um es zu verhindern, und anschließend wieder verschwinden, schwebt Nanz und Leggewie eine institutionalisierte Form der Beteiligung auf allen Ebenen – von der lokalen bis zur europäischen - vor. "Das konsultative Gremium hat kein imperatives Mandat wie strenge Formen des Volksentscheids, aber sie ist auch kein unverbindliches Palaver, das man mit dem schönen Schlusswort, Gut, dass wir geredet haben‘ zurück in die Ohnmacht entlässt."
    Für eine Zukunft des demokratischen Systems
    Politiker sollen den so genannten Zukunftsräten etwa Rede und Antwort stehen müssen, die Räte ein professionelles Organisationsteam besitzen. Die Mitglieder jedoch sollen Laien sein, deren Amtszeit auf maximal zwei Jahre begrenzt ist. Denn Skepsis gegenüber festen Institutionen und ihren auf lange Dauer gewählten Mitgliedern sei ja gerade der Kern des Problems, schreiben die Autoren. Da brauche es keine weitere Institution. Und noch etwas sollen die Räte erfüllen, sagt Patrizia Nanz, was Institutionen wie der Bundestag längst nicht mehr tun, wie auch Wolfgang Koschnick in seinem Buch beklagt: Patrizia Nanz: "Das Ideal wäre, ein Zukunftsrat, der annäherungsweise die Wahlbevölkerung einer bestimmten Gemeinde oder Region abbildet."
    Die Konsultative: Ein interessantes Gedankenspiel, das, wie das Buch zeigt, in Ansätzen schon in der Praxis Anwendung findet. Mit einigem Erfolg.
    Eine große Herausforderung bei der Umsetzung in die Praxis bliebe natürlich, dass die in demokratischen Wahlen bestimmten, etablierten Volksvertreter die neuen Volksvertreter auch wirklich als solche anerkennen müssten. Sonst blieben die Räte eben doch ein folgenloses Palaver und damit irrelevant. Das aber würde die Enttäuschung und Frustration der Bürger noch potenzieren.
    Die Konsultative ist ein schmales Buch, gerade einmal neunzig Seiten, ist in einem Rutsch gelesen und eine geeignete Lektüre für Leser, die sich für eine mögliche Zukunft des heutigen demokratischen Systems interessieren – und es nicht schon längst aufgegeben haben.