Mittwoch, 24. April 2024

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Demontage der Menschenwürde

Für den Philosophen Norbert Bolz von TU Berlin ist die umstrittene niederländische Organspende-TV-Show "ein Extrem, das kaum noch zu überbieten ist". Es zeige sich aber auch, dass das, was allen Menschen in ihrem moralischen Urteil verwerflich erscheine, damit noch keineswegs uninteressant werde: "Ganz im Gegenteil, es wird sogar wahnsinnig interessant."

Moderation: Christoph Schmitz | 29.05.2007
    Christoph Schmitz: Überleben im Dschungel, Baden in Maden und Insekten - Ekelshows sind Alltag im Kommerzfernsehen. Angefangen hatten solche Reality-Show-Laboratorien mit der Containersendung "Big Brother" 1999 der niederländischen TV-Produktionsfirma Endemol. Am kommenden Freitag soll es nun im niederländischen Fernsehen die große Organspender-Show aus dem Hause Endemol geben. Drei Nierenkranke versuchen, von einer jungen Frau, die an einem tödlichen Gehirntumor leidet, eine Spenderniere zu bekommen. Die 37-jährige Spenderin soll die drei Dialysepatienten kennen lernen, deren Leben werden in Porträts ausgebreitet, Familienangehörige und Freunde öffentlich befragt. Am Ende soll die Spenderin entscheiden, wer eine ihrer Nieren bekommt. Heute debattierte das Parlament in Den Haag über die geplante Sendung. Die Christdemokraten wollen sie verbieten, die Sozialdemokraten wollen lieber nichts unternehmen. Eine Sterbende entscheidet über Leben und Tod anderer. Und wir sind beim realen Todes- oder Lebensurteil dabei. Gibt es in der radikal aufgeklärten Mediengesellschaft eine archaische Tendenz, habe ich den Philosophen und Medienwissenschaftler Norbert Bolz von TU Berlin gefragt.

    Norbert Bolz: Sofern es um die absolut letzten und ultimativen Fragen geht, wie Leben und Tod und die Herrschaft über Leben und Tod, das ist absolut richtig. Archaisch auch insofern, als offenbar der letzte Schauplatz, auf dem die Menschen sich noch Sinn und verbindliche Werte vergegenwärtigen können, der eigene Körper ist. Also insofern ist das schon ein Extrem, das kaum noch zu überbieten ist.

    Schmitz: Ist denn die Todesbotschaft, der Todesatem mittels TV dennoch nur vielleicht ein Surrogat für eine moderierte Gesellschaft, wie das Botho Strauß formuliert hatte, für eine harmlose und saturierte Gesellschaft?

    Bolz: Also ich kann dem im Grunde keine Harmlosigkeit entnehmen. Ich finde, was sich hier doch sehr, sehr deutlich zeigt, ist, dass es im Grunde keine Maßstäbe gibt mehr, an denen man so etwas wie ein Tabu definieren könnte und dass im Grunde die große, permanent diskutierte Thematik der Menschenwürde hier ihre scheußliche Rückseite zeigt, nämlich dass wir schlechterdings keine Kriterien dafür haben mehr in der modernen Gesellschaft, wo die Menschenwürde verletzt ist, wo sie bedroht wird. Ich glaube, man spürt an diesem Beispiel sehr, sehr deutlich, dass das so eine Art Regenzauber der Menschenwürde ist, den wir da die ganze Zeit betreiben, und dass wir im Grunde keinerlei Kriterien mehr haben, um zu unterscheiden, was ist sittlich, was ist unsittlich. Das sind im Grunde nur noch Sonntagsphrasen, mit denen offensichtlich real niemand mehr etwas anfangen kann.

    Schmitz: Dennoch sagten Sie ja auch, dass dieses öffentliche Organ-Lotto im Show-Format moralisch jedem einsichtig verwerflich zu bewerten ist - es ist unbestreitbar, das wird sicher auch so diskutiert werden -, aber dennoch anscheinend die Schwierigkeit in einer freiheitlichen oder freien Gesellschaft damit umzugehen. Wie kann man denn damit umgehen?

    Bolz: Ich glaube, dass ist in der Tat das Problem. Das, was, glaube ich, allen Menschen in ihrem moralischen Urteil verwerflich erscheint, ist damit noch keineswegs uninteressant, ganz im Gegenteil, es wird sogar wahnsinnig interessant. Und ich denke, dass es unendlich viele klammheimliche Zuschauer geben wird, die das faszinierend finden und unwiderstehlich finden als Angebot. Wir müssen hier mit einem äußersten Maß an Heuchelei rechnen, auch was natürlich die Zurückweisung dieser Veranstaltung betrifft. Und vor allen Dingen erwarte ich mir ein gerüttelt Maß an Heuchelei in der Rechtfertigung dieser Sendung, denn ich bin fast ganz sicher, dass die Veranstalter, die Produzenten dieser Sendung, sich so herausreden werden, dass sie sagen werden, wir versuchen nur ein Bewusstsein für das Problem zu schaffen.

    Schmitz: Das tun die Veranstalter ja bereits, wie in verschiedenen Zeitungen heute zu lesen ist, denn man sagt, dass man ja Menschen retten möchte, und wer an diesem Spiel, an dieser Show mitmacht, hat zumindest eine 33-prozentige Chance, ein Spenderorgan zu bekommen. In der Wirklichkeit, wenn es über Krankenhäuser läuft, sei diese Chance gar nicht mal so hoch. Aber um auf den Punkt, den Sie angesprochen haben, noch mal zurückzukommen, der Sittlichkeit: Wenn hier so radikal eine Grenze des moralisch Einsichtigen überschritten wird, was bedeutet das denn? Muss man sittliche Standards da ganz deutlich formulieren, muss eine Gesellschaft den Mut haben, dies wieder zu tun?

    Bolz: Ich denke, man kann da durchaus einen politischen Druck ausüben, allerdings bin ich recht pessimistisch, was den Effekt und den Erfolg derartiger Maßnahmen betrifft, denn das große Problem ist eben dies, dass wir keine allgemein verbindlichen Kriterien für diese Bewertungen haben, sondern dass diese Begriffe wie große Fetische benutzt werden und dahinter keine gemeinsame Überzeugung, vor allen Dingen keine religiöse Überzeugung mehr steht. Seit es die nicht mehr gibt, verlieren die Begriffe der Sittlichkeit und der Ethik einfach den Boden unter den Füßen. Und vor dieser Situation stehen wir eben heute. Ich glaube, das muss man realistisch sehen, dass in einer atheistischen Gesellschaft natürlich auch dieser Demontage der Menschenwürde Tür und Tor geöffnet ist.